Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Kapitel XVIII.
Meine Freunde und Gäste

Im Dezember 1889 hörten wir, daß Browning in Venedig im Alter von siebenundsiebzig Jahren gestorben war. Ich hatte jahrelang die größte Liebe und Bewunderung für Browning empfunden. Ehe ich ihn bei Lady Shrewsbury zum Frühstück traf, war er nach Carlyle mein Held. Ich hatte eine gewisse Ähnlichkeit zwischen uns beiden gefunden. Sein Bestes leistete er als Denker und nicht als Sänger. Seine poetische Begabung war nichts Außergewöhnliches. Als Jüngling hatte er sich durch ein englisches Wörterbuch durchgearbeitet, und ich hatte dasselbe getan, ohne zu wissen, daß er mir schon vor vierzig Jahren mit dem Beispiel vorangegangen war. Ich hatte von Verschoyle ein Johnson-Wörterbuch in zwei gewaltigen, ledergebundenen Bänden bekommen und hatte mich im Laufe eines Jahres durchgearbeitet, indem ich auf jeder Seite mit roter Tinte die Worte niederschrieb, die mir unbekannt waren. Als ich mit dieser Arbeit fertig war, ging ich noch einmal durch die rotgeschriebenen Worte durch und unterstrich die, die ich vergessen hatte, mit Blaustift. Schließlich nahm ich mir auch diese noch einmal vor. Es gab noch ungefähr dreißig Worte, die mir nicht im Gedächtnis haften bleiben wollten. Aber um die kümmerte ich mich nicht. Die bloße Tatsache, daß ich dasselbe Bedürfnis wie Browning empfunden hatte, verstärkte noch meine Sympathie für ihn. Hatte er denn nicht auch an das britische Publikum geschrieben: »Ihr, die ihr mich nicht liebt, aber mich eines Tages lieben werdet –«; es war mein eigenes Gefühl von meiner Kindheit an, und damals erst, nachdem ich das dreißigste Jahr überschritten hatte, näherte ich mich der Hoffnung, daß ich mir eines Tages seine Zuneigung gewinnen würde.

Robert Browning enttäuschte mich bei unserer Begegnung. Ich gab mir alle Mühe, ihn zu erobern. Er besuchte mich ein oder zweimal, wollte jedoch nichts trinken, war in der Tat von einer erstaunlichen Enthaltsamkeit. Er sagte mir, daß er seine Gesundheit dem Umstand verdankte, daß er sich alles versage. Er war jedoch zu dick, um meinem Ideal einer vollkommenen Gesundheit zu entsprechen. Er war nicht so weise in physischen Dingen, wie er sich selbst darstellte. Seine Liebenswürdigkeit für mich dauerte so lange, bis ich mir »zu viel erlaubte« – so hätte er es wohl genannt. Ich suchte eines Tages zu erfahren, woher er die Leidenschaft von »James Lee's Frau« herhatte. Das starke Verlangen darin erregte meine Neugier. Ich wollte wissen, ob er die ganze Tonleiter der Leidenschaft von einer Frau, seiner eigenen, erfahren hatte. Er zog sich sofort wie eine verletzte Schnecke zurück und tat empört. Ich sagte ihm, daß Shakespeare unendlich offener sei. Er zitierte mir die letzten drei Zeilen seines Gedichtes, die mit Wordsworths Worten, die er gesperrt setzte, beginnen:

»... mit dem ähnlichen Schlüssel
Shakespeare sein Herz uns erschloß – wahrhaftig?
Hat es Shakespeare getan? So weniger Shakespeare er war.«

Es schien mir ein erschreckendes Beispiel der Anmaßung eines kleineren Mannes, der sich herausnimmt, über einen größeren zu urteilen. Ich wollte ihm beweisen, daß Shakespeare sehr viel – sogar über seine eigenen erotischen Erfahrungen erzählt hatte, ich zitierte ihm das Sonett über Wollust:

Genossen, wo gleich drauf Verachtung trifft –
Sinnlos erjagt und gleich nach dem Empfang
Sinnlos gehaßt wie ein geschlucktes Gift,
Eigens gelegt, daß toll wird, wer es schlang ...

