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Kapitel IX.
Londoner Leben und Humor

London im Anfang der achtziger Jahre, London nach Jahren einsamen Studiums und grimmigen, unnachgiebigen Strebens, London, wenn man achtundzwanzig ist und sich schon eine Stellung im Leben errungen hat; London, wenn der Kaminsims zehnmal soviel Einladungen trägt, wie man annehmen kann, und es zwei oder drei hübsche Mädchen gibt, die einem gefallen; London, wenn jeder, der einem begegnet, höflich und entgegenkommend ist und bedeutende Menschen von einem zu sprechen beginnen; London mit dem Vorgeschmack des Erfolges in deinem Munde, während deine Augen sich den Miriaden von Wundern öffnen; London mit seinen Empfängen und dem Hofleben, seinen Theatern und Varietés, seinen Vergnügungen für Leib, Geist und Seele, mit bezaubernden Stunden bei einer Farce, an die sich ein Boxmatch im Sporting-Club oder ein Abend im Parlament anschließt, wo weltberühmte Männer wichtige politische Ereignisse diskutieren; London – ein ruhiger Morgen mit einem Dichter verbracht, der in der englischen Literatur neben Keats und Shakespeare leben wird, oder ein Nachmittag mit Bildern eines Meisters, der schon vom Ruhme geheiligt ist; London, wer könnte auch nur eine Vorstellung seiner vielfältigen Freuden übermitteln! London, das Zentrum der Zivilisation, die Königin-Stadt der Welt, unvergleichlich in der Fülle der Möglichkeiten, ebenso Paris überlegen, wie Paris es Newyork ist.

Wenn du nie im Leben berauscht warst, hast du nie gelebt. Ich habe mich nach köstlichem Wein besser und glücklicher gefühlt, auf ein höheres und erfüllteres intellektuelles Leben gehoben. Ich sprach besser, als ich je vorher dazu imstande war, mit einer intensivierten Leidenschaft, die die Augen um mich her leuchten ließ und die Seelen zündete. Aber der Rausch eines erhöhten Lebens dauert nur einige Augenblicke an. London hat mich für Jahre trunken gemacht, und in meinem Gedächtnis lebt noch der Zauber dieser ersten Jahre, adelt mir das Leben, und die späteren Schmerzen und Leiden, Unrecht und Sorgen, Enttäuschungen und Fehlschläge sind versunken und vergessen. Ich frage mich, ob ich imstande bin, einen Begriff dessen zu übermitteln, was mir London nach dem ersten langen Zug seines berauschenden Weines auf meinen heißen Lippen und seinem Duft, den ich mit gierigen Nasenflügeln einsog, war. Es ist unmöglich, diese bunte Fülle zu beschreiben, aber ich will es versuchen und mache nur meine Leser darauf aufmerksam, daß es mein Ehrgeiz war, das Leben an möglichst vielen Ecken und Enden zu erfassen.

Im Anfang der achtziger Jahre – es war, wie ich mich noch erinnere, ein kalter, windiger Tag – ging ich nach Haverstock Hill, um dort Dr. Karl Marx in seinem bescheidenen Heim in Maitland Park Road zu besuchen. Wir hatten uns einige Zeit früher getroffen, nach einer der Versammlungen von Hyndman, und waren mehr oder weniger befreundet. Hyndman hatte mir bei irgendeiner Sache widersprochen, und als ich meinerseits Engel zitierte, sagte er mir, er kenne Engel und spräche deutsch ebenso gut wie englisch. Als ich sah, daß ein großer Teil des Auditoriums aus Deutschen bestand, begann ich selbst deutsch zu sprechen. Nach Schluß der Versammlung kam ein Deutscher auf mich zu, beglückwünschte mich und fragte mich, ob ich Karl Marx kennenlernen wollte. Ich erwiderte, daß mir nichts größere Freude bereiten könnte, und er stellte mich dem berühmten Doktor vor. Er war damals keineswegs so berühmt, wie er es heute nach vierzig Jahren ist, obwohl er es wirklich verdient hätte.

