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Kapitel XIII.
Erinnerungen an John Ruskin

Ich hatte nie jemanden in meinem Leben getroffen, dessen äußere Erscheinung mich mehr enttäuscht hätte als die Ruskins. Ehe ich ihm begegnet bin, hatte ich immer geglaubt, daß ein Mann von großer Fähigkeit in irgendeinem Zuge sein Genie verraten müsse. Aber ich habe in Ruskins Gesicht und Gestalt auch nicht eine Andeutung seines ungewöhnlichen Talentes finden können. Sein Äußeres war nicht einmal einnehmend. Er sah zusammengesunken und eingeschrumpft aus. Obwohl er vielleicht fünf Fuß acht oder neun maß, war er zerbrechlich zart und gebückt. Trotz der vorspringenden Adlernase war sein Gesicht zu schmal, zu knochig dürr und verrunzelt. Das graue Haar, das einmal rötlich gewesen sein muß, war sorgfältig zurückgebürstet, Bart und Koteletten waren ebenfalls weiß, dünn und schütter. Die Augen waren hell graublau, manchmal schossen schnelle Blicke hervor, dann wurden sie ganz versonnen unter dem buschigen Augenbrauendach. Die hohe Adlernase wurde durch das etwas zurückweichende Kinn hervorgehoben. Er sah wie ein alter, unglücklicher Vogel aus. Nichts in seinem Gesicht oder seiner Gestalt war anziehend oder eindrucksvoll. Selbst seine Anzüge waren altmodisch. Er trug einen dunkelblauen, langen Gehrock und eine sehr helle, blaue Krawatte. Seine Manieren waren scheu, selbstbewußt, unsicher. Ich war so enttäuscht, daß ich an seinen Fähigkeiten zu zweifeln begann. Aber sobald er sich beim Reden erhitzte, trug mich seine Stimme hinweg, ein dünner, hoher, unwiderstehlich ergreifender Tenor. Sie wimmerte oft und fluchte manchmal, war aber immer von einer ungeheuren Intensität. Die Seele dieses Menschen lag in der seltsamen Stimme mit ihrer edlen Rhetorik und der leidenschaftslosen ethischen Anrufung.

Ich wußte selbstverständlich schon eine ganze Menge von ihm, bevor ich ihn traf, wußte, daß er ein großer Freund Carlyles gewesen war, wußte, daß er vielleicht der ungewöhnlichste Meister der englischen Prosa seit Sir Thomas Browne war.

Ich traf ihn zuerst, wenn ich mich nicht irre, bei der Baronin Burdett Coutts im Piccadilly. Jedenfalls hatte die Betreffende, die mich vorstellte, Ruskin gesagt, daß ich ein großer Verehrer von Carlyle war und daß Carlyle geäußert habe, er erwarte noch Bemerkenswertes von mir. Diese Empfehlung Carlyles hat offensichtlich Ruskin beeinflußt, der mich von Anfang an mit streichelnder Güte behandelte.

Auf seinen Wunsch hin besuchte ich ihn, ich glaube, in Morleys Hotel in Trafalgar Square. Es war wohl im Jahre 1886. Aber es mag auch ein Jahr früher oder später gewesen sein. Ich besitze nur abgerissene Notizen über unsere Gespräche. Zuerst sprachen wir über Carlyle, und ich fand, daß Ruskin ihn mindestens so glühend verehrte wie ich. In der ersten Gesprächspause sagte ich ihm, daß sein Aufsatz über die Kirche von Calais mir die beste Schilderung in englischer Sprache schiene, selbst der Carlyleschen Beschreibung der landschaftlichen Szenerie vor der Schlacht von Dunbar überlegen. »Ich möchte so gern wissen,« sagte ich, »wie Sie so früh zu einer solchen Beherrschung des Stils gelangt sind.«

»Dichter und phantasiereiche Schriftsteller sind gewöhnlich frühreif, nicht wahr?« begann er mit einer herzgewinnenden Höflichkeit und stellte mich durch diese Frage trotz des Unterschiedes in Alter und Stellung sofort auf sein eigenes Niveau. Wir sprachen eine Zeitlang über dieses Thema, aber plötzlich verblüffte er mich: »Ich glaube wohl, daß ich in mancher Hinsicht frühreif war. Ich war bis über beide Ohren verliebt, als ich noch nicht fünfzehn Jahre alt war.«

Da ich wußte, daß er von seiner Frau geschieden war, weil sie behauptete, die Ehe sei nie vollzogen worden, fand ich sein Geständnis um so verblüffender.

