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Kapitel XIV.
Matthew Arnold – Parnell Oscar Wilde

Schon in meinem ersten Jahre bei den »Evening News« errang ich mir den Erfolg, und meine Brotgeber waren sehr zufrieden mit mir. Ich hatte die Verluste um mehr als die Hälfte vermindert, und ich war sicher, daß im nächsten Jahre das Defizit von 40 000 auf 15 000 Pfund sinken würde. Und auch der Verkauf der Zeitung war von 9000 auf 20 000 täglich gestiegen. Ich arbeitete ebenso schwer wie im Anfang, war jeden Morgen um acht Uhr auf der Redaktion, ging nur für eine Stunde zum Mittagessen weg und blieb dann bis sieben Uhr abends. Ich begann jedoch allmählich Einladungen zum Abendessen und Sonntags auch zum Mittagessen anzunehmen. Einmal in der Woche lud mich Frau Jeune, die spätere Lady Jeune, die Frau des bekannten Richters, zu ihren Diners und Empfängen ein, bei denen man alle Berühmtheiten, von den parlamentarischen Führern angefangen, bis zu den ausgewähltesten Geistern in Kunst, Literatur und Leben traf.

Im zweiten Jahre lernte ich auch ihre gesellschaftliche Rivalin, Lady Shrewsbury, kennen, die etwas exklusiver war. Ich hatte in meiner Biographie erzählt, wie ich Oscar Wilde bei Frau Jeune traf und welchen gewaltigen Eindruck er auf mich machte. Ich begegnete dort auch Russell Lowell, Thomas Hardy und einer Schar anderer mehr oder weniger bekannter Schriftsteller und Politiker, von denen ich einige in meinen zeitgenössischen Porträts beschrieb. Ich will jedoch hier nur von denjenigen erzählen, die einen großen Einfluß auf mich und meine Entwicklung ausübten, und dazu rechne ich Walter Pater und Matthew Arnold, hauptsächlich Arnold, zu dem ich mich durch diese Liebe zu der idealen Menschheit hingezogen fühlte, die alle seine Anspielungen auf das englische Leben und die englischen Manieren erklärten.

Matthew Arnold war entzückend in Gesellschaft, voll von den seltsamsten Einfällen und gern bereit, über sich selbst zu lachen. Ich erinnere mich, wie er Oscars Bemerkung über den ersten Roman seiner Nichte, Frau Humphrey Ward, zitierte. Er sagte: »Sie haben die Literatur geliefert, und sie war entschlossen, das Dogma dazu beizutragen.« Arnold lachte wie ein Schuljunge: »Sie ist furchtbar ernst«, sagte er. »Ich frage mich, warum Frauen soviel ernster sind als Männer.«

Arnold hatte kein Verständnis für die französische Poesie. Aber auch als ich über Emerson und Whitman sprach, leugnete er ihre Bedeutung. »Ist denn das Poesie?« fragte er zweifelnd. »Ich kann es nicht glauben.«

»Denken Sie doch an seine ›Bescheidene Biene‹«, rief ich aus. »Dies Gedicht hat doch wirklich die wahre Note.«

»Das hat es wohl, ja«, erwiderte Arnold zögernd. »Aber wir sind alle Dichter in gewissen Augenblicken.«

»Nur in gewissen Augenblicken, würde ich sagen«, antwortete ich, denn er entschlüpfte bloß meiner Fragestellung, aber er schüttelte den Kopf.

»Ich glaube, daß die ›Bescheidene Biene‹ neben Shelleys ›Lerche‹ gestellt werden kann,« fuhr ich fort, »selbstverständlich nicht um der ihr innewohnenden Musik willen, sondern, weil sie gewisse anheimelnde poetische Qualitäten besitzt, die sie eines Tages berühmt und beliebt machen werden. Ich lobe selten eine Sache von Emerson,« fügte ich hinzu, »weil er mit Whitman zankte und die Konvention gegen die dichterische Freiheit verteidigte.«

»Ich bin selbst, fürchte ich, für die Konvention eingetreten«, sagte Arnold. »Die Freiheit in Wort und Schrift kann leicht übertrieben werden, nicht wahr?«

»Ich hasse die englische Prüderie und die englische Heuchelei. Das Leben in England ist wie das Leben in einer englischen Sonntagsschule mit einer altjüngferlichen Lehrerin und einer Atmosphäre tödlicher Langeweile. Sollen wir uns wirklich nie zu der größern Freiheit von Dante, wenn nicht zu der von Goethe durchringen?«

»War Dante je frei in diesem Sinne?« fragte Arnold. – »Und ob,« erwiderte ich, »sein Humor ist manchmal wie die Laune eines kleinen, ungezogenen Knaben, der einem die Zunge herausstreckt, und noch schlimmer.« – »Wirklich?« zweifelte Arnold. »Ich kann mich an nichts Ähnliches bei Dante erinnern.«

»Hier ist eine dieser Stellen, an die ich denke«, und ich zitierte den Schluß des 21. Gesanges der Hölle:

»Per l'argine sinistro volta dienno;
Ma prima avea ciascun la lingua stretta
Co' denti verso lor duca, per cenno:
Ed egli avea de cul fatto trombetta.«
(Und als Trompete er den Steiß gebraucht.)

»Wie seltsam,« lachte Arnold, »ich hatte es nie früher bemerkt. Ich muß darüber hinweggelesen haben. – Goethe war selbstverständlich frei, aber er hat die schlimmsten Dinge im ›Faust‹ mit Sternchen gesetzt, statt sie auszusprechen.«

»Und doch wissen wir von Eckermann,« sagte ich, »daß Goethe gern die unumwundenen Worte anwandte und sogar höchst verfängliche Gedichte und Stücke schrieb.« Arnold war zu englisch in seinem Gefühl, um diesen Handschuh aufzuheben.

Ich versuchte, Arnold dazu zu bringen, etwas für die »Fortnightly Review« zu schreiben, und er schickte mir auch ein Klagelied über einen geliebten Hund, das sich eine Stelle in der englischen Dichtkunst verdient hat. Arnold hatte in der Tat eine außerordentliche Begabung, und ich habe mich immer gegen die Tatsache aufgelehnt, daß die Engländer einen ihrer edelsten Geister als Schulinspektor benutzt haben. Wenn Arnold in der Zeit von seinem dreißigsten bis zu seinem sechzigsten Lebensjahr entsprechend geehrt worden wäre, wenn die Menschen seine Vorlesungen mit Gold aufgewogen hätten, würde er uns zweifellos mehr gegeben haben als unter diesen Umständen. Es bleibt für mich ein unlösbares Rätsel im Leben, warum die Menschen den wirklichen Führern zu ihren Lebzeiten so wenig Liebe und Ehre gewähren. Man hätte Arnold einen Platz unter den Höchsten einräumen sollen, und die klügsten Politiker und Schriftsteller hätten mit Ehrfurcht auf seine Worte lauschen müssen, aber er wurde gering geachtet, und es ist mir noch immer ein Rätsel, wie er sich mitten in der allgemeinen Gleichgültigkeit seinen sonnigen Humor bewahren konnte.