Ich hatte »Das Kapital« vor Jahren gelesen. Der ganze theoretische Teil kam mir wie ein lose gesponnenes Hirngewebe vor. Aber das zweite Buch mit der Kritik des englischen Fabriksystems war eine der überzeugendsten und reifsten Anklagen, die ich je im Druck gesehen habe. Einer, der sie nicht kennt, dürfte überhaupt nicht in sozialen Fragen mitreden. Als ich es gelesen hatte, ließ ich mir andere Bücher von Marx holen: »Das Leben Lord Palmerstons« und die »Enthüllungen der diplomatischen Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts«. Der »Palmerston« ist von einem Menschen geschrieben, der kein Gefühl für Charakter hatte. Der Held, ein Ire, lebendig bis in die Fingerspitzen, ist unter einer Masse von Kenntnissen begraben, die einen hindert, den Wald vor lauter Bäumen zu sehen. Aber die »Enthüllungen« enthalten das beste Bild des Fortschrittes Rußlands von der Zeit an, als es das Tatarenjoch abwarf, bis zur zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts.

Marx selbst war breit, gedrungen und kräftig, mit einem massiven Kopf, von weißem Haar gerahmt, leuchtenden, blauen Augen, die manchmal versonnen nachdenklich und manchmal scharf, neugierig durchdringend waren ... Mein Deutsch erstaunte ihn. Als wir vom religiösen Glauben sprachen, sagte ich: »Der Lauf des menschlichen Gedankenganges ist für mich die einzige Offenbarung Gottes.« – »Wunderbar, echt deutsch«, rief Marx aus, was die höchste Form des Lobes bei einem Deutschen dieser Zeit war. Er kam mir mit einer kritischen Höflichkeit entgegen und war offensichtlich erstaunt, daß ein Engländer nicht nur das »Kapital«, sondern auch alle seine Artikel in den Revuen gelesen hatte. Ich sagte ihm, ich hielt sein Buch über das englische Fabriksystem für das wichtigste soziologische Werk seit Adam Smiths »The Wealth of Nations«. Auf der einen Seite der Advokat des Sozialismus, auf der andern Seite der Individualist, – und beider Kräfte müssen sich meiner Ansicht nach im Leben begegnen, damit ein Gleichgewicht hergestellt wird. Marx lächelte und versuchte nicht einmal, sich den neuen Gedanken durch den Kopf gehen zu lassen. Er machte auf mich denselben Eindruck wie Herbert Spencer zwanzig Jahre später. Aber Spencer wurde ausfallend und gereizt, wenn man ihm widersprach, während Karl Marx unaufmerksam höflich blieb. Aber beide schalteten alles aus, was sich gegen ihre Lieblingstheorie wandte, so einseitig sie auch war. Und ebenso, wie es interessant war, Herbert Spencer über jedes andere Gebiet als sein eigenes sprechen zu hören, so war es auch bei Karl Marx der Fall. Er erzählte mir als erster, wie die französische Bourgeoisie nach der Niederlage von 1870 dreißigtausend Kommunisten kaltblütig umgebracht habe. Aber er verurteilte dieses Blutvergießen ebenso leidenschaftlich, wie er den Einschlag von Brutalität in dem Anarchisten Bakunin verurteilte. Sein tiefes menschliches Mitleid und Mitgefühl waren das Beste an ihm. Das Herz war besser als der Kopf und – klüger. Auf ähnliche Weise sah Spencer, daß die Wildheit im Menschen durch die stehenden Heere in Europa entwickelt und fortgesetzt wird im Widerspruche zu dem Geiste der Vergebung, der auf Tausenden von Kanzeln gepredigt wird. Marx und Spencer gehörten gleich Carlyle und Ruskin der Rasse der Polypheme an – einäugige Giganten –, aber die letzten waren noch Künstler obendrein.

Das Londoner Leben bestand aus Kontrasten, und ich greife noch einen anderen Widerspruch heraus.