»Wirklich?« rief ich aus. »In wen denn?«

»In die kleine Domecq – die Tochter des spanischen Kompagnons meines Vaters im Weingeschäft«, erklärte er. »Ich traf die Familie in Paris, als ich vierzehn Jahre alt war. Das ›Südkreuz unvorstellbarer Sterne‹ nannte ich sie, und ich wurde durch die Liebe zu Adele, zu der blonden Adele, die etwas älter war als ich, in die Knie gezwungen. Zwei oder drei Jahre später, als sie uns auf Herne Hill besuchten – ich war damals ungefähr achtzehn Jahre alt –, schrieb ich Gedichte über den Zauber ihres Lächelns. Aber als ich meinem Vater gestand, daß ich sie heiraten wollte, nahm er mir sofort alle Illusionen. ›Deine Mutter, John, würde nie einwilligen. Sie ist ja römisch-katholisch.‹

Ich liebte meine Mutter und war zu jener Zeit auch tief religiös, obwohl nicht so religiös, um nicht den Kampf aufzunehmen. Jedoch die Sache wurde bald entschieden, wie es oft im Leben der Fall ist. Adele kam im Jahre 1839 auf Herne Hill zu Besuch, als ich zwanzig Jahre alt war, machte mir jedoch keine Hoffnung. Ich glaube, sie hat mich nicht einmal ernstgenommen. Sie war einfach geschmeichelt und belustigt. Sie heiratete im nächsten Jahre 1840 und verschwand aus meinem Leben. Es war ein schwerer Schlag für meine Gesundheit. Ich konnte mich jahrelang nicht erholen.«

Ruskin machte auf mich den Eindruck eines höchst liebevollen, weichen Menschen. Bei jeder Begegnung ergriff er meine Hand, und in seinem Druck lag eine Weite warmen Gefühls. Zugleich hing über ihm ein Hauch sehnsüchtiger Schwäche wie bei einem, dessen Leben voll von Bedauern ist; und ich war selbstverständlich erpicht, möglichst viel über seine Ehe zu erfahren. Ich hatte bereits gemerkt, daß, sobald ich ihn reden ließ, er über sich selbst zu sprechen anfing und mir Dinge von größtem Interesse mitteilte. Ich brauchte ihm nur meine Bewunderung zu zeigen und ihn mit einer Frage auf die Spur zu weisen, und bald kramte er in den persönlichen Erinnerungen, in einer ergreifenden Bemühung, wie es mir schien, sich zu erklären und zu rechtfertigen.

Wir sprachen eines Tages über Carlyles tiefe Liebe zu seiner Frau, als mir Ruskin plötzlich sagte, daß er überhaupt nie in seine Frau, ein Fräulein Gray, verliebt gewesen sei. Als er ungefähr achtundzwanzig Jahre alt war, erzählte er, besuchte sie seine Familie auf Denmark Hill. Seine Mutter wünschte sich glühend diese Ehe, und »sie (Fräulein Gray) war sehr angenehm und liebenswürdig, und ich heiratete sie daher im April achtundvierzig. Ich hatte bereits meinen ganzen religiösen Glauben verloren. Ich ging mit meiner Frau in die Normandie und schrieb die ›Sieben Lampen der Architektur‹.