Ich empfand ihn immer an Größe und Gedankenrichtigkeit allen seinen Zeitgenossen überlegen. Es lag in ihm auch eine tiefe Melancholie, obwohl er im Alltagsleben von einem unzerstörbaren Optimismus war. In diesem Punkte, wie auch in mancher andern Hinsicht, war er Anatole France ähnlich. Er hatte wie der Franzose die liebenswürdigsten Manieren, kam jedem auf dem rein menschlichen Niveau entgegen, sprach mit Vorliebe über große Fragen, pflegte jedoch die Barbaren auf die bezauberndste Weise zu necken.

Er liebte es, das Beste in jedem Menschen zu finden und ihre Fehler zu übersehen. Er war der erste, der Oscar Wilde im Gespräch mit mir lobte, und zwar zu einer Zeit, in der man ihn allgemein als exzentrischen Poseur verurteilte. »Er hat eine feinsinnige Intelligenz und ist ein wunderbarer Causeur«, meinte er. Gerade weil ich das Gefühl hatte, daß Matthew Arnold die Idealhöhe des Menschentums erreichte, gerade weil ich ihn so frei von Fehlern und Manieriertheit sah, versuchte ich immer wieder, seine Unzugänglichkeiten zu entdecken. Eines Tages gab ich mir wieder Mühe, die letzte Tiefe seines Gedankens zu sondieren. Ich benutzte seine berühmte Definition: »etwas, was nicht wir selbst sind, das auf den rechten Weg drängt«, um noch mehr aus ihm herauszulocken. Dieses »etwas, was nicht wir selbst sind,« schien mir immer falsch. Das einzige in der Welt, das auf den rechten Weg drängt, ist der Heilige Geist des Menschen.

»Und wie steht es mit Sonnenuntergängen, Blumen und Vogelgesang?« fragte er mit einem seltsamen, halb verschleierten Lächeln. »Und die Musik der Sphären – wollen Sie die auch leugnen?«

Er hatte mich gefangen. Ich konnte nur sein Lächeln erwidern. Und doch lebt ohne Zweifel die Seele des Göttlichen im Menschen und ist in unsern edelsten Geistern am vollkommensten enthalten. Wir sind nicht imstande, das Rätsel der Natur zu lösen, nicht auf den Wänden unserer Zelle finden wir das versöhnende Wort, sondern im Herzen des Menschen, der müde wurde unter »der wuchtenden Last der verheimlichten Welt ...«

Die Überzeugung, daß Matthew Arnold der vollkommenste Künstler war, den ich je traf, hatte sich gerade in mir festgewurzelt, als ich die furchtbare Nachricht bekam, daß er wie sein Vater an einem plötzlichen Herzschlag gestorben war. Er war über einen Zaun oder einen Graben gesprungen, fiel hin und stand nicht mehr auf. Welche Tragödie liegt in diesem frühzeitigen Ende einer so großen und liebenswürdigen Natur.

Je besser ich das Leben in London kennenlernte, desto reicher wurde es für mich. Jedes Essen bei Frau Jeune oder Lady Shrewsbury wurde für mich zum Ereignis. Und wenn ich nun Frau Jeune als Gastgeberin erwähne, darf ich Arthur Walters und seiner Frau nicht vergessen, die von Anfang an zu mir mehr als liebenswürdig waren. Jeden Sommer von 1884 bis 1895 verbrachte ich einige Wochen auf ihrem Landsitz in Finchampstead. Ich versuchte immer wieder, Arthur Walter dazu zu bringen, Parnell mit richtigen Augen zu sehen; aber meine Bemühungen waren vergeblich. Er hatte sich in seine Ansicht, daß ein Parnell ein Revolutionär und irischer Hasser Englands sei, verrannt. Ich empfand jedoch eine gewisse Bewunderung für Parnell.

Das erstemal traf ich Parnell mit Frau Shea bei einem Diner des guten, alten Justin McCarthy. Es muß im Anfang der Beziehungen Parnells zu Frau O'Shea gewesen sein, denn sie saß ihm gegenüber, und er ließ den Blick nicht von ihr. Sie schien mir damals eine lustige, gutaussehende Frau von dreiunddreißig oder fünfunddreißig Jahren, hatte ein hübsches Gesicht und schöne Augen, war sehr lebhaft, sehr gesprächig, mit einem netten, gutgelaunten Lächeln. Hie und da, wenn sie jemanden beschrieb, übertrieb sie, wie es mir schien, mit Absicht ihren irischen Akzent, um ein Kennzeichen um so besser herauszuholen. Sie war offensichtlich eine interessante und kluge Frau, höchst anregend in Gesellschaft. Und während sie sprach, verschlang sie der schweigsame, schöne, harte Mensch ihr gegenüber mit seinen flammenden Augen. Ich erinnere mich, daß ich später lachend zu Justin sagte: »Wenn sie in ihn so verliebt wäre wie er in sie, würde es ein vollkommenes Paar geben!« Aber der gute Justin wollte die Beziehung nicht gelten lassen. »Sie gefällt ihm,« sagte er, »aber das ist bei uns allen der Fall. Sie ist eine interessante Frau.« Bald jedoch waren ihre Beziehungen kein Geheimnis mehr. Man wußte allgemein von ihrer großen Leidenschaft. Parnell war groß und gutgebaut; er schien mir jedoch zu schlank, um kräftig zu sein, aber Frau O'Shea, mit der ich einmal darüber sprach, sagte mir, daß seine bloße physische Kraft sie immer verblüfft hatte. Aber sie ging nicht weiter auf dieses Thema ein.

Parnell hatte in sich das Zeug zu einem großen Menschen, und zwar durch die Größe seines Charakters. Er war jedoch als politischer Führer merkwürdig schlecht informiert und nicht belesen. Ich muß immer wieder auf die Ignoranz der englischen Politiker hinweisen, selbst das Beispiel Bismarcks und das verblüffende Wachstum des modernen Deutschlands war für sie keine genügende Lehre.

Ich empfand immer einen unnormalen Zug in Parnell, obwohl Frau O'Shea kein einziges Mal auf diese Tatsache in den beiden großen Bänden, die sie ihrer Liebesgeschichte widmete, hinweist. Schon sein Aberglauben zeigte meiner Ansicht nach seine geistige Schwäche. Ich erinnere mich, daß ich ihn einmal in sein Haus zum Abendessen begleitete. An der Tür blieb er stehen, trat jedoch nicht hinein. Er murmelte etwas vor sich hin und sagte dann: »Haben Sie etwas dagegen, wenn wir noch eine Weile spazierengehen?« Ich hatte selbstverständlich nichts dagegen, obwohl es etwas spät wurde, aber nachdem wir um den Häuserblock herumgegangen waren, war er noch immer nicht zufrieden, und so schlenderten wir noch eine Weile herum. Als wir wieder am Hause angelangt waren, sagte er mit Befriedigung: »Ich hasse vier und acht, aber wenn mein letzter Schritt der neunte ist, dann bin ich sehr glücklich. Sieben tut's auch, aber neun ist wie ein Symbol des wirklichen Glücks, und ich kann mit Zuversicht eintreten.« Und lachend überschritt er die Schwelle.