Um diese Zeit traf ich zum ersten Male den Bruder von Lord Randolph Churchill, den Herzog von Marlborough. Obwohl er vielleicht zehn Jahre älter war als ich, freundeten wir uns an durch die bloße Ähnlichkeit unserer Naturen. Er wollte ebenfalls mit dem Leben an möglichst vielen Ecken und Enden in Berührung kommen. Er liebte ein gutes Essen und einen edlen Burgunder – oder Moselwein. Aber in erster Linie liebte er Frauen und war mit Maupassant einig, daß das Werben um Frauen das einzige interessante Abenteuer im Leben eines Mannes sei. Eines Abends nach einem Essen im Café Royal diskutierte er mit mir stundenlang über die typischen Schönheiten verschiedener Rassen, die gelbe und schwarze nicht ausgeschlossen. Er war ebenso klug wie sein Bruder, hatte aber keine Spur von Randolphs Genie und seinen Führerqualitäten. Ich füge hier eine Geschichte ein, die später, zur Zeit, als ich die »Fortnightly Review« herausgab, passierte. Ich hatte Lady Colin Campbell in Paris getroffen und fand, daß sie ausgezeichnet Französisch und Italienisch sprach, weil sie ihre Kindheit in Florenz verbracht hatte. Kurz nachdem ich Herausgeber der »Fortnightly Review« geworden war, wohl im Jahre 1887, sagte mir Frau Jeune, ich müßte Lady Colin kennenlernen und einige ihrer Artikel veröffentlichen. Ich erwiderte, daß es mich freuen würde, eine so hübsche Frau wieder zu sehen. Eines Tages vereinbarte Frau Jeune eine Zusammenkunft, und als ich hinkam, schickte sie mich in einen der rückwärtigen Salons, wo Lady Colin auf mich wartete. Ich ging nach oben, öffnete die Tür und sah, wie Lady Colin vor dem Feuer saß und ihre Beine röstete. Als ich hereinkam, zog sie ihr Kleid herunter und entschuldigte sich mit der Tatsache, daß sie nasse Füße bekommen hätte. Aber dieses Zur-Schau-Stellen schien mir so absichtlich, das Mittel so grob, daß es mich verstimmte, und ich fand, daß ihre Artikel ebenso billig und auffällig waren wie ihre kleine, schmale Gestalt, die großen dunklen Augen und das Haar. Ich hatte einen oder zwei ihrer Artikel abgelehnt, als mich eines Abends der Herzog zum Essen einlud und mir ohne viel Umschweife sagte, daß er in Lady Colin verliebt sei und ihr versprochen habe, ich würde ihren nächsten Artikel veröffentlichen. Ich sagte ihm, ich könnte es nicht tun, aber er drang so auf mich ein, daß ich schließlich nachgab: »Wenn Sie mir einen vollkommen ehrlichen Artikel schreiben, in dem Sie die sinnliche Weltanschauung entwickeln, die Sie mir so oft gepredigt haben, werde ich Lady Colins Artikel blind annehmen. Aber ich verlange absolute Offenheit von Ihnen.«

Er unterbrach mich lachend: »Auf das Geschäft gehe ich ein und bin Ihnen sehr verbunden. Ich werde sofort den Artikel schreiben und lasse ihn Ihnen in dieser Woche zukommen.« »Das Leben und seine Freuden«, hieß der Artikel, und er war bis zur Indezenz offen. Ich mußte einige Stellen herausstreichen, bevor man ihn veröffentlichen konnte, und auch so war ich sicher, daß er großes Aufsehen erregen würde.