Als ich etwas über dreißig Jahre alt war, kehrten wir zurück, ließen uns in Park Street nieder, und dort lernte ich Carlyle und andere gemeinsame Freunde, Coventry Patmore und die Präraffaeliten kennen. Im Jahre 1853 gingen wir nach Schottland mit Millais, und Millais malte mein Bild. Dort entdeckte ich, daß meine Frau Millais liebte. Ich ging eines Morgens in sein Atelier, öffnete lautlos die Tür ohne den leisesten Verdacht – und sah sie dort auf dem Sofa in seinen Armen liegen. Ich war bestürzt, wich unwillkürlich einen Schritt zurück und schloß lautlos die Tür. Was sollte ich tun? Ich war ein wenig erschüttert, aber da ich sie nie geliebt hatte, empfand ich keine Spur von Schmerz. Ich war bloß verärgert, mußte jedoch auf meine Würde bedacht sein. Ich beschloß einfach, mich noch zeremonieller zu benehmen als bis jetzt.«

In meinen Augen lag das blanke Staunen, und Ruskin muß es empfunden haben, denn er begann zu erklären: »Ich wollte nicht mit ihm brechen. Ich dachte, ich hätte kein Recht dazu. Mein Bild war nicht fertig, und ich wollte, daß er es beendete. Ich dachte mir, daß es vielleicht eines der großen Porträts der Welt wird. Ich wollte auch meine Würde wahren.« Ich konnte kaum ein Lächeln zurückhalten, was hatte denn die Würde damit zu tun? aber Ruskin fuhr fort: »Ich hielt ihn und halte ihn noch immer für einen sehr großen Meister, und so war ich einfach von einer peinlichen Höflichkeit, bis das Bild beendet war, und dann ging er weg. Er hatte ohne Zweifel den Unterschied in meinem Benehmen gespürt. Ich war sehr kalt und reserviert, und er war nicht mehr so – geräuschvoll und von einer so jovialen Derbheit, wie er es früher manchmal gewesen war.

Etwas später verließ mich meine Frau und reichte die Scheidungsklage ein. Ich habe ihr selbstverständlich nicht widersprochen. Ich hatte kein Interesse daran. Ein Jahr später war sie frei und heiratete Millais. Ich bin wirklich stolz auf die Tatsache, daß, selbst nachdem dies vorgefallen war, ich enthusiastisch über Millais' Genie als Maler schrieb, persönlich hat es mich nie berührt, ging mir nicht einmal nahe.«

Ich erinnere mich nicht mehr, wie ich ihn wieder zum Reden brachte, aber ich glaube, ich fragte ihn, wie er dazu kam, Turner so früh zu bewundern. »Ich wußte immer schon ziemlich viel über Malerei, und ich war, glaube ich, der erste, der Turners wirkliche Größe erkannte. Ich kaufte viele seiner Bilder, bevor ich noch dreiundzwanzig Jahre alt war. Sie wissen ja, daß ich mit vierundzwanzig Jahren den ersten Band der ›Modernen Maler‹ veröffentlicht habe.

Als Turner starb und seine Bilder dem Volke vermachte, ging ich hin, um sie zu sehen, und fand sie noch ziemlich vernachlässigt, in Kisten verpackt in den Kellern der ›National Gallery‹. Ich schrieb sofort an Lord Palmerston und sagte ihm, es würde mir eine Freude sein, wenn man mir gestatten möchte, Turners Werke zu ordnen. Er brachte mich in Verbindung mit den Treuhändern, und ich wurde von ihnen dazu eingesetzt. Durch das Jahr 1857 und die Hälfte des Jahres 1858 hindurch arbeitete ich an der Klassifizierung und Ordnung der Turnerschen Bilder. Ich ließ auch seine Aquarelle rahmen. Plötzlich erlebte ich einen der schlimmsten Schläge meines Lebens.

