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Kapitel XIX.
Lord Randolph Churchill

Es wurde viel über Lord Randolph Churchill von Menschen, wie zum Beispiel Sir Henry Lucy, geschrieben, der jeden traf und keinen kannte. Und es war nicht leicht, Randolph Churchill zu kennen. Die bloßen äußeren Tatsachen über ihn und seine Laufbahn sind von seinem Sohn in zwei dicken Bänden niedergelegt worden. Es ist eine ausgezeichnete offizielle viktorianische Biographie von einer bemerkenswerten Objektivität, mit der jeder Vorfall in seiner politischen Laufbahn erklärt worden ist, das Buch eines Politikers, der über einen Politiker schreibt. Aber über den Mann selbst, seine Fähigkeiten, sein eigenes Wesen, seine Unzulänglichkeiten, wird kein einziges Wort der Seelenenthüllung gesagt. Und doch hätte Winston vermocht, eine wirkliche Lebensgeschichte zu schreiben, ja er hätte es ohne Zweifel getan, wenn nicht Randolph sein Vater gewesen wäre und er nicht auf seine eigene politische Karriere bedacht sein müßte. Es muß jedoch gesagt werden, daß die Sympathie zwischen Vater und Sohn sehr gering war. Winston sagte mir einmal, daß, sooft er ernsthaft über Politik oder irgendein anderes Thema zu sprechen begann, sein Vater ihn immer mitleidslos verhöhnte. »Er wollte nicht zuhören oder an das, was ich sagte, auch nur einen Gedanken verschwenden. Es war keine Verständigung zwischen ihm und mir möglich, obwohl ich es so häufig versucht habe. Er war zu egozentrisch. Kein anderer Mensch war für ihn vorhanden. Meine Mutter war für mich alles.«

Lord Randolph war eine so bemerkenswerte Persönlichkeit, und die Londoner Gesellschaft ist ein solches Klatschnest und hat nebenbei einen so ausgezeichneten Resonanzboden, daß es möglich war, ihn fast, wie er leibt und lebt, durch eine Anzahl wahrer Anekdoten zu malen. Winston hat sein Buch durch einige dieser Erzählungen belebt.

Durch Jahre hindurch, fast von seinem Eintritt in das Unterhaus an bis zum Jahre 1886, war es hauptsächlich Randolphs Mut, der ihm die Stellung im Unterhause schuf. Vielleicht war es bloßer aristokratischer Dünkel, aber die Engländer liebten ihn nichtsdestoweniger.

Der extreme Flügel einer Reformpartei pflegt oft die konventionellen Führer zu kritisieren, aber diese Haltung ist bei den Konservativen höchst ungewöhnlich. Von Anfang an zeigte Lord Randolph diese Kühnheit mit einer Verachtung für die Autorität eines Titels gepaart, die selbst bei einem Radikalen auffällig wäre.

Eines Tages sprach Randolph über die irische Erziehung in dem liberalsten und freundlichsten Sinne. Dank den Jahren, die er in Dublin verbracht hatte, als sein Vater Vizekönig war, kannte er Irland und das irische Leben besser als irgendein anderer irischer Politiker, und seine Informiertheit sicherte ihm einen ebenso guten Ruf wie seine Kühnheit. Das Haus füllte sich eher, um ihn zu hören, als wenn irgendein Minister sprach, und zwar trotz der Tatsache, daß er ein schlechter Redner war, einmal zu laut, einmal zu leise sprach, immer von seinen Aufzeichnungen abhängig war und sich oft in seinen eigenen Notizen nicht auskannte. Er war jedoch die größte Anziehungskraft der Kammer. Und nach der Eröffnung des Parlamentes im Jahre 1880 gab ihm der Bradlaughvorfall seine erste wirkliche Gelegenheit. Er wechselte seinen Sitz mit einem Ecksitz am Gang und wurde sofort zum Führer einer neuen Gruppe, die aus Drummond, Wolff, Gorst und Arthur Balfour bestand, die er selbst, wie Winston berichtet, die »vierte Partei« taufte. Die nächsten sieben Jahre hindurch war Randolph Churchill zweifellos die sensationellste Gestalt des ganzen Unterhauses, und lange vor der Niederlage der Gladstone-Regierung wurde er als der fähigste Konservative der Kammer anerkannt. Das Unterhaus besitzt ein sehr starkes Schuljungenelement in sich, und Gladstones Niederlage prägte sich durch die Tatsache ein, daß in demselben Augenblick, in dem die Abstimmungszahl dem Einpeitscher der Opposition bekannt gegeben wurde, Randolph von seinem Ecksitz aufsprang und ein Zeichen zu einem Freudengeschrei bei den Seinigen gab.

Er wurde selbstverständlich Führer des Hauses und Schatzkanzler in dem konservativen Ministerium des Lord Salisbury. Und hier zeigte sich ein anderer Zug an ihm, und zwar seine Dankbarkeit. Randolph sorgte dafür, daß seine Anhänger belohnt wurden. Wolff wurde zum Geheimen Staatsrat und Gorst zum Staatssekretär ernannt: Ehre dem Juden und Bezahlung dem Bedürftigen.

Ich erinnere mich, wie ich einmal Lord Randolph, den ich bereits kannte und liebte, am Sonntag bei Frau Jeune traf und mit ihm an demselben Tische aß. Noch bevor das Frühstück beendet war, stand Lord Randolph auf, entschuldigte sich durch »dringende Geschäfte« und verließ das Zimmer, vom konservativen Einpeitscher gefolgt. Zu unserer Verblüffung kam jedoch der Einpeitscher Winn, wenn ich mich nicht irre, schon nach wenigen Minuten blaß wie ein Gespenst und in unaussprechlicher Aufregung zurück. Als Frau Jeune fragte: »Ist etwas geschehen?«, erwiderte er: »Ich bin auf eine ganz unverdiente Weise brüskiert worden. Gestern kam Randolph zu mir und wollte mich sprechen. Ich mußte ihm leider sagen, daß ich zu beschäftigt wäre. Er bat mich, ihn heute hier zu treffen, sagte, er würde früher weggehen, und ersuchte mich, ihm zu folgen, damit wir uns eine Stunde in Ruhe aussprechen könnten. Es ging zwar gegen meine Gewohnheit, aber ich willigte ein. Sie sahen, wie ich ihm gefolgt bin. In der Halle fragte ich ihn: ›Wo können wir hingehen, um ungestört zu sprechen?‹ Er rief mir zu: ›Wird man Sie und Ihr Gerede denn nie los?‹ und stürzte aus dem Hause. – Ich bin noch nie in meinem Leben so beleidigt worden.« Der arme Mann konnte sich von dem schweren Schlag gegen seine Würde nicht erholen. Wir bedauerten ihn alle, während wir uns im geheimen über Lord Randolphs Ausbruch amüsierten.

Aber keiner, der sich im englischen politischen Leben durchsetzen will, nicht einmal der Sohn eines Herzogs, kann es sich leisten, die Menschen dauernd zu brüskieren, insbesondere nicht den Einpeitscher seiner eigenen Partei. Als ich Lord Randolph ein oder zwei Tage später auf diese Tatsache aufmerksam machte, grinste er bloß: »Ich hatte es vergessen, daß ich ihn bat, mit mir wegzugehen. Aber er ist ja ein Narr.« Und doch müßten Menschen, denen daran liegt, Macht zu gewinnen und zu behalten, lernen, die Narren um sich zu dulden, wie es schon der heilige Paulus wußte.