»Der Mann, der mit fünfunddreißig Jahren das schreiben konnte, muß sehr schwach gewesen sein«, sagte ich. »Es ist ein Geständnis der Schwäche. Der gewöhnliche, gesunde Mensch haßt nicht die Lust nach dem Genuß.« Aber Browning wollte diese Frage nicht einmal in Betracht ziehen. »Es gibt Dinge, die nicht gesagt werden dürfen,« meinte er, »Dinge, die das Publikum kein Recht hat zu wissen,« während ich sicher war, daß alle Menschen selbst von den Schwächen der großen Männer lernen konnten. Blake wußte es:

»Fehler der Weisen eher Regel dir sei
Als die Vollkommenheit der Narretei.«

Ich konnte jedoch Browning nicht dazu bekommen, auch nur in Gedanken daran zu rühren. Er zog es vor, meinen Wissensdurst als eine Impertinenz aufzufassen, und wir trennten uns in einer gewissen Kühle, obwohl ich mich zu entschuldigen versuchte. Wir trafen uns später noch hie und da, aber er kam nie wieder in mein Haus, und ich hatte auch nie wieder Gelegenheit, mit ihm zu sprechen.

Und nun war er tot! ... Der Verlust solcher Menschen macht unser Leben ärmer.

Als ich hörte, daß Browning in der Westminster-Abtei begraben werden sollte, war ich von Herzen froh; denn er hatte sich wirklich die letzte Ruhe in dem großen Tempel des Schweigens und der Versöhnung verdient. Ich sprach mit Froude am letzten Tage des sterbenden Jahres darüber, und er bat mich, mit ihm zu gehen. Ich versprach es mit großer Freude.

Es war ein grauer, nebliger Morgen. Die große Glocke begann zu schlagen. Die tiefen Tonwellen ertränkten alles in einem feierlichen Schweigen. Als ich mich umblickte, war ich verblüfft über die Anzahl der bekannten Gesichter, die ich selbst bei meiner Kurzsichtigkeit erkennen konnte: Meredith, Wolseley, seltsamerweise Whistler, Irving, Frederic Harrison, Bret Harte und du Maurier. Der ganze Raum war überfüllt, und die Gesichter schimmerten seltsam durch den grauen Dunst, der vom Gold spärlicher Kerzen und Lampen durchschossen war. Plötzlich ertönte die Orgel, und der Sarkophag mit Chor und Geistlichen voran und Brownings Sohn als nächstem Trauernden wurde an die Stufen der Kanzel herangetragen. Am nächsten Tage brachten die Zeitungen eine lange Liste derer, die dem Sarge gefolgt waren. Ich konnte jedoch nur den schönen Kopf von Sir Frederic Leighton erkennen.

Die Chorknaben sangen einen Hymnus, der Klang junger Stimmen drängte Tränen in meine Augen. Und ich war nicht der einzige, auf den es so wirkte. Huxley drückte sein Taschentuch an die Augen, als die Musik zu Ende war.

Der Sarg wurde an seinem Platz neben Chaucers Grab versenkt. Der Dechant sprach den Segen, und die Orgel donnerte den Totenmarsch aus dem »Saul«.

Wir wandten uns langsam dem Ausgange zu. Und während ich mich noch am Grabe aufhielt, schienen die ernsten, großen Geister den Raum zu bevölkern: Chaucer und Shakespeare, Spencer und Ben Jonson waren da, und der große Doktor mit dem dicken Leib und der ehrfürchtigen Seele. Der Geist Robert Brownings kam ihnen entgegen, und seine Worte schienen die bewegte Luft zu erfüllen.

»Lyrische Liebe, halb Engel, halb geflügelt Tier,
Ein einziges Wunder und wilde Begier ...«

Andere Zeilen kamen mir in den Sinn, unvergeßliche Zeilen. Die Frauenbeichte in »Der Ring und das Buch«:

»Ihm zu rufen, mir zu gehorchen, war's bestimmt ...«

und wie Browning Gott dankt, daß die Seele jedes Menschen zwei Seiten hat:

»... ein Antlitz, daß die Welt es schau',
Und eins zu zeigen der geliebten Frau.«

Aber kommt denn das Licht nach dem Dunkel? Und wird die Frauenseele warten? – Wer weiß – wer vermag es zu sagen?