Er hatte keine Ahnung von Wirtschaftspolitik und einer eventuellen Abhilfe des irischen Elends. Wenn er je zur Macht in Irland gekommen wäre, hätte er seine Anhänger sicher tief enttäuscht.

In diesen ersten zwei oder drei Jahren in London trat eine Sache von unberechenbarer Bedeutung in mein Leben, und zwar traf mich die Lehre ganz unvermutet. Es hatte sich so eingebürgert, daß ich jeden Sonnabend und Sonntag bei Lord Folkestone frühstückte, und nach dem Frühstück pflegte uns Lady Folkestone im Salon Kaffee servieren zu lassen. Zum Kaffee wurde immer eine hübsche Karaffe mit Kognak, einem ausgezeichneten fine Champagne, gereicht. Eines Tages ging Lord Folkestone nach dem Frühstück zusammen mit mir weg und sagte: »Ich weiß nicht, ob Sie es mir übelnehmen, Frank, aber ich möchte Ihnen etwas sagen, was nur zu Ihrem Guten ist.«

»Selbstverständlich nicht«, erwiderte ich. »Ich kann es mir nicht vorstellen, daß ich etwas übelnehmen könnte, was mir in guter Absicht gesagt wird.«

»Ich freue mich, daß Sie es sagen«, erwiderte er. »Ich bin soviel älter als Sie. Das Leben hat mich manches gelehrt. Aber ich verstehe es noch immer nicht, auf den Busch zu klopfen, und ich will es Ihnen offen heraussagen. Ich habe gestern gesehen, daß Sie fünf oder sechs Gläser Kognak zum Kaffee tranken. Das kann man nicht tun, ohne sich körperlich zu schaden. Die meisten wären von dieser Menge betrunken gewesen. Ihnen war nichts anzumerken. Es wird jedoch sicher seine Wirkung haben. Überlegen Sie sich die Sache, und Sie werden erkennen, daß ich es aus wirklicher Zuneigung für Sie sage.«

»Dessen bin ich sicher«, erwiderte ich, aber nur meine Lippen formten diese Sätze, denn im Innersten war ich tödlich beleidigt und wütend. Etwas später trennten wir uns, und ich ging nach Hause. Ich nahm mir die Sache furchtbar zu Herzen. Es war mir klar, daß es die Güte Lord Folkestones war und seine Sympathie für mich, die ihn zu dieser Warnung getrieben hatte. Aber meine Eitelkeit war so groß, daß es mich tief schmerzte. Bis zum Abend jedoch hatte ich mich zu einer klareren Ansicht durchgerungen. Das beste, was ich tun konnte, war, mir die Warnung zu Herzen zu nehmen. Um zu beweisen, daß ich mich in der Gewalt hatte, mußte ich es nach außen dokumentieren. Ich entschloß mich, ein Jahr lang keinen Tropfen Alkohol zu trinken.

Nach einer Woche erkannte ich, wie recht Lord Folkestone hatte. Meine ganze Lebensansicht veränderte sich. Ich erfaßte manches schneller, als es früher der Fall war, und ich erkannte, daß ich nicht nur begonnen hatte, dicker zu werden, sondern auch fauler und selbstzufriedener.

Ich versuchte, mir mehr Bewegung zu schaffen, und zuerst fiel es mir schwer, fünf englische Meilen in einer Stunde zu gehen oder eine Viertelmeile im Laufschritt ohne üble Konsequenzen zu durchmessen, aber bald begann ich, meine frühere Stärke und Gesundheit wieder zu erlangen. Nach drei oder vier Monaten stellte ich manche Ergebnisse fest, und zwar, daß bei mir das geistige Wohlbefinden und die Schlagfertigkeit des Witzes vom körperlichen Wohlbefinden abhängt. Nach drei Monaten begann ich mit größerer Leichtigkeit zu arbeiten, und so machte ich ein für alle Male dem Trinken ein Ende. Das Fett fiel mir buchstäblich vom Leibe. Ich begann, überall zu gehen, statt zu fahren, und machte am Sonntag lange Spaziergänge an Stelle der faulen Ausflüge im Wagen.

Vor Jahresende sagte ich Lord Folkestone, daß ich ihm mehr als irgendeinem andern Menschen infolge seiner gütigen Warnung verdankte. »Es sind nun elf Monate verflossen,« sagte ich, »und ich habe mich entschlossen, es noch ein Jahr fortzusetzen und keinen Tropfen zu trinken.«

Er war begeistert. »Sie wissen gar nicht, um wieviel besser Sie aussehen«, sagte er. »Wir haben es alle gemerkt, daß Sie Ihre alte Energie und ihre gewohnte Kraft wiedergewonnen haben. Ich bin mehr als froh, aber es war für mich so schwer, es Ihnen zu sagen. Ich hatte eine solche Angst, mir Ihre Freundschaft zu verscherzen.« Ich ergriff seine Hand und küßte sie – es war eine der wenigen Männerhände, die ich in meinem Leben geküßt habe.

Meine ersten Jahre in London waren durch die gelegentlichen Begegnungen mit Oscar Wilde erhellt. Wie ich schon in meinem Buche erzählt habe, wurde ich ihm bei Frau Jeune vorgestellt und war zuerst über das Wohlwollen seiner literarischen und künstlerischen Urteile und dann durch seinen Witz und Humor verblüfft. »Kennen Sie Frank Miles?« fragte er, kurz nachdem wir uns zuerst getroffen hatten. »Wir wohnen zusammen, er ist einer der besten Künstler unserer Zeit.« Und wir mußten uns sofort auf die Suche nach Miles machen, damit ich ihn gleich kennenlernte.

Frank Miles war zu jener Zeit, im Anfang der achtziger Jahre, ein sehr angenehmer, hübscher junger Mensch, der auf jeden einen sympathischen Eindruck machte. Ich suchte die beiden in Chelsea auf und kaufte eine Zeichnung von Lily Langtry, die Miles gemacht hatte und die mir ausnehmend gefiel, derselbe Kopf lebensgroß, einmal im Profil und einmal en face gezeichnet.

Ich weiß nun nicht mehr, wo die Zeichnung geblieben ist. Nach einem oder zwei Jahren fielen mir in ihr Miles' Begrenzungen als Künstler auf. Das Bild war hübsch und gut gezeichnet, aber nichts weiter.