Ich möchte hier noch eine andere Geschichte einfügen. Er hatte mit mir eines Abends diniert, wenn ich mich recht erinnere, in dem kurzlebigen Amphitryonklub, und später nahm er mich in eine Versammlung in Paddington mit, wohin er zum Sprechen abkommandiert war. Das Essen war ausgezeichnet gewesen, der Périer Jouet von 1875 der beste Sekt, den ich je getrunken habe. Wir tranken eine Doppelflasche aus, und zum ersten und letzten Male in unserer Bekanntschaft zeigte sich Randolph etwas erregt oder – besser gesagt – ungehemmt. Jedenfalls habe ich ihn nie so gut sprechen hören. Er sprach sonst nur ohne Notizen in seinem eigenen Wahlkreise, vor lauter Freunden und Bewunderern. Gewöhnlich schrieb er sich seine Reden auf, lernte sie auswendig, und auch dann war er bei der Reihenfolge der Themen und bei besonderen Wendungen von seinen Aufzeichnungen abhängig. An diesem Abend improvisierte er, und zu meiner Verwunderung wandte er, ohne es zu wissen, einen Gedanken aus Faust II auf die augenblickliche Lage der englischen Politik an. Er begann mit der Prophezeiung, daß Neuwahlen nahe seien. »Welche Partei wird sie gewinnen? das ist die erste aller Fragen. Die Liberalen und Herr Gladstone sind sehr zuversichtlich. Sie wissen, daß die Arbeiterklassen das Gleichgewicht der Macht halten werden. Und die liberale Bourgeoisie stellt sich vor, daß sie den Arbeitern näher ist, als es bei den aristokratischen Konservativen der Fall sein kann. Aber meinem Gefühl nach sympathisiert dieser Earl oder jener Marquis mit den Arbeitern mehr als der gierige Nonkonformisten-Schlächter, -Bäcker oder -Kerzengießer. Ich möchte, daß Sie meinen Standpunkt richtig verstehen, denn er erklärt, was ich immer gemeint habe, wenn ich mich einen Tory-Demokraten nannte. Die beste und die niedrigste Klasse in England treffen sich auf natürliche Weise, sie mögen und schätzen einander, sie sind keine schmierigen Heuchler, die von Moral sprechen und die Sonntagsschulen besuchen, während sie den Zucker mit Sand vermischen. Sie sind in England durch das Band einer ehrlichen Unmoral verbunden.«

Selbstverständlich gab ich das Zeichen zum Applaus, der jedoch seltsam schwach war und bald in einem verstohlenen Lachen und verschämten Grinsen erstarb. In der darauf folgenden Pause sah ich zum Reportertisch hinüber. Federn und Bleistifte ruhten. Man wartete allgemein auf die Fortsetzung der Rede. Randolph sprach noch eine Weile und gab sich, wie es mir schien, Mühe, den Eindruck seines großen und wahren Ausspruches zu verwischen.

Als wir wegfuhren, fragte er mich, ob er irgend etwas Furchtbares gesagt habe. Ich versuchte, ihn zu beruhigen. »Sie haben das Beste gesagt, was ich je von einem englischen Rednerpodium gehört habe oder je hören werde.« Und ich zitierte ihm seine eigenen Worte. Er bekam es mit der Angst. »Es ist dieser verdammte Sekt«, rief er aus. »Wir müssen sehen, daß dieser Satz nicht in die ›Times‹ hineinkommt, damit wir ihn dann leugnen oder abschwächen können – Sie werden mir helfen, nicht wahr?«

Ich sagte es ihm natürlich zu, beruhigte ihn jedoch, daß die Reporter den Satz sicherlich nicht notiert hätten. Er lachte, bestand jedoch darauf, sich vollkommene Gewißheit zu verschaffen, und so fuhren wir zuerst ins Bureau der »Times«. Durch einen glücklichen Zufall fanden wir gerade Arthur Walter dort, der auf unsere Bitte sich einen Abzug aus dem Setzerraum holen ließ, und ich stellte lachend fest, daß der große Satz sorgfältig ausgelassen worden war. Am nächsten Morgen las ich alle Zeitungen durch: keine einzige hatte den Satz gebracht. Heute noch sind für mich diese Worte das Höchstniveau der Intelligenz von Randolph Churchill.

Ungefähr um diese Zeit bereitete er mir eine große Enttäuschung. Das Projekt des Kanaltunnels wurde aufs Tapet gebracht, und ich setzte mich mit ganzer Seele für den Plan ein. Schon vorher war mir das außerordentlich schnelle Wachstum von Antwerpen und Hamburg als Häfen aufgefallen, und ich stellte fest, daß es sich auf die Notwendigkeit der Umschiffung der Frachten, die für britische Häfen bestimmt waren, zurückführen ließ, weil es keinen Tunnel unter dem Kanal gab, der eine Durchfahrt der Kontinentalzüge ermöglicht hätte. Ich beschäftigte mich mit dieser Frage und kam bald zu der Schlußfolgerung, daß der Londoner Hafen durch die Errichtung eines Tunnels zu einem der größten der Welt gemacht werden könnte. Ich glaubte, daß der gesunde Menschenverstand in England darauf drängen würde, das Unternehmen möglichst schnell in Wirklichkeit umzusetzen. Und es war außerdem bei diesem Spiel viel Geld zu gewinnen. Ich fing deshalb mit Wort und Schrift an, daran zu arbeiten, das englische Publikum von seinem offensichtlichen eigenen Interesse zu überzeugen. In einem kurzen Gespräch gelang es mir, Lord Randolph Churchill dafür zu gewinnen. Nachdem ich ihn als Pionier pries, versprach er mir nicht nur, dafür zu stimmen, sondern auch zugunsten des Projektes zu sprechen. Nun war ich des Sieges sicher. Als jedoch die Debatte anberaumt wurde, schoß Randolph Churchill ein anderer Gedanke durch den Sinn. Mit sehr viel Humor schilderte er einen englischen Beamten, den Staatssekretär des Innenministeriums, der bei der Nachricht, daß fünftausend französische Soldaten sich des Tunnels bemächtigt hatten und auf dem Wege nach Dover seien, sich überlegt, ob er den Tunnel in die Luft sprengen soll. »Ich für mein Teil«, schloß Lord Randolph, »ziehe die Sicherheit dem Zweifel vor.«

Das ganze Bild war idiotisch. Ich hatte Randolph bereits darauf hingewiesen, daß kein französisches Regiment sich einer solchen verzweifelten Gefahr aussetzen würde. Die beiden Enden des Tunnels konnten über den Meeresspiegel gehoben und die französischen Truppen mit großer Leichtigkeit von einem einfachen Kanonenboot in die Luft gesprengt werden. Kein General würde seine Truppen einem so sicheren Verhängnis entgegenschicken, und wenn er es täte, so war zehn gegen eins zu wetten, daß sie sich am nächsten Tage ergeben würden. Aber Randolph Churchill lag es nur an dem parlamentarischen Triumph, und die ganze Sache gab mir einen Begriff von seiner insularen Einstellung. Aber warum soll ich es ihm übelnehmen, wenn jetzt nach vierzig Jahren fünf Premierminister nach kühler Überlegung gegen den Plan des Tunnels gestimmt haben, jetzt, nachdem die Luftschiffe Bomben auf London herabgeworfen und den Glauben an die durch das Meer gegebene Sicherheit Englands erschüttert haben. In demselben Moment, in dem ich diese Zeilen schreibe, erfahre ich, daß Winston Churchill für den Bau des Kanals mit denselben Argumenten eintritt, mit denen ich vor einer Generation seinen Vater zu überzeugen suchte. In jenem Augenblick war ich tief enttäuscht, denn ich hatte dummerweise überall erklärt, daß Randolph Churchill den Plan verteidigen würde, während er es war, der ihn in Grund und Boden redete. Er hatte mich zum Narren gehalten, und er grinste bloß, als ich ihm sagte, wie ich mich durch das Vertrauen in seine Worte blamiert hatte. Von jenem Augenblick an war mein Glaube an ihn erschüttert.

Er wußte, wie ich schon bereits gesagt habe, mehr über England als irgendein anderer englischer Deputierter oder Minister. Als er bei dem Homerulegesetz die Parole prägte: »Ulster wird kämpfen, und Ulster hat recht!«, war ich starr vor Schrecken; denn ich verstand die ganze dämonische Klugheit des verderblichen Appells und war mir der üblen Konsequenzen bewußt. Ich machte ihm Vorwürfe. »Sie kämpfen für den gegenwärtigen Augenblick,« sagte ich, »aber morgen, mit oder ohne Gladstone, wird das irische Homerule ins Leben gerufen werden, und Sie werden blamiert sein.«

»Es genügt mir, wenn das Übel für heute abgewendet ist«, war seine zynische Antwort. Er war immer der kämpfende Politiker, der auf persönliche Siege ausging, unbekümmert um den üblen Samen, den er streute, ohne jedes ideelle Zukunftsbild. Langsam zwang sich mir die Ansicht auf, daß meine Hoffnungen auf ihn unbegründet waren.

Eines Tages wurden wir zusammen nach Wadhurst in Sussex von der liebenswürdigen Gastgeberin Madame de Sainturce eingeladen. Sir William Gordon Cumming war auch da, der damalige Busenfreund des Prinzen Edward, der sich deshalb beträchtlich aufspielte. Am zweiten Tage bat mich Randolph um eine vertrauliche Unterredung. Er wußte von meiner Bekanntschaft mit Parnell und Frau O'Shea, und er wollte wissen, ob es stimmte, daß Parnell sich verkleidete, um Kitty zu besuchen, und ob dies die Erklärung der verblüffenden Veränderungen seiner äußeren Erscheinung war. Parnell erschien manchmal im Unterhaus mit einem Vollbart, eine Woche später war er glattrasiert, manchmal trug er das Haar bis auf die Schulter, einige Tage später kurz geschnitten, und dann wieder war sein Kopf in der Mitte wie eine Tonsur ausrasiert.