Wir kamen aus dem Gedränge der großen Kirche in den grauen, trostlosen Nebel hinaus. Selbst Froude war ergriffen. Ich hörte ihn flüstern: »Bald, bald – er gibt Schlaf seinen Geliebten!« Und dann fügte er laut hinzu: »Es war eine große Feier – und ein großer Mensch!« Ich beugte den Kopf.

Im Sommer des Jahres 1888 verblüffte Rhodes die englische Gesellschaft, indem er Parnell zehntausend Pfund unter der Bedingung gab, daß er für die Beibehaltung der irischen Deputierten im britischen Unterhause sorgen würde, denn er war der Ansicht, daß »das irische Homerule zum Homerule des Imperialismus führen würde«. Plötzlich dämmerte es den englischen Politikern auf, daß sie sich zu großzügigeren Ansichten durchringen müssen, sonst würden die fähigsten Menschen aus ihren eigenen Kolonien gegen sie aufstehen. Ich hatte bereits bei der Gründung der Imperial Federation League geholfen, und so war ich mit Rhodes von Anfang an ein Herz und eine Seele. Ich hielt ihn für einen sehr bemerkenswerten Engländer, jeder Pose und jeder Einbildung bar, der den britischen Snobismus mit gewisser Verachtung zur Begünstigung seiner eigenen Pläne benutzte. Er sprach von Parnell als dem »vernünftigsten und fähigsten Menschen, den er je getroffen habe«. Man vergißt leicht, was Rhodes wirklich geleistet hat. Im Jahre 1887 war Lord Salisbury bereit, Portugals wahnwitzige Forderung einer dauernden Herrschaft von Angola an der Westküste angefangen bis Mosambik im Osten anzunehmen, die Englands Herrschaft in Afrika endgültig beschränkt hätte. Glücklicherweise hatte Rhodes Sir Hercules Robinson zu seiner oder besser gesagt zu der Idee von Bartle Frère bekehrt, daß England das ganze zentrale Hochplateau Afrikas vom Kap bis Kairo annektieren sollte. W.H. Smith war gegen die Erteilung einer Genehmigung für die Rhodessche Ausbeutungskompagnie, bis Sir Hercules Robinson von der »dilettantischen Einmischung unverantwortlicher und schlecht unterrichteter Menschen in England« sprach. Im April 1889 kamen Lord Gifford, Rhodes, Rudd und Beit um die Genehmigung ein, und Lord Knutsford empfahl Lord Salisbury den Vorschlag als ein Mittel, um die schweren Ausgaben für das britische Bechuanaland zu ersparen, und Rhodes wurde privat informiert, daß er alles bekommen könnte, was er wollte, falls es ihm nur gelingen würde, ein Komitee von einflußreichen Menschen zusammenzustellen. Rhodes verschaffte sich den Herzog von Abercorn als Vorsitzenden. Der Herzog gewann den Schwiegersohn des Prinzen von Wales, den Herzog von Fife, für den Eintritt in das Komitee, und in erster Linie brachte er auch Albert Grey, den Courtney den »Palladin seiner Nation« nannte und der einer der bedeutendsten Mitglieder des südafrikanischen Komitees war, dazu, beizutreten. Trotz der Warnung Chamberlains entschloß sich Albert Grey bei Rhodes mitzumachen. Auf diese Weise wurde die Chartered Company ins Leben gerufen.