Ich hatte immer geglaubt, daß das Gute, das Reine und das Schöne eins seien, verschiedene Manifestationen des Göttlichen. Ich hatte immer die Farbenschönheiten der Malerei mit einer heiligen Reinheit des Lebens in Verbindung gebracht. Ich wußte, daß es kein allgemein gültiges Gesetz war. Man verdächtigte Tizian, daß er ein ausschweifendes Leben geführt habe, man brachte ihn sogar mit seiner eigenen Tochter in Verbindung, aber das kam mir wie ein Wahnsinn vor, wie eine bloße Legende, die man nicht einmal in Betracht ziehen durfte. Ich habe immer den Glauben behalten, daß Güte, Weisheit, Reinheit und Wahrhaftigkeit mit einem großen Talent gepaart sind, und Turner war mein Held. Eines Tages, es war wohl im Jahre 1857, geriet eine Skizzenmappe in meine Hände, die mit den schamlosesten Zeichnungen Turners vollgestopft war – etwas vollkommen Unentschuldbares und Unerklärliches.

Ich gab mir nun die Mühe, alles Nähere herauszufinden, und erfuhr nun, daß mein Held häufig sein Haus in Chelsea verließ, am Freitag nachmittag nach Wapping ging und dort bis Montagmorgen mit Matrosenweibern lebte und sie in jeder obszönen Pose malte. Welch ein Leben! Und welch eine Last fiel auf meine Schultern! Was sollte ich tun?

Wochenlang wurde ich von Zweifeln zerrissen und litt unsagbar, bis mir plötzlich der Gedanke kam, daß ich vielleicht auserwählt wurde als der einzige Mensch, der fähig war, in dieser einen Sache zu einem Entschluß zu kommen. Ich nahm die Hunderte der obszönen Zeichnungen und Skizzen und verbrannte sie an Ort und Stelle – verbrannte sie alle ohne Ausnahme ... Glauben Sie nicht, daß ich recht hatte? Ich bin so stolz darauf, so stolz –«, und seine Unterlippe preßte sich über die Oberlippe und verlieh ihm den Ausdruck einer höchst eigensinnigen Entschlossenheit.

Ich glaube, es war das merkwürdigste Geständnis, das ich je gehört habe. Und ich erinnere mich, daß ich es nachher tagelang nicht über mich brachte, Ruskin zu besuchen. Als wir uns das nächste Mal trafen, hatte er mich in meinem kleinen Hause in Kensington-Gore aufgesucht. Ich vermied, von Turner zu sprechen. Ich war sicher, daß wir uns darüber zanken würden oder, besser gesagt, daß ich ihn beleidigen würde, wie ich oft schon manche Freunde beleidigt hatte, als ich ihnen Dinge sagte, die mir die nackte Wahrheit schienen. Was für ein Recht hatte er, das Werk eines andern Menschen zu vernichten, geschweige denn das Werk eines Menschen, den er als ein gottgesegnetes Genie pries? So sprach ich von Carlyle und seiner Lehre. Er gab mir zu, daß es Carlyle war, der ihn zum Sozialismus bekehrt hatte, obwohl er »schon auf dem Wege war«, fügte er lachend hinzu. »Ich habe gefunden, daß Xenophon schon 400 Jahre vor Christus von den ›gemeinen Kerlen auf dem Markte‹ gesprochen hat, die ›immer nur daran dachten, wie sie am billigsten kaufen und am teuersten verkaufen können‹. Unser modernes Evangelium,« rief er mit triumphierender Verachtung aus; »nur für gemeine Kerle geeignet!«

»Was halten Sie für Ihr Bestes?« fragte ich einmal Ruskin, »Ihre Enthüllungen über die Kunst und Natur oder Ihre soziologischen Bücher?«

»Sie bilden ein Ganzes«, erwiderte er und schob nachdenklich die Unterlippe vor. »Die meisten Menschen scheinen jedoch meine ›Fors Clavigera‹ vorzuziehen.«

Ruskin kam oft abends zu mir, aber noch häufiger sah ich ihn beim Mittagessen. Wir sprachen dann lange miteinander, und ich fuhr ihn in sein Hotel zurück. Ich sagte ihm eines Tages, wie seltsam es mir schiene, daß er ohne Leidenschaft einen so emotionellen Stil erreicht hatte.