Miles erklärte, daß er Frau Langtry entdeckt und unsterblich gemacht habe, worauf Oscar sofort in tiefem Ernst einfiel: »Eine wichtigere Entdeckung meiner Ansicht nach als die Amerikas. Denn Amerika wurde eigentlich von Kolumbus nicht entdeckt, es ist, soweit ich weiß, seither nachgewiesen worden.« Wir alle lachten. Sein Ton war unwiderstehlich. Der Prinz von Wales, wohl durch die Apotheose der Frau Langtry angezogen, war ein häufiger Besucher in dem Hause in Chelsea. Und Miles bekam Aufträge von jeder hübschen Frau der Gesellschaft mit Einschluß der berühmten Frau Cornwallis West. Es war ein entzückendes Künstlerheim. Oscar und Miles luden mich zum Tee ein, und wir wurden von einem hübschen, sechzehnjährigen Mädel in einer höchst phantastischen Tracht bedient, das sie Fräulein Sally nannten. Sally Higgs wurde bald um ihrer seltenen Schönheit willen berühmt und von Leighton in dem Bild »Tagesträume«, von dem Akademiker Marcus Stone und einer Schar anderer gemalt. Sally war verblüffend hübsch und charmant noch obendrein. Ich habe nachher oft von ihr gehört. Einige Jahre später heiratete sie einen Knaben, der gerade aus Eton kam, den Sohn eines reichen Mannes. Der Vater schickte den Knaben nach den Vereinigten Staaten und gab Sally als Trostgeld zwei Pfund die Woche. Aber sie fand bald einen reichen Gönner und hatte wohl nie pekuniäre Schwierigkeiten in ihrem ganzen sonnigen Leben. Sally war eine geborene Bohemienne und ließ sich nicht durch irgendwelche sogenannte Moralskrupeln in ihrer lustigen, sorglosen Art stören. Sie versicherte mir, daß Miles nur ihr hübsches Gesicht gefiel, und »Herr Wilde sagt mir lauter Artigkeiten, ist ein vollkommener Gentleman, aber das ist auch alles«.

Miles war der Sohn eines Domherrn und Landesrektors, der ihm eine gute Rente aussetzte und auch zuerst seine Beziehungen zu Oscar Wilde billigte, bis ihn das Gerücht von Oscar Wildes Neigungen erreichte, mit seinem ersten Gedichtbuch, das die Zweifel des Domherrn bestätigte. Er bestand auf der Trennung der beiden Freunde. »Mein Sohn darf nicht angesteckt werden.« So schwer es ihm auch fiel, mußte Miles Oscar den Entschluß seines Vaters mitteilen. Wilde wurde fast verrückt vor Wut. »Soll das heißen, daß wir uns nach Jahren trennen sollen, weil dein Vater ein Narr ist?« Miles konnte nur wiederholen, daß ihm keine andere Alternative blieb, und Oscar erwiderte: »Also gut, ich werde dann sofort das Haus verlassen und rede kein Wort mehr mit dir!« Er ging nach oben, packte seine Sachen und verließ das Haus. Er hatte einen unbeugsamen Stolz. Sally erzählte mir, daß er nie mehr zurückkam, und fast sofort verflüchtigte sich auch Miles mondäner Ruhm. Ich traf ihn von Zeit zu Zeit in London, aber er verschwand schnell aus dem gesellschaftlichen Umkreise, und nach Jahren hörte ich mit Entsetzen, daß er den Verstand verloren hatte und in einem Irrenhause geendet habe. Als ich es Oscar erzählte, merkte ich, daß er die Kränkung noch nicht überwunden hatte. »Er hatte keinen Verstand zu verlieren, Frank,« sagte er, »er war eine frühe Schöpfung von mir wie Lily Langtry. Und diese Geschöpfe verschwinden aus unserem Leben, sobald man sie durchgesetzt hat.« Ich hatte immer eine Schwäche für Sally gehabt, obwohl ich das Gefühl nie los wurde, daß Miles ihr etwas mehr als ein guter Freund war und sie vor mir geschützt hatte.

Es war seine Fähigkeit des enthusiastischen Lobes, die Oscar Wilde in diesen ersten Jahren auszeichnete und ihm seinen Ruf sicherte, wie ich es in meiner Biographie erzählte. Frau Langtry hatte ich in Brighton getroffen und ihr auf der Eisbahn der West Street Schlittschuhlaufen beigebracht, ohne eine Ahnung zu haben, daß sie ein Jahr später London als Schönheit ohnegleichen beherrschen würde. Oscar und Miles hatten sie entdeckt, es war jedoch die Bewunderung des Prinzen von Wales, die ihr Stellung und Ruf sicherte.

Oscars besondere Gabe war sein Humor, der sich bei jeder Gelegenheit dokumentierte. So oft ich jemandem begegnete, der Oscar zu irgendeiner Zeit seines Lebens gekannt hatte, war ich sicher, eine neue Geschichte zu hören – irgendeinen seiner komischen oder witzigen Aussprüche.

Vor einiger Zeit begegnete ich einem Mann, der Oscar in Newyork, nach seiner ersten Vorlesungstour, getroffen hatte. Er sagte ihm, er hoffe, es sei ein Erfolg gewesen, und Oscar erwiderte ihm ernst, jedoch mit tanzenden Augen:

»Ein großer Erfolg! Mein Lieber, ich hatte zwei Sekretäre, den einen, um meine Briefe zu beantworten, den andern, um die Haarlocken an meine Bewunderer zu schicken. Ich mußte die beiden armen Kerle entlassen. Der eine liegt im Spital mit einem Schreibkrampf, der andere ist ganz kahl geworden.«

Ich fuhr mit Oscar einmal nach Whitechapel in die Vorlesung von Matthew Arnold über Watts' Bild: »Leben, Tod und Urteil.«

»Was die Engländer doch für Puritaner sind!« sagte Oscar, als wir weggingen. »Diese Last, die Arnold mit sich herumträgt!

›Ich schlief und träumte: Leben ist Schönheit und Licht,
Ich erwachte und fand: Leben ist Pflicht.‹

Und doch ist er ein richtiger Dichter, Frank, ein englischer Heiliger mit Backenbart.« Es war unwiderstehlich komisch. Ein andermal gingen wir in die Vorlesung von Walter Pater. Er sprach wunderbar; von Zeit zu Zeit jedoch verfiel er in einen leisen Gesprächston. »Lauter, lauter, man kann nichts hören!« scholl es immer wieder durch den Saal.

Schließlich hatte er geendet und ging mit uns zusammen weg. Wir lobten selbstverständlich seinen Vortrag in alle Himmel; und er war wirklich von Anfang bis Ende hervorragend, sehr durchdacht und ausgezeichnet geformt. Aber Pater war durch die häufigen Zwischenrufe beunruhigt. »Ich fürchte, daß man mich nicht gut gehört hat«, sagte er und versuchte sich zu entschuldigen. Wir beruhigten ihn, aber er kam immer wieder auf diesen Punkt zurück. »Hat man mich auch gehört?«

»Hie und da überhört,« erwiderte Oscar lachend, »aber es war ungeheuer interessant.« – »Hie und da überhört« war sicherlich die witzigste und bezauberndste Bezeichnung, die man sich vorstellen konnte.