Während dieser Verhandlungen sah ich Rhodes ein- oder zweimal in der Woche, lernte ihn sehr genau kennen und erfuhr die Einzelheiten seines Aufstieges zu Geld und Macht aus seinem eigenen Munde. Im Jahre 1882 zahlte seine De Beers Co. nur drei Prozent bei einem Kapital von zweihunderttausend Pfund. Im Jahre 1888 zahlte sie 25 Prozent bei einem Kapital von über zwei und eine viertel Millionen. Im Jahre 1882 zahlte sie also 6000 Pfund und sechs Jahre später 600 000. Dann erzählte er mir von seinem langen Kampf mit Barnato, als er Kimberley Central der De Beers einverleibte. Ich werde es nie vergessen, wie beiläufig er darüber sprach und wie anders alles klang, als ich es später von Beit und dann von Barnato und Woolfie Joel hörte. Eines Abends trafen sie sich zu einer letzten Verhandlung in Kimberley. Rhodes und Beit auf der einen, Woolfie Joel auf der andern Seite. Beit hatte mit Rhodes vereinbart, daß er den Preis herunterhandeln würde. »Ich bin nicht umsonst ein Jude, ich werde es billiger bekommen als Sie.« Rhodes ging darauf ein. Barnato und Woolfie näherten sich dem Bestimmungsort, als Barnato plötzlich fragte: »Was werden wir wohl bekommen?« »Eine halbe Million, hoffe ich«, meinte Woolfie. – »Ach,« rief Barnato aus, »ich werde heute nacht Millionär werden. Sie werden schon sehen! Rhodes hat keinen Sinn für den Wert des Geldes« – und er schmatzte mit den Lippen.

Als die vier zusammenkamen, vergaß Rhodes sofort, was er Beit versprochen hatte, und begann: »Ich hasse es, zu handeln. Ich gebe Ihnen, Barnato, mehr, als das ganze Kimberley wert ist – eine blanke Million in bar.« Beit schrie auf »Mein Gott, mein Gott, Sie ruinieren uns, Rhodes!«

Barnato stand sofort auf und griff nach seinem Hut. »Wir können ebensogut nach Hause gehn, Woolfie, wenn sie denken, daß man uns für eine Million kaufen kann. Ich war auf ein anständiges Geschäft vorbereitet.« Und er wandte sich zur Tür.

»Setzen Sie sich, setzen Sie sich doch«, schrie Rhodes. »Sehen Sie doch, Beit, sprechen Sie mit Ihnen –«

Die vier verbrachten die ganze Nacht zusammen, redend, handelnd, streitend, bis schließlich Rhodes und Beit Kimberley Central für über fünf Millionen kauften. Und doch war die Fusion ein gutes Geschäft für De Beers und gab Rhodes die Möglichkeit, aus den Goldfeldern des Randes noch mehr herauszuholen als von den Diamanten in Kimberley.

Als er die Genehmigung für seine Ausbeutungsgesellschaft bekommen hatte, ging er nach London mit einem Bündel farbiger Anmeldeformulare in seiner Brusttasche. Ich hatte ihn vor geraumer Weile mit Arthur Walter von den »Times« bekannt gemacht.

Seltsamerweise fand Arthur Walter zuerst kein Gefallen an Rhodes. »Er ist ein Bär«, meinte er; »in seiner Hast, seine Ideen durchzudrücken, vergißt er die gewöhnlichsten Höflichkeitsformen.«

»Das stimmt,« erwiderte ich, »aber Sie werden sich schon mit ihm anfreunden, Walter. Er hat keine Spur von Böswilligkeit in sich, nichts Kleinliches.« Und meine Voraussage erfüllte sich in kurzer Zeit.

Eines Abends blieb Rhodes noch, nachdem Walter gegangen war, und reichte mir dann ein farbiges Formular herüber. »Schreiben Sie Ihr Gesuch um Aktien der Chartered Company, und Sie werden bis zu tausend Aktien zugewiesen bekommen.«

Ich schüttelte den Kopf und gab ihm das Papier zurück. Erwählte sofort eine andere Farbe und schob mir das Formular zu. »Das ist das meiste, was ich gebe, Harris, das geht in die Tausende –« – »Ich will es nicht,« erwiderte ich, »ich spiele nicht auf der Börse!« – »Zum Teufel mit dem Spielen,« rief er aus, »da ist doch etwas ganz Sicheres. Diese Aktien werden einmal auf der Börse zu fünf Pfund notiert. Sie können vierzigtausend Pfund in der Woche verdienen. Ich werde Ihnen zwanzigtausend in bar dafür geben, wenn Sie's lieber mögen.«