Randolph wollte wissen, was das alles bedeutet. Ich sagte ihm, daß Parnell meiner Meinung nach einer der merkwürdigsten Menschen war. Er verkleidete sich immer, wenn er Frau O'Shea besuchte, aber ich konnte nicht herausfinden, ob er es aus Aberglauben tat oder um keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Als ich ihm schilderte, wie Parnell die Schritte zählte, nickte Randolph zu meiner Verblüffung und sagte: »Ich kann es verstehen!« Ich starrte ihn in blankem Staunen an.

Während wir sprachen, öffnete sich die Tür und Lady Randolph erschien. Ich stand natürlich auf, als sie »Randolph!« rief, aber er saß ganz still. Trotz seines unheilverkündenden Schweigens ging sie auf ihn zu. »Randolph, ich möchte dich sprechen!« – »Siehst du denn nicht, daß ich mich hergeflüchtet habe, um nicht gestört zu werden«, erwiderte er. – »Aber ich brauche dich«, wiederholte sie taktlos. Er sprang auf: »Kann ich denn nicht einen Moment vor dir Ruhe haben?« brüllte er. »Geh raus und laß mich allein!« Sie drehte sich sofort um und verließ das Zimmer.

»Sie hätten das um meinetwillen nicht tun sollen«, sagte ich. – »Warum nicht? Was hat das denn mit Ihnen zu tun?«

»Ihre Frau wird mich immer hassen,« erwiderte ich, »weil ich der Zeuge ihrer Demütigung war. Ihnen wird sie vielleicht verzeihen, mir nie.« Er lachte wie ein Schuljunge: »Das ist das Verblüffende an Ihnen,« sagte er, »Sie haben ein unheimliches flair für Charakter und Leben. Aber es schadet nichts, ich werde ihr sagen, daß Sie sich über meine Grobheit ärgerten, und damit wird die Sache aus der Welt geschafft sein.« – »Sagen Sie nichts,« erwiderte ich, »lassen Sie uns hoffen, daß sie den Vorfall vergißt, obwohl es nicht wahrscheinlich ist.« Lady Randolph hat später nie eine Gelegenheit vorübergehen lassen, ohne mir ihre herzliche Abneigung zu zeigen. Ich erinnere mich, wie sie einige Jahre später in den Südexpreß in Paris einstieg und sich kühl und unbekümmert eines von einem alten Manne belegten Platzes bemächtigte. Ich habe zehn Minuten gebraucht, um dem alten Franzosen zu erklären, wer sie war, und ihn zu beruhigen; aber sie gab sich kaum die Mühe, mir zu danken. Sie zeigte sich mir immer von der schlimmsten Seite, entweder herrschsüchtig oder gleichgültig.

Als Lord Randolph Führer des Unterhauses und Schatzkanzler wurde, offenbarte sich seine wirkliche Größe. Der unverantwortlichste und kühlste aller Kritiker, der Typus des Oppositionsführers, dessen Metier und »raison d'être« der dauernde Angriff um gewichtiger oder belangloser Gründe willen war, nahm plötzlich einen neuen Charakter, eine seltsame, unerwartete Würde an. Die Metamorphose verblüffte jeden. Er war nicht nur objektiv, sondern auch gütig. Er hörte dem langweiligsten Schwätzer zu und gab ihm mit würdiger Höflichkeit die Antwort. Zum ersten und einzigen Male in der Geschichte des Unterhauses benutzte er seine Kabinettsminister wie Schachfiguren und behandelte jede Debatte wie eine neue Kampagne.

Früher pflegten die Minister ihre Namen den Einpeitschern mitzuteilen und sprachen, wann es ihnen gefiel. Randolph Churchill änderte das Verfahren. Es machte ihm gar nichts aus, mitten in der Debatte den Kabinettsminister zu bitten, später oder überhaupt nicht zu sprechen, je nach den Reden der Gegner. Seine wesentlichen Führerqualitäten setzten alle urteilsfähigen Menschen in Erstaunen. Man zitierte eine Äußerung Gladstones, daß Lord Randolph der höflichste Mann sei, den er je getroffen habe, und der größte Konservative seit Pitt. In den sechs Wochen nach der Vertagung hat er sich bei den verschiedensten Menschen das größte Ansehen erworben. Die gewiegtesten Menschenkenner, selbst so weitsichtige Männer wie Hartington und Dilke, haben seinen Wert erst spät erkannt. Nach der Bradlaugh-Debatte sagte Hartington, Randolph kenne das Unterhaus besser, als es sich selbst kenne. Aber Dilke war, glaube ich, der erste, der seine einzigartigen Fähigkeiten als Debattenführer und Kämpfer im Wortstreit erkannte. Immer wieder zitierte ich Bacons großes Wort, das auf ihn gemünzt sein konnte: »Große Männer bewegen sich wie Himmelskörper stürmisch ihren Plätzen zu und drehen sich sehr langsam an Ort und Stelle.«

Randolphs Fähigkeiten schienen das ganze Unterhaus auf eine höhere Stufe zu heben. Das genaue Gegenteil davon geschah einige Jahre später, als Arthur Balfour Führer des Hauses wurde. Er bestand darauf, die Deputierten so zu behandeln, als ob sie aus Connemara kämen und er noch Staatssekretär für Irland wäre. Das ganze Haus fühlte sich vor den Kopf gestoßen.

Als das Parlament wieder zusammenkam, war Lord Randolphs Macht gewachsen. Er hatte Gladstone entsetzt und sich im Hause eine viel größere Stellung gesichert als Gladstone selbst. Bald jedoch wurden Nachrichten über Zwistigkeiten im Kabinett in Umlauf gebracht. Es hieß, »daß Lord George Hamilton für die Marine und W.H. Smith für das Heer gegen Randolphs Budget protestierten«. Aber man war allgemein der Ansicht, daß die beiden werden nachgeben müssen. Dann hörte man eines Tages, daß Lord George Hamilton seinen Voranschlag vermindert hatte. Endlich solle Friede herrschen. Wie würde denn Randolphs Haushalt aussehen? Er hatte mir einige Male gesagt, daß er ein demokratisches Budget einbringen wollte. Gladstones Ruf nach »Friede, Einschränkung und Reform« schien ihm in Fleisch und Blut übergegangen zu sein. Vergeblich versuchte ich, ihn zu überzeugen, daß die Zeiten sich geändert hatten, daß die Tage des Kleinrentners, der alle Steuern zahlte und dem daher die Sparsamkeit als die größte aller Tugenden erschien, für immer vergangen sind. »Die Mehrheit der heutigen Wähler«, behauptete ich, »zahlt nichts. Und der Engländer zieht im allgemeinen die offene Hand der Sparsamkeit vor.« Er wollte es sich nicht einmal durch den Kopf gehen lassen. Eines Abends sagte er mir: »Smith läßt nicht mit sich reden, er will seinen Voranschlag nicht vermindern, und Salisbury unterstützt ihn ... Stellen Sie sich dieses Paar vor,« rief er aus, »diese beiden alten Händler! Und beide hassen mich. Ich reiche meine Demission ein und werde sehen, wie sie sich Gladstone gegenüber benehmen werden.« – »Seien Sie doch nicht verrückt,« schrie ich, »werfen Sie nicht die Flinte ins Korn.« Plötzlich erzählte er mir beim Essen, daß er nach Windsor eingeladen sei, und als ich in meiner Unwissenheit nichts Besonderes in dieser Tatsache sah, erklärte er mir, daß er seit zehn Jahren, seit er bei der Scheidung seines ältesten Bruders Blandford für ihn gegen die Königin aufgetreten war, von der Hofgesellschaft boykottiert wurde. Die Einladung der Königin machte ihm große Freude.