Ich wurde oft gebeten, Oscars Humor mit dem Shaws zu vergleichen. Im Gespräch habe ich Shaw nie witzig gefunden. Eben die Schlagfertigkeit war etwas so Außergewöhnliches an Oscars Humor, und seine spontane Art machte seinen Zauber in Gesellschaft aus. Shaws Humor entspringt dem gedanklichen und dem intellektuellen Gesichtswinkel, aus dem er die Dinge sieht, und wirkt wie ein trockenes Licht, das unsere menschlichen Schwächen heraustastet.

Wenn man irgend jemanden enthusiastisch oder übertrieben lobte, wurde Oscars Humor beträchtlich schärfer. Ich erinnere mich, wie ich einmal ein Buch von Shaw pries und hinzufügte: »Das Seltsame an diesem Menschen ist, daß er keine Feinde zu haben scheint.«

»Er ist noch nicht prominent genug dazu, Frank«, sagte Oscar. »Die Feinde kommen mit dem Erfolg. Aber du mußt doch zugeben, daß keiner seiner Freunde ihn liebt.« Und er lachte in seiner bezaubernden Weise. Oh, diese Londoner Tage, in denen eine Begegnung mit Wilde wie Sonnenschein mitten im Nebel wirkte!

Ich hatte Erfolg in meiner Tätigkeit, und zwar, wie ich gestehen muß, durch diesen Spielinstinkt, der so mächtig in England ist. Ich hatte bald herausgefunden, daß das Londoner Publikum, das die Resultate dieses oder jenes großen Rennens wissen wollte, sich leichter gewinnen ließ als jedes andere. So wurde ich gezwungen, mich mit dem Sport zu befassen, der wenig Interesse für einen so furchtbar kurzsichtigen Menschen wie mich hatte. Als ich mich mit dem Rennen zu befassen begann, merkte ich, daß die Startwetten den wichtigsten Faktor beim Wetten bildeten. Ich hörte einmal, wohl im Jahre 1885 oder 1886, daß eine große Debatte über die Startwetten entstanden war. Eines Morgens veröffentlichte »The Sporting Life« eine Preiskolonne, und am nächsten Tage erschien in »The Sportsman« eine andere, gänzlich verschiedene. Ich suchte sofort den Herausgeber auf und erbot mich, seine Startwetten in einer besonderen Ausgabe der »Evening News« um elf oder zwölf Uhr morgens unter Bezugnahme auf sein Blatt zu veröffentlichen. Der Name des Blattes sollte über den Zahlen stehen. Aber dafür müßte er mir die Wetten ziemlich früh zukommen lassen. Er ging sofort darauf ein und begann noch obendrein die »Evening News« über den grünen Klee zu loben. Ich eilte darauf sofort zum Konkurrenzblatt und brachte auch den Herausgeber dazu, mir die Startwetten so früh wie möglich unter denselben Bedingungen zukommen, zu lassen. Mit beiden Herausgebern unterschrieb ich einen Vertrag auf zwei oder drei Jahre.

Am nächsten Morgen, als die Frühausgabe der »Evening News« mit den beiden Reihen der Startwetten erschien, blieb ich über den Wert meiner Nachrichten nicht lange im Zweifel. Statt drei- oder viertausend Exemplare zu verkaufen, wurden wir zwanzigtausend los, und in einer Woche wurde diese Erstausgabe viel mehr verkauft als alle Ausgaben zusammen, und auch die Inserate verdoppelten sich innerhalb eines Monats. Ich sah, daß man mit guten Maschinen sogar einen Ertrag aus dem Blatte herausholen könnte, und zwar einen ganz beträchtlichen. Aber woher sollte ich die fünfzehn- oder zwanzigtausend Pfund nehmen, um die Zeitung mit modernen Maschinen auszustatten?

Um diese Zeit oder etwas später hatte ich ein interessantes Erlebnis. Ein junger Mann kam aus Birmingham mit der Idee, ein Halbpenny-Morgenblatt zu gründen. Er war im Besitz von nur fünftausend Pfund, aber er glaubte, es würde genug sein, und so kam er zu mir, um mit mir die Bedingungen für den Druck und die Herausgabe des Blattes zu besprechen. Der Überschlag, den ich ihm machte, war bei weitem der billigste. Er hatte Angst, ich würde den Preis vielleicht später in die Höhe schrauben. Ich war sehr interessiert und sagte, ich hätte schon daran gedacht, eine Morgenausgabe der »Evening News« zu bringen. Ich besprach die Sache mit ihm, und er war Feuer und Flamme für meine Idee, aus jeder Nachricht eine Geschichte auf amerikanische Art zu machen, und schließlich fragte er mich, ob ich ihm bei der Herausgabe und Redaktion helfen würde. Ich ging gern darauf ein, machte ihn jedoch darauf aufmerksam, daß fünftausend Pfund meiner Ansicht nach uns nicht sehr weit bringen würden. Er sagte, daß er nur zwei Monate brauchte, und wenn er nach dieser Zeit einen Umlauf von 50 000 erreichen würde, könnte er weitere 50 000 Pfund für die Unternehmung in Birmingham bekommen. »Gut,« meinte ich, »wenn Sie das Geld dafür bekommen können, werden wir auch die Zirkulation von 50 000 in drei Monaten erreichen. Und so wurde die »Morning Mail« gegründet. Innerhalb von zwei Monaten hatten wir einen Umlauf von 50 000.

Wir hatten bereits von den »Times« einen Brief bekommen, in dem sie uns mitteilten, daß die »Morning Mail« das Copyright ihrer eigenen Wochenausgabe, genannt »The Mail«, verletze und sie uns auf Schadenersatz von 20 000 Pfund gerichtlich verklagen würden. Ich schickte meinen Freund nach Birmingham und suchte selbst den Arthur Walter von den »Times« auf. Ich sagte ihm, die ganze Klage sei lächerlich, ein Halbpennyblatt in London hätte weder das Format noch das Aussehen der Wochenausgabe der »Times«, die sie »The Mail« nannten. Arthur Walter antwortete mir, er stimme mir zu, aber sein Vater hätte sich sehr über die Sache geärgert, und er könne da nichts machen. Eine Woche später kam mein Freund aus Birmingham zurück und sagte mir, daß er infolge der Klage der »Times« kein Geld mehr bekäme und daher gezwungen sei, das Blatt aufzugeben, falls ich es nicht finanzieren könnte.