»Nein, nein, Rhodes, Sie mißverstehen mich. Ich glaube schon, daß die Chartered Company-Aktien einen hohen Kurs erreichen werden.« (Innerhalb einer Woche wurden sie mit acht Pfund notiert.) »Aber was ich für Sie getan habe, habe ich aus Freundschaft getan und um der Sache willen, die uns beiden am Herzen liegt, und ich will keine Bezahlung dafür haben.«

Er hielt mir die Hand entgegen und sagte einfach: »Ich verstehe Sie, und doch wäre es mir lieber –« (Ich schüttelte den Kopf.) »Wissen Sie, daß es außer Ihnen nur noch einen Mann in England gibt, der das abgelehnt hat? Sehen Sie sich die Liste an!«, und er reichte sie mir herüber. Einer der ersten Namen, die mein Blick auffing, war der der Herzogin von Abercorn, der nächste, der mir beim Durchblättern auffiel, war der von Schnadhorst, des Bruders des liberalen Agitators, der immer ein Gegner von Rhodes war. Er war mit hundert Aktien notiert. »Er hat mich um sie gebeten«, bemerkte Rhodes. – »Wer ist das?« fragte ich und wies auf einen Namen, bei dem nur fünf Aktien notiert waren. – »Ach,« rief Rhodes aus, nachdem er eine Weile nachgedacht hatte, »das muß der Matrose sein, der mich in seiner Gig zum Flaggenschiff in der Simons-Bucht herausruderte.«

Wir lachten auf. Von Herzogin bis zum Matrosen hatten sowohl Freund wie Feind die Hände ausgestreckt, und Rhodes drang in mich ein: »Sie springen zu sorglos mit dem Gelde um, Harris. Sie werden sehen, Sie werden es später bedauern. Nehmen Sie 10 000 Pfund, legen Sie sie in Konsols an und vergessen Sie sie! Vor Ihrem Tode werden Sie noch zugeben, daß es der beste Rat war, den man Ihnen je gab.«

Winston Churchill gab mir ungefähr zwanzig Jahre später denselben Rat. Er erzählte mir, daß das Geld, das ich ihm für die Biographie seines Vaters verschaffte, ihn sorgenfrei und unabhängig gemacht hatte. Rhodes und Winston Churchill hatten recht. Ich hätte das Geld nehmen sollen, das man mir bot, es in Konsols anlegen und vergessen. Ich wäre glücklicher gewesen, wenn ich ihrem Rat gefolgt wäre.

Die nächsten Jahre hindurch verbrachte ich die schlimmsten Wintermonate in Monte Carlo, spielte zuerst, ohne jedoch den Kopf zu verlieren oder mich ernsthaft zu schädigen.

Eines Abends in Monte Carlo merkte ich, daß der Prinz von Wales gerade hinter mir stand. In demselben Augenblick berührte Sir Algernon Borthwick, den ich ganz gut kannte, meine Schulter, beugte sich zu mir hinüber und sagte leise, der Prinz wünsche, mich kennenzulernen. Ich stand sofort auf, drehte mich um, der Prinz schüttelte meine Hand und sagte mit einem starken deutschen Akzent: »Ich habe von meinem Onkel, dem Herzog von Cambridge, sehr viel von Ihnen gehört. Er nennt Sie den besten Geschichtenerzähler, den er je getroffen hat. Ich hoffe, ich werde Sie auch einmal erzählen hören. Aber nun sehe ich, daß Sie mit sehr viel Glück spielen. Können Sie dies für mich setzen?« Und er reichte mir ein Bündel Banknoten hin.

Sein Akzent war der eines deutschen Juden, und er stolperte immer wieder über das »th«. Es war gerade eine Serie Rot, und so setzte ich das Bündel des Prinzen neben meines und gewann ein paarmal hintereinander. Dann setzte ich auf Schwarz und gewann wieder. Und der Prinz war begeistert wie ein Kind. Als er die Banknoten in die Tasche stopfte, kam mir seine Äußerung über meine Geschichten in den Sinn. Ich dachte mir plötzlich, daß es sicher noch keiner versucht hatte, ihm eine unanständige Geschichte zu erzählen. Und so flüsterte ich ihm zu seiner größten Freude einen sehr gewagten Vierzeiler ins Ohr. »Erzählen Sie mir noch etwas anderes«, rief er. Und so erzählte ich ihm eine Geschichte, die mir immer sehr viel Spaß gemacht hatte. Ein alter Schauspieler fand sich eines Abends an den Ufern der Themse. Arbeitslos und verkommen saß er grübelnd da, als einer der weiblichen Nachtvögel sich auf die Bank neben ihm niederließ. Er machte ihr mit höflicher Verbeugung Platz, und so begann sie zu sprechen und fragte ihn schließlich, wer er sei.