Er drehte sich jäh zu mir um. »Wie kommen Sie darauf? Ich habe mehr als einmal leidenschaftlich geliebt. Wenn ich Adele geheiratet hätte, wäre die Ehe auch vollzogen worden, ich kann Sie dessen versichern. Aber viel später, als ich über Vierzig war, kam in mein Leben die große Liebe, und diese Leidenschaft ließ mich ausgebrannt zurück. Die Liebe war mein Verhängnis«, fügte er mit dünner, trauriger Stimme hinzu.

»Wirklich?« fragte ich in echtem Erstaunen. »Können Sie mir etwas darüber erzählen?«

Nach einer langen Pause erzählte er mir, wie er nach Irland ging und eine Frau Latouche besuchte und wie Rosie, ihr zwölfjähriges Töchterlein – wie eine Fee in ihrem blaßrosa Kleidchen – am Abend hinunterkam, um ihn zu begrüßen. »Sie war ein bloßes Kind, aber damals schon so weise und nachdenklich, und ich war zweiundvierzig Jahre alt.

Als sie siebzehn war, kam sie mit ihrer Mutter nach London, und ich verbrachte wunderbare Tage mit ihr auf Denmark Hill. Sie nannte es das ›Edenland‹. Wir trafen uns oft, hauptsächlich bei Lady Mount Temple auf Broadland. Damals sagte ich ihr, wie ich sie liebte. Sie ließ ihre tiefen Augen auf mir ruhen und bat mich, auf sie zu warten, bis sie volljährig würde. – ›Es sind ja nicht mehr als drei Jahre‹, sagte sie. – Ich sprach auch mit ihrer Mutter, die jedoch sehr unzufrieden und unwillig darüber schien. Als Rosie zwanzig Jahre alt wurde, war sie tief verzweifelt über meinen Unglauben. Sie veröffentlichte ein kleines Büchlein von Gedichten unter dem Titel ›Wolken und Licht‹. Sie war eine glühend gläubige Christin, die an jedes Wort des Herrn glaubte – es war in diesem Jahr, glaube ich, als sie an mir vorbeiging, ohne mir ein Wort zu sagen, wie einst Beatrice an Dante –«

Es lag etwas unendlich Ergreifendes in dieser dünnen Stimme, etwas Hilfloses und Verlorenes in seiner Haltung, in der zitternden Unterlippe und den abfallenden Händen, wie bei einem, der unrettbar besiegt ist. Mein Herz krampfte sich zusammen, als er sprach: ...

»Mein Unglaube schadete mir viel bei ihr und lockerte das geistige Band zwischen uns. Aber später erfuhr ich die wahre Ursache unserer Trennung. Der Vater« (ich glaube, Ruskin sagte, es sei der Vater gewesen) »brachte sie nach London und besuchte mit ihr Frau Millais. Meine frühere Frau hat ihr ohne Zweifel von meinem früheren Asketismus oder meiner Abstinenz erzählt, denn als mein geliebtes Mädel die Treppe herunterkam und vom Vater gefragt wurde, ob ›sie jetzt seinen Widerstand gegen unsere Ehe verstünde‹, antwortete es: ›Ich verstehe, daß es Menschen gibt, denen der Körper alles und die Seele nichts ist – sprich, bitte, nicht darüber! Ich will nie mehr daran denken.‹

Mein armes Lieb, die Rose meines Lebens!«

Meine Notizen über diese Szene sind so fragmentarisch, bloß abgerissene Worte, die sich nur durch die Tatsache erklären, daß ich glaubte, keine Silbe von dem zu vergessen, was er sagte. Aber die Worte sind leider aus meinem Gedächtnis verschwunden, und ich kann nur, sozusagen, meine vagen Eindrücke in Worte übersetzen. Ich bin mir keines einzigen Ausdrucks sicher. Aber so weit ich mich erinnere, glaube ich, daß er mir gesagt hat, er wäre in ihrer letzten Krankheit bei Rosie Latouche gewesen und habe seine Liebste die ganze Nacht durch in den Armen gehalten, bis sie starb. Aber vielleicht hat er es nur so intensiv gewünscht und es mir als die größte Sehnsucht seines Herzens geschildert? Ich weiß es nicht mehr, und die Tatsache ist auch nicht so wichtig.