Ich sprach mit Lord Folkestone darüber und überzeugte ihn bald, daß ein Halbpennymorgenblatt alle Pennyzeitungen aus dem Felde schlagen müßte. Erfolg und großes Vermögen lagen vor mir, boten sich uns sozusagen an. Er entflammte sich für die Idee eines konservativen Halbpennymorgenblattes, das vielleicht einen Millionenumlauf erreichen und so einflußreich werden könnte wie die »Times«. Er wollte mit Lord Salisbury darüber sprechen. Aber mit der ihm angeborenen Loyalität glaubte er sich verpflichtet, den Plan zuerst Coleridge Kennard zu unterbreiten. Ich setzte mich daher mit Kennard in Verbindung.

Kennard hatte einen Sohn Hugo, der damals bei der Garde diente. Hugo fragte mich eines Abends im Vertrauen, ob die »Evening News« einen pekuniären Erfolg bringen könnte oder nicht. Ich bejahte, fügte jedoch hinzu, daß dazu mindestens noch ein Jahr nötig sei. Er war beruhigt, aber sein Vater war viel mißtrauischer. Er sagte, ihm läge nicht am Verdienst, er wollte nur den Verlusten ein Ende machen. »Es kostet eine schwere Summe Geld«, sagte er zu Lord Folkestone; »und Ihre Erwartungen scheinen sich nicht zu verwirklichen.« Er sagte mir einmal, daß seine Hoffnung darauf gerichtet sei, Baronet zu werden. »Ich will es nicht für mich haben,« sagte er, »aber ich denke an meinen Sohn. Und ich habe bereits siebzigtausend Pfund ausgegeben, um es zu werden, obwohl man mir im Anfang gesagt hat, daß vierzigtausend mehr als genug sein werden.« Auf diese Weise erfuhr ich zum ersten Male, daß jeder Titel seinen Preis hatte.

Kennard haßte die »Morning Mail« und wollte von den 20 000 für die neuen Maschinen nichts hören. Ich bat daher Folkestone, zu Lord Salisbury, dem Führer der konservativen Partei, zu gehen und ihm die Sache zu unterbreiten oder eine Zusammenkunft zwischen mir und ihm zu veranstalten. Ein oder zwei Tage später ließ mich Lord Salisbury holen, und ich sprach mit ihm länger als eine Stunde. Es war für mich offensichtlich, daß die »Times« bald ihren Preis von drei Penny auf einen oder sogar einen halben Penny würde heruntersetzen müssen. Ich zeigte ihm an Hand der Zahlen, daß mich nur der Mangel an Maschinen daran hinderte, eine Zirkulation von hunderttausend in einem Monat zu erreichen. Er war sehr interessiert und forschte mich aus. In seiner Jugend war er arm gewesen, und selbst nach seiner Heirat verdiente er sich sein Geld als Journalist bei der »Saturday Review«, und dieser vitalen Disziplin verdankte er seinen Aufstieg. Aber als ich ihm von meinen Erfahrungen bei der Gründung der »Morning Mail« erzählte und ihm versicherte, ich könnte innerhalb von sechs Monaten einen Umlauf von einer Million bekommen und eine Viertelmillion jährlich aus der Zeitung herausholen, sagte er mir, meine Begeisterung ließe mich die Dinge in gewisser Verkürzung sehen. Er glaubte, es brauchte Jahre, um eine Zirkulation von einer Million zu erreichen. Er war jedoch gern bereit, mir zu helfen. Er wollte die Einpeitscher bitten, eine Versammlung der konservativen Partei im Carlton-Club zusammenzurufen, in der ich sprechen sollte, und wenn ich dort den erforderlichen Vorschuß von fünfzehn- oder zwanzigtausend Pfund bekäme, würde er sich sehr freuen. Er fügte am Schluß unserer Unterredung hinzu: »Ich will das Projekt mit allen meinen Kräften unterstützen. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, daß Sie Erfolg haben werden.«

Bald ließen mich die Einpeitscher wissen, daß die Versammlung zusammenberufen war, und ich sprach im Carlton-Club zu den dreihundert Mitgliedern der konservativen Partei. Sie zeichneten auch sofort ihre Anteile, aber es kamen nicht mehr als 5000 Pfund zusammen. Darauf stand ich auf und sagte: »Das erledigt die Sache für mich. Ich habe keine Lust, die Maschine ohne Kohlen zu heizen. Aber innerhalb von zehn Jahren wird mancher von Ihnen sehr traurig sein, daß er nicht in das erste Halbpennyblatt, das man Ihnen vorschlug, Geld hineingesteckt hat. Wenn Sie in ungefähr zwanzig Jahren ein Halbpennyblatt finden, das einflußreicher als die »Times« ist und jährlich eine halbe Million einbringt, werden Sie sich fragen, warum Sie nicht wenigstens den Versuch einer Gründung gemacht haben.« Ein oder zwei Leute jubelten mir zu. Aber ich war angeekelt von dem Gedanken, daß ich den Preis so niedrig wie möglich gestellt hatte und kaum mehr als ein Viertel der erforderlichen Summe bekam.

Der erste Einpeitscher kam auf mich zu und sagte: »Sie hätten das Geld nehmen und in sechs Monaten nochmals kommen und einen weiteren Zuschuß verlangen sollen. – Sie hätten ihn ohne weiteres bekommen. Warum wollen Sie denn die Flinte ins Korn werfen?«

»Ich bin an einem Kreuzweg angelangt«, erwiderte ich. »Ich wollte mich mit allen Kräften der Arbeit widmen. Aber sie so verkrüppelt mit einigen tausend Pfund zu beginnen, zu bitten und zu betteln, Offensichtliches zu erklären und Bewiesenes zu beweisen, reizt mich nicht. Ich gebe das Spiel lieber auf. Ich nehme einen sechsmonatlichen Urlaub und gehe nach Rom.«

Während ich mit dem Einpeitscher sprach, kam ein sehr großer Mann auf mich zu und sagte: »Sie haben mich sehr interessiert. Ich heiße Henniker Heaton. Ich habe mein Geld bei einer Zeitung in Sidney verdient. Ich möchte mich gern mal mit Ihnen geschäftlich unterhalten.« – »Mit Vergnügen,« erwiderte ich, »aber es muß sehr bald sein; denn ich gehe nach Rom, wenn ich die zwanzigtausend Pfund nicht bekomme.« Er kam zu mir, und ich hatte ihn beinah überzeugt. Er wollte sich die Sache jedoch überlegen, und ich ließ ihm keine Zeit dazu. Immer wieder bot mir Walter von der »Times« eine Stellung an seinem Blatt an, aber ich hatte drei Jahre schwerer Arbeit hinter mir und war dabei intellektuell kaum gewachsen. Ich brauchte eine neue, geistige Nahrung, wollte Rom kennenlernen, Ranke und Mommsen lesen und an meiner Entwicklung arbeiten, denn Reisen und Lesen waren bereits das tägliche Brot meines Geistes.