»Ein Schauspieler, Madame, nichts weiter als ein alter Schauspieler. Und Sie?« fügte er höflich hinzu. – »Ach!« war die bittere Antwort, »ich bin bloß eine Prostituierte!«

Der verkommene Schauspieler drehte sich ernsthaft zu ihr um: »Es sind zwei große Berufe, Madame, die wir ausüben, jedoch von dem Fluche der Konkurrenz der Dilettanten heimgesucht.«

Der Prinz zog für einen Augenblick die Brauen zusammen, dann begriff er erst den ganzen Humor dieser Geschichte und lachte herzlich auf.

Er war so entzückt, daß ich ihm die Geschichte des englischen Dienstmädchens erzählte, das am Ende einer Woche zu der Hausfrau ging und sagte: »Gnädige Frau, ich muß gehen!« – »Aber Marie,« erwiderte die Dame, »Sie sind erst eine Woche hier, und Sie haben es doch sehr gut gehabt – was ist denn los?« – »Ja, gnä' Frau, das sind die furchtbaren Aufschriften in meinem Schlafzimmer. Das kann ich nicht vertragen –« – »Furchtbare Aufschriften? Was denn für Aufschriften?« fragte die alte Puritanerin verblüfft. – »Ja, da gibt es gerade eine über meinem Bett: »Sei bereit, denn du weißt nicht den Tag noch die Stunde, wann der Herr zu dir kommt!« – »Na und?« sagte die alte Dame, »was haben Sie dagegen einzuwenden?« – »Ja, gnä' Frau,« meinte Marie und preßte die Lippen aufeinander, »ich war eine Woche bereit, und er ist doch nicht gekommen. Ich kann nicht schlafen.«

Der Prinz lachte so herzlich, daß ich ihm die ältesten Schuljungengeschichten erzählte, von denen ich geglaubt hatte, daß sie allgemein bekannt sind. Er hatte sie offensichtlich noch nie gehört, denn er spazierte auf und ab im Spielsaal, mehr als eine halbe Stunde lang, mit dem Arm um meine Schulter, und schüttelte sich vor Lachen.

Ich bemerkte, daß sowohl Lord Hartington wie Randolph Churchill auf die Gelegenheit warteten, mit dem Prinzen zu sprechen. Ich machte ihn darauf aufmerksam, auf einmal schoß mir ein Gedanke durch den Kopf, und ich sagte unvermittelt: »Jeanne Granier, die große französische Schauspielerin ist hier, Sire, und sie ist eine der witzigsten Frauen von Paris und eine ausgezeichnete Geschichtenerzählerin. Wenn Sie mir die Ehre erweisen würden, mit mir heute abend im Grand Hôtel zu soupieren, werde ich die Granier einladen, und wir werden versuchen, Sie zu amüsieren.«

»Ich würde es sehr gern tun,« erwiderte er sofort, »aber die verdammten Journalisten werden vielleicht darüber reden. Sehen Sie zu, daß Lord Randolph Churchill kommt, dann wird man es auf sein Konto setzen. Man redet mehr über ihn als über mich, nicht wahr?«

»Sehr gut, Sire, wollen wir zehn Uhr sagen?« – »Sicherlich, um zehn Uhr werde ich bei Ihnen sein.«