Als er aus Windsor zurückkehrte, ging ihm die Nachricht seiner Demission voraus und schuf eine außerordentliche Sensation. Man flüsterte sich mit verhaltenem Atem zu, daß er auf dem Briefbogen der Königin seine Demission an Lord Salisbury eingereicht habe, als ob Randolph Churchill je auf den Gedanken gekommen wäre, eine Einladung nach Windsor zur Stärkung seiner Stellung auszunutzen. Lord George Hamilton, der mit ihm nach Windsor fuhr, erzählt, daß Randolph schon damals entschlossen war, seine Demission einzureichen. Aus Dankbarkeit für die frühere Unterstützung hat Randolph den »Times« zuerst die Nachricht von seiner Demission gegeben, und der Herausgeber Buckle machte ihm in höflicher Form zwei Spalten lange Vorhaltungen. Am selben Morgen schickte mir Randolph eine Zeile mit der Bitte, ihn aufzusuchen. Mit schwerem Herzen ging ich gegen elf Uhr nach Connaught Place. Die Wagenreihe vor dem Hause verblüffte mich, und ich fand das Haus selbst von Torydeputierten erfüllt. Ich fing Randolph zwischen zwei Zimmern ab. »Na, was denken Sie darüber?« rief er hocherfreut. »Mehr als zweihundertfünfzig Torydeputierte kamen zu mir, um mich ihrer Anhänglichkeit zu versichern. Ich habe gewonnen. Die alte Bande wird nachgeben müssen.« Aber er hatte ohne Salisburys Eigensinn und Abneigung gerechnet.

Tage verstrichen, als ich wieder eine Zeile von ihm bekam. Ich ging wieder nach Connaught Place – die Räume waren jetzt leer und öde. Randolph kam mir entgegen. »Die Ratten verlassen das sinkende Schiff«, sagte er düster. »Salisbury hat Hartington telegraphiert, vom Kontinent zurückzukommen, und in einer Woche wird er hier sein.« – »Wird Hartington ihm helfen wollen?« fragte ich, »ich weiß, daß er eine hohe Meinung von Ihnen hat.« Und ich erzählte ihm, wie Hartington seine Führung des Hauses gelobt hatte und wie überzeugend sein Lob klang, denn diejenigen, die am wärmsten loben, sind auch die besten Richter. Zuerst war Randolph niedergeschlagen, aber im Laufe des Gespräches erzählte er mir, wie er die Königin bei Tisch gewonnen hatte und wie sie sagte, daß sie ihn für einen wirklichen Staatsmann halte. »Eine große Frau,« fügte er hinzu, »eine der klügsten und besten!«

Einige Tage später kam Hartington an. Randolph hatte ihn vom Bahnhof abgeholt und war sehr stark unter seinem Eindruck. »Ein vornehmer Mensch«, sagte er mir später in tiefem Ernst. »Er versicherte mir, daß er mich für den geborenen konservativen Führer halte und nichts tun würde, was mir Schwierigkeiten bereiten könnte.« Einige Tage später erzählte er mir verwundert, Salisbury hätte sich angeboten, mit oder unter Hartington zu arbeiten, und Hartington hätte es abgelehnt. »Jetzt muß ich siegen, das ist Salisburys letzte Karte.« Aber sie war es nicht. Einige Tage später besuchte ich Randolph. Er kam mir mit dem Ausruf entgegen: »Ich bin erledigt. Goschen wird Schatzkanzler werden! Ich hatte Goschen vergessen.« Er erzählte mir, daß Frau Jeune diesen Namen zuerst erwähnt hatte. »Sobald sie diesen Namen nannte, war ich zu tiefst betroffen. Ich wußte, nun ist alles zu Ende. Und das war auch der Fall. »Der Moralonkel« W. H. Smith übernahm die Führung des Hauses und machte Goschen für die Finanzen verantwortlich. Damit war Randolph kaltgestellt.

Ich versuchte, ihn zu überzeugen, daß noch nicht alles verloren war. »Der Ecksitz am Gange, Ihre beißende Kritik, und in sechs Monaten wird der ›Moralonkel‹ froh sein, sich in seinen Buchladen zurückziehen zu können ...« Zu meiner äußersten Verwunderung schüttelte er den Kopf. »Ich kann nicht«, sagte er. »Ich bin ein Konservativer. Wenn Gladstone an der Macht wäre, würde ich mich sofort an die Arbeit machen. Ich kann meine eigenen Leute nicht bekämpfen –« Aber hatte er nicht seine eigenen Leute vor sechs Jahren in dem Bradlaughfall bekämpft? Warum hatte er sich so geändert? »Warum in aller Welt haben Sie denn Ihre Demission eingereicht?« Die Frage drängte sich auf meine Lippen, aber ich sagte kein Wort.

Diese Tragödie braucht keine Kommentare mehr.

Noch ein Vorfall: denn der gefallene Löwe sollte mehr als einen Fußtritt bekommen. Seltsamerweise fiel alles, was sich zwischen den Jahren 1880 bis zu seiner Demission im Jahre 1886 ereignete, zu seinen Gunsten aus. Nach seiner Demission wendete sich das Blatt. Nach der verblüffenden Glücksserie kam die erstaunliche Pechsträhne, Zuerst schien alles gut zu gehen. Während der Parlamentssitzung des Jahres 1887 sprach man sogar von einer Versöhnung. Man war so unter dem Bann der meisterhaften Führung von Randolph, daß man überzeugt war, er würde schon seinen Weg machen. Er führte sicher schon etwas im Schilde. Dann kam die Nachricht eines Paktes mit Chamberlain, und die Fata Morgana einer Mittelpartei. Als Führer des Hauses wirkte der alte Moralonkel Smith beinah absurd. Die Gerüchte mehrten sich. Dann starb Bright, und Central Birmingham wurde vakant. Ich hörte sofort durch Louis Jennings, Randolphs besten Freund, mit dem ich ebenfalls sehr befreundet war, daß Randolph von Paddington und seinem Villenleben dort genug hatte und entschlossen war, für den Sitz von Bright zu kandidieren und die Torydemokratie in Wirklichkeit umzusetzen. Aber Chamberlain wollte von einem solchen Rivalen nichts hören. Er ließ ihnen durch Hicks Beach mitteilen, daß er Randolphs Kandidatur in Central Birmingham als einen Bruch des ungeschriebenen Vertrags zwischen den Liberalunionisten und den Konservativen betrachten und die Handlungsfreiheit für sich in Anspruch nehmen würde.

Hicks Beach kämpfte zuerst für Randolph. Er hatte immer die höchste Meinung von Randolphs Genie. Als Gladstone im Jahre 1886 stürzte, berief Lord Salisbury Hicks Beach mit Randolph zusammen, um über die Führung des Unterhauses zu entscheiden. Hicks Beach hatte einen viel älteren und, wie mancher sagen würde, besser begründeten Anspruch. Er war ein Mann von ausgezeichnetem Charakter, großer Erfahrung und wirklichen Fähigkeiten. Aber er wollte nichts von einer Nebeneinanderstellung hören. Randolph mußte zweifellos gewählt werden, er sollte der Führer des Hauses sein, und Hicks Beach wollte sich mit einem untergeordneten Platz bescheiden. Auch jetzt weigerte er sich, Randolph zu verletzen, aber es nutzte ihm nichts. Chamberlain war unerbittlich. Als Hicks Beach zögerte, setzte Chamberlain Lord Hartington an die Arbeit, und Hartingtons Intervention gab den Ausschlag. Randolph mußte zwischen der Kandidatur in Central Birmingham und der Sprengung der Koalition wählen. Randolph überließ Hicks Beach die Entscheidung und bekam von ihm die Antwort, daß er sich zurückziehen müsse, um die Partei zu retten. Randolph empfand den Schlag sehr schmerzlich. Die Nachricht sickerte durch, und es war für ihn demütigend, von Chamberlain geschlagen zu werden.

Randolph zog sich zurück, verbrachte seine Zeit beim Rennen, wettete sehr hoch und im Anfang mit Glück. Man belächelte es als einen knabenhaften Übermut.

Ungefähr ein Jahr später traf ihn ein anderer Schlag. Die Regierung verkündete ihre Absicht, eine Kommission ins Leben zu rufen, um die Beschuldigung gegen Parnell zu untersuchen, die die »Times« erhoben hatten. Randolph, der die irische Frage sehr genau kannte, witterte die Gefahr und schrieb in seiner Großzügigkeit an W. H. Smith, um darauf hinzuweisen; denn er war überzeugt, daß Parnell unschuldig aus der Sache hervorgehen würde. Seine alten Kollegen waren zu dumm, um auf seine Warnung zu hören. Als die Angelegenheit Anfang des Jahres 1890 auf die Tagesordnung gesetzt wurde, verfaßte Randolph zusammen mit Jennings einen Entwurf, in dem, unter vollkommener Ignorierung der von der Regierung unternommenen Schritte, das Vorgehen der »Times« verurteilt wurde. Das Haus war gedrängt voll. Jennings wartete auf das Zeichen des Speakers, um seine Rede zu halten, als Randolph plötzlich aufstand und in den bittersten Ausdrücken, die er nur finden konnte, die Regierung zu attackieren begann. Als er sich hinsetzte, sah er, wie wütend Jennings war, und er schickte ihm einige Zeilen hinüber. Aber Jennings war zu verletzt und wollte nie wieder mit Randolph sprechen. Die Erklärung dafür liegt in der Tatsache, die sein Sohn hervorgehoben hatte, daß Randolph zu sehr Aristokrat war, zu egozentrisch, ungeduldig und erregbar, um ein guter Freund zu sein. Er verzankte sich fast mit jedem, mit Ausnahme von Hicks Beach, Lord Grimthorpe, seinem Schwager Lord Curzon und Wolff, die er seltener sah.