Überlegungen dieser Art kamen Henniker Heaton unsagbar lächerlich vor. Er hielt Geldverdienen und Streben nach Stellung für das einzige auf der Welt. Und in dem Moment, da ich das feststellte, hatte ich das Interesse an ihm verloren. Ich suchte Lord Folkestone auf, und nach einem Gespräch mit ihm berief ich eine Versammlung der Direktoren der »Evening News« zusammen, bekam einen viermonatigen Urlaub und fuhr nach Rom ab. Es war ein schwerer Fehler, den ich beging. Ich war in London zu leicht zu Erfolg gekommen. Ich hätte den Rat des Einpeitschers befolgen und die Zeitung fortführen sollen. Ich hätte schon das Geld zusammenbekommen und mit der »Morning Mail« den Erfolg errungen, den die »Daily Mail« später hatte. Meine Zukunft wäre auf der sicheren Basis eines Einkommens von hunderttausend Pfund gegründet gewesen. Aber ich hatte mich mit einer solchen Leichtigkeit durchgesetzt, daß ich mich weder um Geld noch um die Macht, die das Geld gibt, kümmerte. Und so ging ich ohne weiteres in die herrlichsten Ferien nach Rom. Nicht nur meine Beziehungen zu der »Morning Mail« nahmen dadurch ein Ende, sondern auch die zu den »Evening News«, wie ich noch im weiteren Verlauf erzählen werde.

Im Jahre 1887 besuchte mich ein kleiner Jude namens Leopold Graham im Bureau der »Evening News«. Er erzählte mir, daß er mit Douglas Macrae bei den »Financial Times« arbeitete und dort Horatio Bottomley getroffen hätte, den er als einen der größten Schurken der Londoner City bezeichnete. Als ich Bottomley durch Douglas Macrae kennenlernte, machte er auf mich einen viel stärkeren Eindruck als irgendein anderer Journalist. Er war etwas kleiner als ich, doch sehr breit und schon mit siebenundzwanzig Jahren ziemlich dick. Er hatte einen sehr großen Kopf mit mächtiger Stirn, schwerem Kinn und kleinen grauen Augen. Das Besondere an seinem Gesicht war eine unverhältnismäßig lange Oberlippe. Er war glatt rasiert, und seine ungeheure Oberlippe erinnerte mich an den Riesen Bradlaugh. Als ich die Tatsache später Graham gegenüber erwähnte, erwiderte er sofort: »Manche sagen, daß er der uneheliche Sohn Bradlaughs sei. Er hat jedenfalls die tiefste Achtung und Liebe für ihn und hält ihn für einen der größten Menschen seiner Zeit.« – »Er irrt sich auch nicht«, bemerkte ich. In jenen Tagen war ich mit meiner eigenen Arbeit bei den »Evening News« zu sehr beschäftigt, um mich für den finanziellen Journalismus zu interessieren, und es verging eine Zeit, bevor ich die Leute etwas näher kennenlernte.

Im Jahre 1888 oder 1889 erzählte mir Graham, daß Bottomley die Hansard Union gekauft habe, um eine große Gesellschaft zu gründen. Es war allgemein bekannt, daß Hansard die Parlamentsdebatten veröffentlichte, und ich war, wie die meisten Menschen, der Meinung, daß es sich hier um eine offizielle Stelle handeln müsse. Zu meiner Verblüffung hörte ich, daß Hansard bloß eine Verlegerfirma sei, mit der das Parlament den Vertrag zur Veröffentlichung des vollständigen Berichtes seiner Debatten abgeschlossen hatte. Graham setzte mir auseinander, daß eine große Gesellschaft mit diesem bekannten Namen begeistert von dem investierenden Publikum unterstützt werden würde. Eines Tages suchte mich Graham zusammen mit Bottomley auf. Wir aßen im Café Royal, und Bottomley erzählte mir sofort von dem Erfolg der Hansard Union, den er für gesichert hielt, und fragte mich unumwunden, ob ich ihm nicht Lord Folkestone und Coleridge Kennard als Direktoren verschaffen könnte. Ich wollte es mir überlegen. Er fügte ohne jede Scheu hinzu: »Verschaffen Sie mir diese beiden Namen, und ich gebe Ihnen einen Scheck auf 10 000 Pfund.«

»Eine große Summe,« meinte ich, »und ich liebe hohe Zahlen. Aber sagen Sie mir, was Sie für die Gesellschaften gezahlt haben, die Sie jetzt fusionieren wollen, und wie hoch die Kapitalisation ist.« Ohne zu zögern gab er mir mit verblüffender Genauigkeit die Zahlen. Ich schrieb Sie mir auf und bemerkte: »Also die Sache läuft darauf hinaus, daß Sie die Geschäfte für 200 000 Pfund gekauft haben und sie der Gesellschaft für eine Million verkaufen.«

»Es mag noch eine Viertelmillion Obligationen hinzukommen«, meinte er kühl. Er fügte selbstverständlich die Viertelmillion hinzu, was ihm schon allein einen ungeheuren Gewinn sicherte. Am nächsten Tage unterbreitete ich die Sache Lord Folkestone. »Wenn Sie mir dazu raten, will ich es tun, Frank«, meinte er. Ich sagte ihm, daß die Unternehmung meiner Ansicht nach überkapitalisiert sei und mit einem Mißerfolg enden müsse. »Das entscheidet die Sache für mich, Frank,« meinte er, »aber sagen Sie mir, was Coleridge Kennard dazu meint.« Als ich es Coleridge Kennard auseinandersetzte, meinte er, die Kapitalisierung habe nichts damit zu tun. Man verkauft allgemein, soweit es geht, mit einem Profit. Ich verschaffte Bottomley den Namen von Coleridge Kennard, nahm jedoch keinen Pfennig dafür.

Nach einigen Jahren verwirklichte sich meine Prophezeiung. Zuerst zahlten die fusionierten Gesellschaften große Dividenden, wenn ich mich recht erinnere, zwei im ersten Jahre, und dann bankrottierte die ganze Sache, und die Menschen sprachen allgemein vom »Bottomleyschwindel«. Der Mißerfolg trat zu früh ein, der Ruin war zu groß. Die Geschäftsleute waren entrüstet. Bald kam die ganze Sache vors Gericht. Bottomley wurde zum Hauptereignis des Tages. Ich wohnte der Verhandlung bei, und habe mich nie in meinem Leben so köstlich amüsiert. Die Verhandlung wurde vom Richter Hawkins geführt, der allgemein als der »Hängerichter« bekannt war und sicherlich als der strengste Richter des letzten, halben Jahrhunderts in London galt. Welche Chance hatte Bottomley vor einem solchen Tribunal? Ich sollte es erfahren, was ein Kopf bedeutet.