Auf meinem Wege zu Jeanne Granier traf ich Randolph, und er nahm die Einladung, wenn auch unwillig, an. »Wenn Sie nicht kommen wollen, kann ich Lord Hartington bitten. Aber das schlimmste ist, daß er kein Französisch spricht und Ihr Französisch sehr gut ist.« – »Das gibt den Ausschlag,« sagte er schmunzelnd, »ich nenne es Allerhöchsten Befehl und komme.« Ich traf die Granier und lud sie zum Essen ein. Sie war eine Französin des besten Typus, und ich glaube, wir hatten uns gegenseitig wirklich gern. Als ich ihr über den Prinzen erzählte und wie ich ihn durch gewagte Geschichten, die sich keiner ihm zu erzählen traute, gewonnen hatte, lachte sie in tiefster Anerkennung. »Wir werden alle durch die Seiten des Lebens gewonnen, von denen wir keine Ahnung haben. Ich werde ihm Geschichten erzählen, von denen er sich nicht träumen ließ. Überlassen Sie's schon mir.«

Wir hatten ein ausgezeichnetes Diner, und kurz vor zehn schlugen wir den Weg nach dem Grand Hôtel ein. An der Tür des Hôtels rannten wir dem Prinzen in die Arme. Es war eine wunderbare Nacht. Der Himmel war wie ein tiefer Saphir, durch den Glanz des Vollmonds gehoben. Kaum hatte ich Mademoiselle Granier dem Prinzen vorgestellt, der ihr sagte, wie sehr er sich freute, eine solche Herrscherin der Bühne persönlich kennenzulernen, als sie sich in Positur warf, auf den Mond hinwies und ausrief: »Qu'elle est belle et pâle, cette lune-là!«, und dann fügte sie mit tiefer Männerstimme hinzu: »pour belle, je n'en sais rien, pour pâle, elle doit bien l'être, elle a passé tant de nuits.« Der Prinz lachte entzückt über diese witzige Improvisation, und ich selbst war erstaunt, bis ich Jahre später herausgefunden hatte, daß dieser witzige Ausspruch von Henri Becque, dem Dramatiker, stammte, der fast unbemerkt und unbekannt trotz seines großen Talentes aus dem Leben schied.

Als wir auf meine Zimmer kamen, erschien auch bald Randolph, aber er trug nicht wesentlich zu der lustigen Stimmung des Abends bei. Die ganze Gesprächslast wurde von Jeanne Granier getragen, die sofort nach einem kleinen Abendessen mit der Erzählung von Geschichten aus den Anfängen ihrer Bühnenkarriere begann, die sie mit einer unvergleichlichen Wärme und sprudelndem Humor zum besten gab. Sie war schon mit zehn Jahren auf den Brettern gewesen und hatte kaum einen Abend erlebt, an dem sie nicht von irgendeinem alten Manne belästigt worden wäre. »Was hat man Ihnen denn getan?« fragte der Prinz. – »Hier küßte mich ein Regisseur, dort kniff mich ein Direktor, ein anderer erzählte mir, wie hübsch und verführerisch ich sei. Sie verfolgten mich alle ohne Ausnahme, aber ich mochte es ganz gern, muß ich gestehen, und je frecher sie wurden, desto besser gefielen sie mir.«

Der Prinz war wie verjüngt, und später begann auch Randolph sich für die Geschichten der Granier zu interessieren, die wirklich ausgezeichnet waren und ein vollkommenes, intimes Bild, sozusagen eine Chronik, der französischen Bühne darstellten. Als der Name von Sarah Bernhardt genannt wurde, rezitierte sie einen witzigen Vierzeiler als eine Grabschrift der großen Komödiantin:

Artiste adorée aux deux pôles
Ci-gît Sarah, qui remplissait
Mieux ses rôles
Que son corset.«

Wir sprachen nun von Sarah eine Weile und gingen dann auf Coquelin über, den ich für den besten Schauspieler hielt, den ich je auf der Bühne gesehen hatte. Zu meiner Verblüffung stimmte Randolph mir zu. Er hatte ihn im Bourgeois Gentilhomme gesehen und hielt ihn ebenso wie ich für unvergleichlich.

Die Granier kannte auch ein witziges Epitaphium auf Coquelin, das sie mit einem großen Brio und einem Schatten von Bosheit vortrug:

Ci-gît sous le marbre et le lierre
Le petit-fils, le digne héritier de Molière:
Seulement trop modest, au lieu de Poquelin
II s'est appelé Coquelin.