Nach der Chamberlainaffäre sah ich nicht viel von ihm, traf ihn jedoch später in Monte Carlo und aß mit ihm mehrere Male, wie ich noch später erzählen werde.

Ich hatte Louis Jennings kennengelernt, als er noch Randolphs Adjutant war, freundete mich mit ihm an, und nach dem Zank über den Entwurf sah ich ihn noch häufiger. Er wollte, daß ich die Redaktion des »New York Herald« in London übernehmen solle, aber ich hatte alle Ursache, Gordon Bennett zu mißtrauen, und so wurde nichts aus Jennings gutgemeintem Vorschlag. Unsere Freundschaft wurde jedoch dadurch gefestigt, und wir sprachen nun oft über Randolphs Verrat, wie Jennings es nannte, und seine Zukunft. Jennings war ein ausgezeichneter, gütiger Kerl, der selbst klug genug war, um Randolphs Klugheit richtig zu werten, und außerdem eine vollkommene, selbstlose Loyalität besaß. Als wir einmal über Randolph sprachen, sagte er mir: »Sie wissen ja, daß er Sie nicht mag, nicht wahr?«

»Nein,« erwiderte ich, »ich dachte sogar, er mag mich ganz gern. Aber das spielt ja keine Rolle. Seine Vorlieben wie Abneigungen sind ja vollkommen unvernünftig.«

»Er hat einen großen Charme,« meinte Jennings, »wenn er will. Und er gebraucht ihn bewußt und rechnet damit. Aber nun ist er erledigt, und wir verlieren nur Zeit, wenn wir über ihn sprechen.«

»Was verstehen Sie denn darunter?« rief ich aus. »Er ist doch in den besten Jahren und hat noch ein langes Leben vor sich. Sein parlamentarisches Genie ist ganz einzigartig. Wenn er nur die Rennwetten aufgeben und nicht mehr den Narren spielen wollte, könnte er in einigen Jahren wieder Führer des Hauses und Premierminister werden.« Jennings schüttelte den Kopf. »Er ist nicht so kräftig, wie Sie denken. Meiner Ansicht nach ist er dem Verhängnis geweiht.« – »Um Gottes willen, was soll denn das heißen?« – »Ich dürfte wohl nicht darüber sprechen,« meinte er, »aber Randolph erzählte es mir einmal beiläufig, um seine Kopfschmerzen und seine Depressionsanfälle zu erklären, und es ist eine interessante Geschichte.«

Ich schreibe sie nieder, wie ich sie an jenem Abend in Kensington-Gore von Jennings hörte.

»Randolph fiel zuerst in Oxford kaum auf,« begann Jennings, »er las nicht und arbeitete nicht, jagte, sooft sich ihm die Gelegenheit bot, und war immer herrschsüchtig wie der leibhaftige Teufel. Aber schließlich war er der Sohn eines Herzogs, und Blenheim war nahe, und so umwarb ihn die englische Gesellschaft, wie es nur Engländer tun. Er wurde zum Mitglied des Bullingdon Klubs, des elegantesten Klubs in Oxford, gewählt, und eines Abends entwickelte er dort seine Lieblingsidee, daß das Verhältnis von Herrn und Dienerschaft im Heim eines englischen Gentleman das Ideal einer sozialen Ordnung darstellt. ›Wenn das Kind eines Kammerdieners oder Gärtners auch nur die Spur einer Begabung aufweist, wird es vom Herrn bemerkt, der mit Freude dem begabten Knaben Erziehungsmöglichkeiten bietet, die sich sein Vater nie würde leisten können. So ähnlich müßten die Beziehungen zwischen den Aristokraten und den Arbeitern in England sein – das ist die Torydemokratie, wie ich sie auffasse.‹ Selbstverständlich wurde er von den Studenten bejubelt und beglückwünscht, man umschmeichelte ihn, und als man auseinandergehen wollte, schlug einer den Abschiedstrunk vor. Er goß ein Glas eines schweren Schnapses ein, füllte es mit Sekt bis an den Rand und reichte es Randolph hinüber. Nichts Böses ahnend, trank Randolph den Becher aus, und mit den besten Wünschen gingen die Jünglinge auseinander. Randolph versicherte mir, daß von dem Augenblick an, in dem er sich im Freien befand, er sich an nichts mehr erinnern konnte. Ich möchte Ihnen die Geschichte mit Randolphs eigenen Worten erzählen.

›Am nächsten Morgen‹, sagte Randolph, ›wachte ich mit einem furchtbaren Geschmack im Munde auf, und in dem Dämmerzustand zwischen Wachen und Schlafen war ich plötzlich wie vom Donner gerührt: die Tapete auf den Wänden war grauenhaft; schmutzig – und – als ich mich im Bett umdrehte, riß es mich atemlos empor: eine alte Frau lag neben mir – eine dünne Strähne schmutzig grauen Haares ringelte sich auf dem Kissen. Wie war ich hergeraten? Was hat mich in eine solche Spelunke gebracht? Ich glitt aus dem Bett und zog, so lautlos ich nur konnte, Hemd und Hosen an, aber plötzlich wachte die alte Frau im Bett auf und rief mir lächelnd zu: Na, mein Schatz, du wirst mich doch nicht so verlassen?

Sie hatte einen langen, gelben Zahn in ihrem Oberkiefer, der wackelte, als sie sprach. Sprachlos vor Angst fuhr ich mit der Hand in die Tasche, warf das ganze lose Geld, das ich hatte, auf das Bett und konnte kein Wort hervorbringen. Sie lächelte mir zu. Ich zog Jacke und Überrock an und stürzte aus dem Zimmer. Schatz, du bist nicht lieb zu mir, hörte ich sie sagen, als ich die Tür hinter mir schloß. Ich flog die Treppen herunter in bleichem Schrecken. Auf der Straße fand ich einen Wagen und gab dem Kutscher die Adresse eines Arztes, der mir einmal empfohlen worden war. Er empfing mich mit der Bemerkung, daß er meinen Bruder kannte. Ich unterbrach ihn in wilder Aufregung: Ich will, daß Sie mich sofort untersuchen. Ich war in der letzten Nacht sinnlos betrunken und bin heute im Bett neben einer gräßlichen, alten Dirne aufgewacht. Bitte, untersuchen Sie und desinfizieren Sie mich. – Er untersuchte mich und sagte, er könne kein Zeichen einer Verletzung finden. Er machte ein starkes Desinfiziermittel zurecht, ich wusch mich, während er mich die ganze Zeit hindurch mit billigen Gemeinplätzen zu trösten versuchte: Wir haben keine schweren Krankheitsfälle in Oxford, Selbstverständlich müßte man staatlich geprüfte Bordelle wie in Frankreich haben, mit einer vierzehntägigen Untersuchung der Prostituierten. Aber bei uns haßt man die großmütterliche Gesetzgebung, und ich glaube wirklich nicht, mein lieber Lord Randolph, daß Sie einen ernsthaften Grund zur Sorge haben. – Keinen Grund zur Sorge, wahrhaftig! Ich hätte mich schlagen können, daß ich ein solcher Narr war. Ich nahm eine Anzahl von Büchern über Geschlechtskrankheiten mit und verschlang sie in einem Atem. Meine nächste Woche war ein einziger Alpdruck. Ich war mir klar, daß ich für meine Dummheit mindestens die Gonorrhoe verdient hatte. Ich bat zu Gott wie zu einer strafenden Macht, er möchte mich damit züchtigen. Ich hatte es verdient. Aber nichts mehr, nichts Schlimmeres, nur keinen Schanker, keine Syphilis.

Eine Woche lang nichts, kein Zeichen. Ich atmete auf. Ich mußte noch einundzwanzig Tage abwarten, bevor ich sicher war, daß mir keine Syphilis drohte. Syphilis, denken Sie sich das in meinem Alter – ich, der ich so stolz auf meine Gesundheit war. An dem entscheidenden Tage nichts, kein Zeichen. Am nächsten Tage untersuchte mich dieser Narr von einem Arzt wieder: Nichts, Lord Randolph, nichts. Ich beglückwünsche Sie. Sie brauchten allem Anschein nach die Zeche nicht zu bezahlen.