Zuerst stand die Sache für Bottomley sehr schlecht. Es war ganz klar, daß die Gesellschaften überkapitalisiert waren und Hunderttausende von Pfunden in Bottomleys Tasche geflossen sein mußten. Aber als er aufstand, um vor dem Gericht zu sprechen, wurde alles unwesentlich. Von Anfang an packte er genial den Stier bei den Hörnern. »Ich bin froh, von Herzen froh, daß ich vor Herrn Richter Hawkins gekommen bin. Er hat den Namen eines strengen Richters, aber seine Fähigkeit wurde nie angezweifelt. Und es ist seine Fähigkeit, auf die ich mich in der Stunde der Not verlasse, seine Einsicht, die ihm ermöglichen wird, der ganzen komplizierten Sache auf den Grund zu gehen.«

Von solchen Komplimenten aus ging er auf eine detaillierte Geschichte des Ankaufes der verschiedenen Gesellschaften. Sooft er von dem Ankauf einer neuen Gesellschaft erzählte, lenkte er die Aufmerksamkeit des Richters auf die Tatsache, daß, obwohl der Preis hoch scheinen möge, dieses neue Geschäft dazu diente, das umfassendere Gebilde, das er im Sinne hatte, zu vervollständigen und zu stützen. »Ich will Ihnen die Idee ganz klarmachen, Mylord«, war die Quintessenz dieser langen, ruhigen und eminent überzeugenden Exposition. Seine Offenheit war ebenso wunderbar wie seine detaillierten Kenntnisse. Bevor er geendet hatte, waren sogar die Juristen im Gerichtssaal begeistert. Ein königlicher Rat sagte: »Ich habe nie eine so vollkommene Darstellung gehört.« Alle hatten vergessen, daß Bottomley monatelang jedes Geschäft studiert hatte, das er beschrieb. Es war nichts Verblüffendes dabei, mit Ausnahme der unumwundenen Komplimente, mit denen er den Richter zu passender und unpassender Zeit überschüttete. Lange vor dem Ende der Verhandlung hatte er den strengsten Richter des ganzen Standes zu seinem Verteidiger und Helfer bekehrt. Bottomley trat nicht nur als Sieger aus der Verhandlung hervor, sondern machte auch den Richter zu seinem persönlichen Freund, der ebenso stark an seine Geschicklichkeit wie an seine Integrität glaubte. Etwas später schenkte Hawkins Bottomley die Perücke und den Talar, die er sein Leben lang getragen hatte. Der ganze Vorfall ist einzigartig in der Geschichte der englischen Prozeßführung und zeigt am besten Bottomleys erstaunliche Klugheit. Er war ohne Zweifel ein Genie.

Aber dem starken Licht entsprachen die schweren Schatten. Wenn er die fusionierten Geschäfte fünf Jahre länger geführt hätte, würde er vielleicht die halbe Million verdient haben, die er durch die Fusionierung gewann. Aber die Tatsache, daß er seinen Wechselbalg sofort verleugnete, sobald er das Tageslicht erblickte, zeigte meiner Ansicht nach die zynische Verachtung für die öffentliche Meinung und alles, was nicht Geld war. Außerdem legte seine lange Rede bei der Verhandlung seine grammatikalische Ignoranz und seinen Cockney-Akzent, der die H's verschluckte, bloß, was bei einem so fähigen Menschen verblüffte. Wenn Bottomley für einige Jahre nach Deutschland oder Frankreich gegangen wäre, um dort ernsthaft zu studieren, wäre er zu einem Meister und Führer der neuen Zeit geworden. Aber seine Ignoranz hielt seine Fähigkeiten auf einem niedrigen Niveau und ließ ihn nur an die unteren Schichten appellieren.

Er war nicht unwissender als Lord Randolph Churchill. Aber Lord Churchill verschluckte nicht seine H's, und wenn er es getan hätte, würden die Engländer es bei dem Sohn eines Herzogs für eine liebenswürdige Exzentrizität gehalten haben.

Was war das Kennzeichen Bottomleys? – Man brauchte sich nur diese kurze, gedrungene Gestalt, den schweren Kiefer und das Doppelkinn anzusehen – sicherlich Begierde! Er war nach allen sinnlichen Freuden gierig, ungeheuer gierig! Schon mit dreißig Jahren aß und trank er zu viel. Wenn man ihn bei Romano mit einigen seiner Freunde, meist von ihm abhängigen Menschen, essen sah, eine hübsche Choristin auf der einen Seite und eine andere Sirene gegenüber, während der Kellner die vierte oder fünfte Flasche Sekt entkorkte, sah man den Mann, wie er leibte und lebte. Er war auch zu machtgierig und dabei eitel wie ein Pfau. Er wollte immer eine Zeitung zu seiner Verfügung haben, und von dem halben Dutzend, das ihm gehörte, hatte nur die eine, »John Bull«, einen Erfolg und nur durch den blinden Patriotismus, den der Weltkrieg entfesselte.

Er wurde ins Parlament gewählt, und ich erinnere mich, daß er mir einmal in einem Augenblick der Mitteilsamkeit sagte, er hoffte, Schatzkanzler zu werden. Rhodes machte mir etwas später dasselbe Geständnis. Und doch hatte Rhodes eine bei weitem größere Chance als Bottomley, denn er stützte sich auf ein großes Vermögen; und obwohl er fast ebenso unwissend war wie Bottomley, verschluckte er nicht seine H's und hatte auch alle äußeren Kennzeichen einer besseren Erziehung. Ich sagte Rhodes, er würde kaum Erfolg haben, und verheimlichte es auch Bottomley nicht, daß er nicht die geringste Chance besaß. »Es gibt mindestens ein halbes Dutzend wirklich fähiger Menschen im Unterhaus,« sagte ich, »und zwar so fähig, daß Sie sich mit Ihnen vergleichen können. Hicks Beach zum Beispiel ist ein Mensch von großer Charakterstärke und hat außerdem noch einen Hauch von Genie. Balfour besitzt einen außergewöhnlichen persönlichen Zauber und ist außerdem sehr belesen. Auch Chamberlain hat viel wirkliche Fähigkeiten und ein großes, mit achtbaren Mitteln erworbenes Vermögen. Diese drei werden mit einem wilden, ungerechten Antagonismus gegen Sie kämpfen, denn sie sehen die Preise des politischen Lebens als ihre eigene Apanage an. Auf der andern Seite haben Sie Gladstone, der im Herzen ein Aristokrat ist, Dilke, Parnell und die andern, die sich alle auf Sie werfen werden, denn sie machen sich nichts aus ihrem demokratischen Evangelium oder ihrem persönlichen Ehrgeiz. Dann gibt es noch John Burns und Cunninghame Graham, die Sie wegen Ihrer Gleichgültigkeit für ideale Fragen hassen werden. Die Führer aller Parteien werden Ihnen die kalte Schulter zuwenden, und es scheint mir unmöglich, von Ihrer Lage aus auf die Spitze zu gelangen.«

»Glauben Sie, daß Sie es fertigbrächten?«

»Mir steht weniger im Wege«, erwiderte ich. »Aber ich beginne zu zweifeln, ob ich die treibende Kraft des Verlangens in mir habe.«

»Die habe ich«, sagte er lächelnd, und als er seine schweren Kiefer zusammenpreßte, mußte ich ihm zustimmen.


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