Ich weiß gar nicht, warum wir so herzlich lachten oder warum die Stunden so flogen, aber als wir uns trennten, war es fast drei Uhr geworden, und der Prinz dankte mir für einen der entzückendsten Abende, den er je verbracht hatte. Er lobte die Granier bis in den siebenten Himmel, und selbst Randolph sagte, daß es ein bemerkenswerter Abend gewesen sei. Bevor wir uns trennten, gestand er mir, daß seine unerklärliche Depression von den Spielverlusten herrührte. »Ich muß aufhören zu spielen,« meinte er, »ich habe Pech.« Er hatte wirklich Pech, wie ich im nächsten Kapitel erzählen werde.

Es war wohl um diese Zeit, als die große Brauerei von Guinnes die Firma in eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung umwandelte. Diese Transaktion wurde durch das Bankhaus von Baring durchgeführt, und man hat kaum je einen solchen Erfolg bei der Gründung einer Gesellschaft in der Londoner City erlebt. Den ganzen Tag lang belagerten Hunderte von Menschen die Bank, und als man die Türen schloß, banden einige erfinderische Geister ihre Schecks um Steine herum und warfen sie durch die Fenster, um ihre Anträge einzureichen. Die Aktien stiegen sehr schnell, und man beglückwünschte Lord Revelstoke als den Vorsitzenden der großen Bank. Ich sah ihn eines Nachmittags, und er gestand mir, daß Baring bei der einen Transaktion an einem Tage eine Million Pfund Sterling verdient hatte. –

Ein oder zwei Tage später traf ich Lord Rothschild bei einem Essen bei Sir Charles Dilke, und es interessierte mich, herauszufinden, ob die Fähigkeit dieses Mannes in irgendeiner Weise seiner Position entsprach. Ich erzählte die Geschichte der Guinnes-Transaktion, wie sie mir Lord Revelstoke geschildert hatte, und Lord Rothschild hörte mir anscheinend interessiert zu. Als ich geendet hatte, sagte er: »Die Guinnes-Sache wurde uns zuerst angeboten, aber wir haben es abgelehnt.« – »Sie müssen es jetzt bedauern,« meinte ich, »da es doch ein solcher Erfolg geworden ist. Selbst für einen Rothschild muß es sich lohnen, eine Million in die Tasche zu stecken.«

»Ich sehe es nicht in diesem Lichte«, erwiderte Lord Rothschild. »Ich gehe an jedem Morgen in mein Bankhaus, und wenn ich bei einem Plan oder bei einer Unternehmung, die man mir unterbreitet, ›nein‹ sage, kehre ich am Abend zufrieden und sorglos nach Hause zurück. Aber wenn ich auf irgendeinen Vorschlag eingehe, bin ich sofort von allen Ängsten erfüllt. Wenn man ja sagt, ist es, als ob man den Finger in eine Maschine hineinsteckte. Die rasenden Räder können den ganzen Körper nachziehen.«

»Großer Gott! Ich habe es nie von diesem Standpunkte angesehen.« Der große Finanzmann schien mir eher übervorsichtig als klug, aber er hatte kluge Leute um sich, in erster Linie Carl Meyer, von dem ich in einem späteren Bande erzählen werde.

Als ich mit Dilke eines Tages über Lord Rothschild sprach, fand ich, daß er mit meiner Einschätzung übereinstimmte. »Wenn man auf die Spitze der Lebenspyramide gelangt, wird die Vorsicht zur Tugend, und Sie haben keine Ahnung, wie breit ihre Basis gelegt wurde. Der Baron nahm mich eines Tages in das große Bankhaus und zeigte mir in der Stahlkammer eine Million Sterling in Gold, die dort von seinem Großvater deponiert wurden. Er hatte seinem Sohne ausdrücklich eingeschärft, sie höchstens im Falle größter Not anzurühren. – ›Würde nicht ein Scheck auf die Bank von England genügen?‹, fragte damals Rothschilds Vater. ›Es wäre ebensogut und würde dreißigtausend Pfund Zinsen jährlich tragen.‹ – ›Nein,‹ erwiderte der Großvater, ›es gibt Augenblicke, in denen man Gold braucht, wenn auch nur wegen des Gefühls der Sicherheit, das es einem vermittelt.‹«


 << zurück weiter >>