Einen Tag später aß ich bei Jowett, dem Meister von Baliol. Es war an einem Sonntag, und er hatte drei oder vier Menschen eingeladen, die mich kennenlernen wollten. Ich sprach viel, trank jedoch sehr wenig. Nach dem ersten verrückten Exzeß beschloß ich, nie mehr als zwei Gläser zum Essen zu trinken und ein kleines Glas Likör oder Schnaps zum Kaffee. Ich wollte mich nicht zum zweiten Male fangen lassen. Ich war Gott für meine Rettung so dankbar, daß mir die Gelübde zur Besserung nicht schwer fielen.

In der Mitte des Essens überkam mich plötzlich ein seltsames Gefühl, ein merkwürdiger, spannender Schmerz. Überwältigt vor Angst entschuldigte ich mich und verließ das Zimmer. Draußen fragte ich den Diener nach der Toilette und untersuchte mich. Der Ausschlag war da. Ich bat den Diener, mich bei seinem Herrn zu entschuldigen: Sagen Sie ihm, bitte, daß ich mich sehr schlecht fühle und nach Hause gehen muß. – Sie sehen nicht gut aus, erwiderte er. Im nächsten Augenblick saß ich in der Droschke auf dem Wege zum Arzt. Zum Glück war er zu Hause und empfing mich. Ich erzählte ihm, was mich herführte. Er nahm sein Vergrößerungsglas und untersuchte mich genau. Als er fertig war, fragte ich: Nun? – Ja, erwiderte er leidenschaftslos, wir haben hier ein vollkommenes Beispiel eines syphilitischen Ausschlags. Warum ich ihn damals nicht umgebracht habe, weiß ich nicht.

Innerlich wütete ich gegen mich selbst, daß ich ein solcher Narr war, ich, der ich so stolz auf meine Klugheit war, ich, der ich so viel Großes auf der Welt leisten wollte, nun hatte ich die Syphilis. Der Gedanke war zu furchtbar, und dieser Narr von einem Arzt ... Wir müssen es kurieren, sagte er. Es ist unheilbar, erwiderte ich, alle Bücher sind sich darin einig.

Nein, nein, schnurrte er, wenn man es rechtzeitig behandelt, ist es unschädlich. Quecksilber ist ein ausgezeichnetes Mittel, ganz unvergleichlich, obwohl sehr deprimierend. Haben Sie genügend Entschlußkraft, um es durchzuhalten, das ist die ganze Frage?

Sie werden sehen, erwiderte ich. Haben Sie irgendeinen anderen Rat? – Vollkommene Abstinenz vom Alkohol, erwiderte er, ich werde Ihnen eine Diät vorschreiben, und wenn Sie sich an meine Vorschriften halten, werden Sie in einem Jahre ohne üble Nachfolgen geheilt sein.

Ich tat zwar zuerst, was er mir gesagt hat, aber schließlich war ich jung und leichtsinnig, hörte nicht auf zu trinken und wurde bald übermütig. Verdammt noch mal, man kann sich nicht ewig zu einer Trauerweide machen! Ich hatte seit jener Zeit kaum irgendwelche Symptome, und vor meiner Heirat hat der Arzt in Oxford wie auch mein Arzt in London mir bestätigt, daß ich vollkommen kuriert sei.‹«

Ich war von der Geschichte tief ergriffen. Sollte hier noch ein Kapitel folgen? War es das, was Jennings gemeint hatte, als er sagte, daß Randolph dem Verhängnis geweiht sei? Was wußte oder fürchtete er sonst? Ich hatte gerade zu jener Zeit die Wahrheit über Maupassant erfahren und begann seine grauenhaften Ängste auf die Syphilis zurückzuführen. Aber Maupassant hatte kaum etwas dazu getan, um sich zu kurieren, während Randolph behauptete, geheilt zu sein. Ich stellte die Frage: »Glauben Sie, daß Randolphs Gesundheit angegriffen ist?« – »Leider ja,« meinte Jennings, »er hat Anfälle äußerster Reizbarkeit und Depressionen, die mir nicht gefallen. Ich glaube nicht, daß er sich sehr in acht nahm. Er lachte über die sekundären Symptome. Ich höre nun, daß er sich auf eine lange Erholungsreise unter der Aufsicht von Beit nach Südafrika begibt. Das mag ihn heilen. Jedenfalls kümmere ich mich nicht länger um sein Schicksal.«

Noch einige Geschichten, und das Leben Randolph Churchills ist erzählt, soweit es mich betrifft. Ich hatte schon erwähnt, daß ich ihn einige Jahre hindurch in Monte Carlo traf. Ich lachte zuerst über seine kindliche Einbildung, daß er Geld beim Spielen gewinnen könnte. Er behauptete, daß die Möglichkeit, den Einsatz zu variieren, dem Pointeur einen Vorteil gebe. Ich war ihm sehr nützlich, weil ich Monte Carlo seit Jahren so gut kannte wie nur irgendeiner – alle Croupiers und Direktoren. Er war von einer kindischen Selbstsicherheit, und ich fand, daß ich meine Zeit verlor, als ich versuchte, ihn vom Spielen abzuhalten, und so zeigte ich ihm das sogenannte »Labbysystem«, das im Verlustfalle in einem sehr langsamen Fortschreiten besteht und daher weniger gefährlich ist als die meisten Systeme, die gewöhnlich nur Abweichungen des albernen Verdoppelungsspieles sind, das schnell heilt oder tötet, weil der Maximaleinsatz beschränkt ist.

Nachdem wir uns einige Male in Monte Carlo getroffen hatten, wurde Randolph mir gegenüber entgegenkommender und sprach mit mir offener, als er es je in den Tagen seines Erfolges getan hatte.

Eines Abends nach dem Essen im Hotel de Paris führten wir ein wirklich ernstes Gespräch über Politik, und ich fand, daß wir auf entgegengesetzten Polen standen. Ich wies daraufhin, daß ebenso, wie Dorfgemeinschaften von Nationen ersetzt wurden, so auch Nationen durch Weltreiche ersetzt sein werden; zwei davon bildeten sich gerade, Rußland und die Vereinigten Staaten, die bald alle Nationen zu Zwerggebilden herabdrücken werden. Die Frage für England war: würde es eine Union mit den Kolonien bilden und zu einem englischen Staatenbund werden, mit einem Reichssenat aus allen Kolonien an Stelle dieses zusammengekitteten Oberhauses? Zu meiner Verblüffung geriet er in Wut. »Ich kenne das Oberhaus,« rief er aus, »und es hat schon Sinn und Verstand genug; und Ihr Reichssenat aus emporgekommenen Gemüsehändlern aus Ballarat und Krämern aus Sidney wäre etwas Scheußliches.« Ich hatte nichts dagegen zu erwidern. Er lebte noch in feudalen Zeiten, und sein Verstand war ein bloßer Zufall.

Ich sprach mit ihm über Sozialismus und seine Rolle in einer gutgeordneten Gemeinschaft, aber Randolph wollte von Sozialismus nichts wissen. Er verstand keine Silbe von dem modernen Problem. Er wollte nicht einmal zugeben, daß die Prosperität der arbeitenden Klassen in Frankreich der Landverteilung während der Revolution zu verdanken ist. »Die verhältnismäßige Prosperität der französischen Bauern hat ihre Nachteile«, erklärte er. »Sehen Sie sich ihre enge, dumpfe Existenz an. Ich ziehe England mit seiner weiteren Freiheit vor, wo wenigstens eine Klasse das Beste vom Leben bekommt und ein großes Beispiel statuiert.«

Nach diesem Abend hatte ich kaum ein Interesse mehr an seiner etwaigen Rückkehr zur Macht. Seine mangelnde Bildung verkrüppelte ihn. Er würde nie ein Mazzini, geschweige denn ein Bismarck werden. Wie er so aß und trank und von den gutgekleideten Frauen sprach, die an uns vorbeigingen, verstand ich, warum »ungebildet« gleich »roh« gebraucht wird. Ich merkte auch zum erstenmal, daß er furchtbar nervös war. Seine Hände zitterten, er zuckte bei jedem plötzlichen Geräusch zusammen. Ich konnte nur hoffen, daß seine Erholungsreise nach Südafrika ihm Kraft und Gesundheit zurückgeben würde.

Er fuhr auf einem Schiff der Donald Currie Linie und schrieb Artikel für eine englische Zeitung, in denen er die Verpflegung als die einer zweitklassigen Pension schilderte. Er hatte vollkommen recht, aber seine wohlbegründete Kritik wurde bitter angegriffen. Die ganze Handelswelt, deren Patriotismus hauptsächlich aus Selbstinteresse besteht, und ihre Werkzeuge in der Presse haben ihn so lange verhöhnt, bis sie seine Reputation bei der Masse ernsthaft schädigten. Und doch war das Essen an Bord überall schlecht, bis Ballin mit der Hilfe von Harris ein Ritzrestaurant auf der »Kaiserin Auguste Viktoria« gründete und sofort die Ozeanreise in eine höhere Kategorie des Komforts hob. Er war der erste, der das Reisen zur See luxuriös gestaltete.