Ich hielt den Artikel für eine gegebene Gelegenheit zurück und versicherte dem Herzog, daß ich ihn früher oder später veröffentlichen würde. Ich wollte, ich hätte ihn noch. Aber ich erinnere mich an eine Stelle, die seine Verteidigung enthielt. »Es gibt Menschen,« schrieb er hochmütig, »die gegen meine offene Sinnlichkeit etwas einzuwenden haben. Ich wurde mit Staunen gefragt, ob ich wirklich etwas Bewundernswertes an den schönen Knien einer Frau finde. Ich zweifle nicht, daß es kleine Vögel gibt, die winzige, klare Wassertropfen am Seeufer aufpicken und sich wundern, was für eine Freude ein gesunder Frosch an dem Herumplantschen im fetten Schlamm finden kann. Diese prüden Menschen, die zahlreich und bei beiden Geschlechtern in England vorkommen, erinnern mich an den Witz eines geistreichen Franzosen. Das Gespräch drehte sich um den Unterschied zwischen einem Schimpansen und einem Gorilla. ›Welches Tier ist dem Menschen am ähnlichsten?‹ fragte die Gastgeberin, und der Franzose erwiderte sofort: ›Der Engländer, Madame, ohne Zweifel!‹«

Der Herzog kannte mehr witzige Geschichten als irgendein anderer und erzählte sie ausgezeichnet. Eine Menge von Witzen schrieb er Travers, dem berühmten Witzbold in Newyork zu, der in den siebziger Jahren ohne Nachfolger für sein Talent starb.

Travers war ein wirklicher, unverfälschter Witzbold. Ich kenne ein Dutzend seiner besten Geschichten und vielleicht eine oder zwei, die es verdienen, überliefert zu werden. Als Fiske und Gould sich vereinigten, um die Finanzen der Erieeisenbahn auszubeuten und das amerikanische Volk um viele Millionen Dollar zu berauben, gab Fiske ein Mittagessen auf seiner Jacht und lud selbstverständlich unter anderen Travers ein. Er führte ihn auf seiner Jacht herum und zeigte ihm schließlich in der Kabine sein eigenes von Bougereau gemaltes Bild, den er den berühmtesten, französischen Maler nannte, und ein Bild von Gould, von einem Amerikaner gemalt, das in der Nähe hing. »Wie gefallen sie Ihnen?« fragte er triumphierend? – »Si-si-sicher-lich f-f-f-fehlt etwas«, stotterte Travers mit einem erstaunten Blick, denn er übertrieb sein Stottern und brachte seine Witze mit einem Ausdruck von Verblüffung vor, wie es Lord Plunket in London tat.

»Fehlt was?« wiederholte Fiske. »Was meinen Sie damit?«

»Was ich damit meine?« stieß Travers hervor. »Daß der Er-Er- Erlöser zwischen den Sch-Sch-Schächern fehlt.«

Es gibt nur noch eine bessere Geschichte, die zu meiner Zeit aus Amerika herübergekommen war, und ich führe sie hier an, um sie loszuwerden: Ein junger Amerikaner ging in ein Hotel und bat den Direktor um Arbeit. Er war beinah am Verhungern und wollte fast jede Tätigkeit übernehmen.

Der Direktor überließ ihn dem Oberkellner, der, ein heller Mulatte, wegen seiner guten Manieren berühmt war. Er hörte sich die Klagen des Jungen an und sagte: »Ich nehme an, du wirst dir schon Mühe geben, aber hast du auch Takt?« – »Ich weiß nicht, was Takt ist,« erwiderte der Junge, »aber ich krieg's schon, wenn Sie mir sagen wie.« – »Das ist es eben,« erwiderte der andere mit Hochmutsgeste, »das ist es eben. Keiner kann dir wohl sagen, was Takt ist und wie man's kriegt. Aber ich will's dir klarmachen. Vor ein paar Tagen klingelt eine Dame. Es war eine richtige Schönheit aus Virginia, und da alle Kellner so beschäftigt waren, bemühte ich mich selbst herauf. Als ich die Tür öffnete, lag sie da vor mir in ihrem Bad – ja, in ihrem Bad! Selbstverständlich schloß ich sofort die Tür zu und sagte: ›Entschuldigen Sie, bitte, mein Herr, entschuldigen Sie vielmals!‹ Das ›Entschuldigen Sie‹, siehst du, war Höflichkeit, aber dies ›mein Herr‹ war Takt. Verstehst du nun – Takt?« ...


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