Randolph kam bärtig wie ein Leopard aus Südafrika zurück, ein grauhaariger, alter Mann. Andere haben erzählt, wie er versuchte, seine Stellung und seinen Einfluß im Parlament zurückzugewinnen, und wie er kläglich versagte. Das Haus versammelte sich, um seine Rede zu hören. Er stand auf, und nach den ersten Worten begann er zu stottern, zu zögern und sich zu wiederholen, während die pathetischen Gesten das Groteske der ganzen Schaustellung noch unterstrichen. Balfour saß neben ihm und vergrub den Kopf in die Hände. »Randolph ist erledigt«, war die allgemeine Meinung. »Was ist denn mit ihm geschehen?« fragte man sich. »Wer hätte es geglaubt?«

Ich hörte von Beit, daß Randolph sein ganzes Geld seinem Rat verdankte, da er es in Bohrungen investiert hatte. Es ist bekannt, daß er nach seinem Tode seiner Frau viele Tausend Pfund zurückließ, die alle aus dieser Quelle stammten. Jennings Worte kamen mir immer wieder in den Sinn: »Randolph ist dem Verhängnis geweiht.« Ich sollte bald die Ursache erfahren.

Sein Bruder starb, und ich verkündete sofort, daß ich in der »Fortnightly Review« einen Artikel über »Die Kunst des Lebens« aus der Feder des verstorbenen Herzogs veröffentlichen würde. Ich zeigte einzelne Sätze den Reportern, und da die Intelligenz und Offenheit des Herzogs allgemein bekannt war, gelang es mir, eine ungeheure Sensation zu schaffen, denn der Artikel war in der Tat beinah zu ungeschminkt, um veröffentlicht zu werden. Meine Leser werden sich erinnern, daß ich den Artikel seinerzeit vom Herzog als Entgelt für die Veröffentlichung eines Aufsatzes seiner Geliebten, der Lady Colin Campbell, erhielt. Ich stellte ihm damals die Bedingung, daß er mir einen vollkommen offenen Artikel über seine wahren Ansichten vom Leben und der Lebenskunst schreiben würde. Er entsprach meiner Bitte mehr als vollkommen. In seinem Artikel erklärte er, daß die Frauen das einzige seien, worauf es im Leben ankommt. »Ein gutes Essen und ein gutes Gespräch mit klugen Männern ist interessant, aber ohne Frauen und ohne die Freude, die sie uns geben, wäre das Leben leer, flach und nutzlos, ›eine Mär, erzählt von einem Tollen, voll Klang und Raserei und nichts bedeutend‹.«

Einige Jahre, nachdem ich Lady Colins Artikel veröffentlicht hatte, erzählte mir der Herzog, daß sie darauf bestand, von seiner neuen Frau, der so reichen Frau Hammersly aus Newyork, für eine Woche in Blenheim eingeladen zu werden. Die Herzogin ging darauf in aller Unschuld ein, und Lady Colin erschien und plakatierte ihre Vertrautheit mit dem Herzog, den sie immer beim Vornamen nannte. Er erzählte mir lachend, wie dieses Teufelsweib ihn zu langen Morgenspaziergängen verleitete und ihn so lange zurückhielt, bis sie zu spät zum Essen kamen. »Wir sind so alte Freunde,« sagte sie dann zu der Herzogin, »und ich habe ihn so lange nicht gesehen, daß Sie uns wirklich verzeihen müssen. Wenn wir zusammen sind, fliegt die Zeit nur so hin.«

Der Herzog meinte: »Meine Frau ist keineswegs dumm. Keine Frau ist in einem solchen Falle blind, und Lady Colin wird nie wieder nach Blenheim eingeladen werden.«

Soweit war ich über die Verhältnisse orientiert, als ich einen Brief von Randolph bekam, in dem er mich bat, ihn im Hause seiner Mutter in der Grosvenor Street aufzusuchen, wo er zur Zeit wohnte. Ich ging nichtsahnend hin. Ich hatte schon früher häufig dergleichen Briefe bekommen. Als er durch das Zimmer schritt, um mich zu begrüßen, erschrak ich über sein Aussehen. In wenigen Jahren war er bis zur Unkenntlichkeit verändert; ein alter Mann stand vor mir. Sein Gesicht war abgezehrt, sein Haar grau und dünn. Auch der graumelierte, dicke Bart veränderte ihn vollkommen. Er hielt sich gut, was ihm eine gewisse Würde verlieh, aber das alte knabenhafte Lächeln war verschwunden. »Nehmen Sie, bitte, Platz,« sagte er, »wir haben etwas zu besprechen. Sie kennen wohl die Herzogin von Marlborough nicht? Sie möchte Sie gern kennenlernen, und ich glaube, Sie würden sich anfreunden. Ich muß einmal eine Zusammenkunft vereinbaren. Sie ist wirklich eine bedeutende Frau. Und der Tod meines Bruders war für sie ein schwerer Schlag. Sie liebte ihn, wie gute Frauen uns lieben, trotz unserer Fehler. Als sie hörte, daß der Artikel, den er für Sie geschrieben hatte, veröffentlicht werden sollte, war sie entsetzt und erschüttert. Sie hatte den Artikel gelesen und verabscheute ihn. Sie glaubte, er sei unter dem Einfluß der Lady Colin Campbell geschrieben, die sie haßte, und sie verbrannte den Artikel und die Korrekturen, die Sie ihm geschickt hatten, und dachte, damit sei alles abgetan. Als sie hörte, daß der verhaßte Artikel erscheinen sollte, war sie außer sich. Sie beriet mit ihren Anwälten, aber die sagten ihr, daß man nichts machen könne. Schließlich telegraphierte sie mir, und ich suchte sie auf. Ich muß Ihnen genau wiederholen, was ich dieser armen, schmerzgebeugten Frau gesagt habe. ›Wir haben keine Machtmittel,‹ sagte ich, ›aber es war gut, daß du mich holen ließest, weil ich den Herausgeber der Fortnightly kenne und sicher bin, daß, sobald Frank Harris deine Lage und deinen Einwand begreift, er den Artikel zurückziehen wird. Ich kenne ihn und kann es für ihn versprechen. Sorge dich nicht mehr. Der Artikel wird nie erscheinen.‹ Hatte ich recht, Harris?« Er stand auf und streckte mir die Hand entgegen.

Ein Beigeschmack von Theater lag in diesem Appell, der mich ein wenig abkühlte. Es war offensichtlich vorbereitet, aber auch ausgezeichnet gemacht. Ich zögerte. »Ich bin ja nur, sozusagen, ein Treuhänder,« begann ich, »die Revue gehört mir nicht. Dieser Artikel des verstorbenen Herzogs wurde zu einem sehr hohen Preise erworben.«

»Es ist selbstverständlich,« unterbrach mich Randolph, »daß die Herzogin alles bezahlen wird, was man verlangt. Sie wird es mit tausend Freuden zahlen, das versteht sich von selbst.«

»Es handelt sich nicht um Geldzahlungen«, erwiderte ich und erklärte ihm, wie ich nur unter der Bedingung eingewilligt hatte, die Revue mit Lady Colins Artikel zu belasten, daß sein Bruder mir einen interessanten Beitrag schreiben würde, der Lady Colins Langweile gutmachen sollte.

»Sie sah sehr gut aus«, bemerkte Randolph, »und hatte eine außerordentliche Gestalt. Mein Bruder war ein Kenner –«, und er lächelte. – »Sie werden es sicherlich einsehen,« fuhr ich fort, »daß ich Ihnen in dieser Sache den Gefallen nicht tun kann. Ich bin nicht frei – Sie werden es verstehen –«

»Ich kenne Frank Harris,« erwiderte er, »Sie können es tun, wenn Sie wollen, und ich habe es in Ihrem Namen versprochen. Sie werden einem alten Freunde nicht seine letzte Bitte abschlagen«, und er streckte mir die Hand entgegen. Als ich seine Hand nahm und ihn ansah, war mir elend zumute. Die tiefen Linien in seinem Gesicht, die schweren, geschwollenen Säcke unter seinen jämmerlichen Augen, die zitternde Hand – es konnte wirklich seine letzte Bitte sein.

Er mißverstand mein Schweigen. Er fürchtete, daß es eine Ablehnung bedeutete. Da er nicht wußte, daß er schon gewonnen hatte, spielte er seine letzte Karte aus. »Hören Sie, Harris,« sagte er flehend, »erfüllen Sie mir meine Bitte, und ich werde Ihnen einen Aufsatz über jedes beliebige Thema statt des Artikels meines Bruders schreiben. Sagen Sie ja!« Einen Augenblick später legte er die Hand vor die Augen und setzte sich schwer hin. »Ich habe schlecht geschlafen und fühle mich nicht wohl heute«, sagte er mit zitternder, undeutlicher Stimme. Ich konnte ihn nicht einen Augenblick länger im Zweifel lassen. Er erfüllte mich mit Mitleid und Bedauern – ein solches Ende für eine so herrliche Laufbahn!

»Gut also, es soll nach Ihrem Wunsche geschehen«, sagte ich. Er sah mich tief an, und wenn er wollte, so hatten seine hervorstehenden Augen etwas Durchdringendes an sich. »Ich war Ihrer sicher,« meinte er, »ich wußte, Sie brauchten nur die Lage zu verstehen, um uns unsere Bitte zu erfüllen. Ich danke Ihnen von ganzem Herzen. Und auch die Herzogin wird Ihnen danken, wenn sie die gute Nachricht hört. Ich hatte versprochen, ihr zu telegraphieren«, und er drehte sich zum Schreibtisch um. Dann besann er sich und kam wieder auf mich zu. »Aber was soll ich denn für Sie schreiben?« begann er. »Ich vermeide jede anstrengende Tätigkeit, aber ich will mein Bestes tun.«

»Lassen Sie es sein«, meinte ich. »Erholen Sie sich. Das ist es, was Ihre Freunde von Ihnen verlangen, nichts weiter.«

»Ich will mir Mühe geben,« sagte er, »aber ich fürchte, ich habe meine Trümpfe schon ausgespielt.« – Das hatte er in der Tat und gründlicher, als man sich denken konnte.

Der Rest seiner tragischen Geschichte ist bald erzählt.

In den achtziger und neunziger Jahren pflegte Sir Henry Thompson, der berühmte Arzt, Oktavdiners zu veranstalten, so genannt nach der Zahl der Gäste. Er war, glaube ich, ein guter Arzt und wußte viel über Drüsenkrankheiten. Aber er war viel stolzer auf die Tatsache, daß er zwei langweilige Novellen geschrieben hatte und daß von ihm gemalte Bilder in den Akademieausstellungen hingen. Er liebte, auf zwei oder drei Bilder von Alma Tadema in seinem Salon hinzuweisen, was an sich schon für seinen Geschmack bezeichnend ist und sein Talent richtet. Er war jedoch sehr gütig, und mit siebzig Jahren spricht Güte erst recht für Menschlichkeit. Seine Weine waren gut, obwohl keineswegs außerordentlich, und seine Gäste oft interessant. Bei einem solchen Diner, erinnere ich mich, war Randolph der Ehrengast und saß zur Rechten des Gastgebers, Lord Morris saß zu Thompsons Linken, dann kam ich, und neben mir saß Sir Richard Holmes, der joviale Bibliothekar aus Windsor. Er hatte die Liebenswürdigkeit, mich aufzufordern, mir die Sammlung anzusehen, und ich hätte seine Einladung gern angenommen, wenn er mir nicht zuerst von seinen Aquarellen gesprochen hätte, die auch von Zeit zu Zeit die Wände der Akademie zierten. Der künstlerische Dilettant wie auch der Amateurschriftsteller sind mir ebenso langweilig wie der Schauspieler oder Sänger.

Als wir uns zu Tisch setzten, fand ich mich beinah Randolph Churchill gegenüber und bemerkte, daß er Lord Morris sehr mürrisch zunickte und mich noch kälter grüßte. Er sah viel schlimmer aus als vor zwei Monaten in der Grosvenor Street. Sein Gesicht war eingefallen und die Haut bleiern grau. Haß, Zorn und Furcht glimmten in seinen Augen auf, die gräßliche Furcht jener, die wissen, wie nahe der Wahnsinn ist.

Die Suppe wurde gereicht und abserviert, als ich etwas über Irland sagte, worin Lord Morris mit mir übereinstimmte. Zu meiner Verblüffung unterbrach mich Randolph wütend: »Sie wissen viel über Europa, lieber Herr Harris, und alles, was man über Amerika wissen soll,« fuhr er mich an, »aber was wissen Sie über Irland?« – »Ich bin in Galway geboren«, erwiderte ich, »und ging in Armagh zur Schule, und man bekommt von der Kindheit ein gewisses Flair, das man später schwer erlangt.« – »Nie erlangt,« warf Lord Morris ein, »kein Angelsachse bekommt es je. Ich wußte gleich, daß Sie in meinem lieben, armen Lande geboren sein müssen.«

Während des nächsten Ganges sagte Lord Randolph kein Wort. Als das Wild gereicht wurde, bemerkte der Diener, daß es nicht richtig geschnitten war, und so ging er schnell an Lord Randolph vorbei, um es auf dem Anrichtetisch zu zerlegen. Randolph streckte plötzlich den Finger aus und quiekte auf wie im Schmerz: »Äh – äh – äh – äh – äh – äh –« – »Was ist denn los, Lord Randolph?« fragte der Gastgeber in höchster Besorgnis. »Äh – äh – äh – äh –« wiederholte er das hohe Quieken, während er mit dem Finger auf den Diener wies. »Ich will etwas äh – äh – von dem!« – »Es wird sofort zurückgebracht«, meinte Sir Henry. Das Wild wurde serviert. Randolph legte sich ein Stück auf den Teller und begann gierig zu essen. Plötzlich hielt er inne, legte Messer und Gabel weg und starrte auf die Gesichter um den Tisch herum, weil er anscheinend das Gefühl hatte, daß sein seltsames Benehmen bemerkt wurde. Er war verrückt – ohne Zweifel. Von diesem Moment an brachte ich keinen Bissen mehr herunter. Randolph Churchill wahnsinnig! Wie Maupassant!

Als man von Tisch aufstand, fragte ich Holmes, ob er den Vorfall bei dem Wildbret gesehen hatte. »Nein, ich habe nichts gemerkt,« meinte er, »aber das Wild war ausgezeichnet.« Später fragte ich Lord Morris, ob ihm etwas Seltsames in Lord Randolphs Benehmen aufgefallen war. »Nein,« erwiderte er, »höchstens, daß er mir in einer verdammt schlechten Laune schien.«

»Haben Sie nicht bemerkt, wie er quiekte und mit dem Finger zeigte? Er ist verrückt!«

»War er je normal?« erwiderte Morris lachend, und ich mußte mich damit zufrieden geben. Aber später wußte ich, daß ich Randolph Churchill in dem, wie ich es nannte, »bösartigen Affenstadium« des Wahnsinns gesehen habe. Sein schrilles, dauerndes Kreischen tönt mir in den Ohren, so oft ich an ihn denke.

Jahre später, nachdem er nach London zurückgekehrt war und dort starb, saß ich zufällig beim Essen neben Frau Jack Leslie, der Schwester seiner Frau. Ich erzählte ihr von meiner Erfahrung bei dem Oktavessen Sir Henry Thompsons.

»Randolph war schon vollkommen verrückt,« meinte sie, »als meine Schwester ihn auf die Weltreise nahm. Wir alle wußten es. Keine andere Frau als Jenny hätte den Mut gehabt, mit ihm zu gehen. Aber sie kennt keine Furcht und ist sehr kräftig. Und doch konnte man aus den Bemerkungen, die sie fallen ließ, entnehmen, daß sie eine schwere Zeit mit ihm hatte. Einmal erzählte sie mir, daß er in der Kabine einen geladenen Revolver herauszog und sie damit bedrohte. Aber sie riß ihm den Browning aus der Hand, stieß ihn auf sein Bett zurück, verließ die Kabine und verschloß die Tür hinter sich. Jenny ist die mutigste Frau, die ich je gesehen habe.«

Kein Wunder, daß Winston immer wieder seinen Mut bewiesen hat.

Eines Tages, einige Jahre später, traf ich bei Lady Cunard Lady Randolph. Ich erzählte ihr von meinem Gespräch mit Frau Jack Leslie und sprach ihr meine Bewunderung über den Mut aus, der dazu gehörte, mit Randolph auf die Weltreise zu gehen. »Als er zuerst Tobsuchtsanfälle bekam und noch sehr kräftig war, war es schlimm genug«, sagte sie. »Aber sobald er schwach und idiotisch wurde, störte es mich nicht mehr.«

Welch eine Grabschrift!


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