Aber an die nächste Szene erinnere ich mich ganz genau.

Plötzlich sprang er auf und schrie:

»Dort ist es! Sehen Sie denn den Teufel nicht?«, und er raste im Raum herum. »Die Katze!«, und er schien sich nach einer Katze zu bücken. »Öffnen Sie das Fenster!« schrie er. Und als ich das Fenster aufriß, stürzte er heran und schien etwas hinauszuwerfen.

»Der Teufel!« rief er atemlos aus. »Das Böse, das mich in Versuchung führt. Sie haben es doch gesehen, nicht wahr?«

Ich konnte nur antworten: »Sie schienen etwas aus dem Fenster hinauszuwerfen, das war alles, was ich sah! Aber nun ist es wohl weg?« fügte ich hinzu, in der Hoffnung, seine atemlose Aufregung zu lindern.

»Es geht mir nicht gut«, brach er plötzlich ab. »Es übermannt mich immer, wenn ich an diesen furchtbaren Verlust und an den Tod meiner Geliebten denke. Ich darf nicht daran denken, ich darf nicht! Ich wage es nicht! Ich wurde in letzter Zeit jedes Jahr krank, weil ich daran dachte, wie ich sie verlor – ich hatte eine Gehirnentzündung im Jahre 1878 und wieder im Jahre 1881 und den letzten Anfall im vorigen Jahre. Ich werde sehr alt und schwach ... Verzeihen Sie, wenn ich dann irre rede!«

Er erinnerte mich an Lear.

Sein Gesicht war ganz grau und eingefallen – ein unsagbares Mitleid überströmte mich. Welch eine furchtbare, unverdiente Tragödie! Ich führte ihn hinaus, als ob er ein Kind wäre, und brachte ihn zurück ins Hotel. Während unserer Fahrt liefen die Tränen seine dünnen, zuckenden Wangen herunter.

Ich habe nie – mit Ausnahme von Carlyle – ein traurigeres Gesicht gesehen.

Ich fragte ihn einmal, ob ich die Gedichte von Fräulein Latouche bekommen könnte; und er wollte mir sein Exemplar leihen. Sein bestes Gedicht an sie, sagte er, begann mit den Worten: »Rosie, Rosie, Rosie rar ...«, und ich fragte mich, ob er das Goethesche Gedicht »Röslein, Röslein, Röslein rot« nachgeahmt hatte, obwohl er kein Deutsch konnte. Er erzählte mir mit unendlicher Zärtlichkeit, daß Rosie ihn den »Heiligen Chrysostemos« oder den »Heiligen Napfkuchen« zu nennen pflegte, und er trug immer ihren ersten Brief an ihn zwischen zwei dünnen, goldenen Platten in der Brusttasche.

Ruskin gab zu, ja unterstrich oft die Tatsache, daß er allen Glauben an den »jüdischen Juwelierhimmel«, wie er ihn höhnisch nannte, verloren hatte, aber zu gleicher Zeit erklärte er wiederholt, daß er einer Sache todsicher war, und zwar, daß Rosies Geist zu ihm oft als »ein Schutzengel« kam und daß sie »sehr, sehr glücklich« war.

Ich erinnere mich, wie ich ihn einmal über den Weg nach Hinksey fragte, den berühmten Weg, den er von Oxforder Studenten anlegen ließ. Er verteidigte diesen Gedanken; er sagte, es würde für alle besseren Klassen gut sein, ein Handwerk zu lernen; »manuelle Arbeit ist für jeden von uns gut, selbst für Gladstone«, fügte er lachend hinzu, aber er schien nicht sehr viel Interesse an dem Straßenbau zu haben. Toynbee war einer seiner Vorarbeiter, Alfred Milner baute auf der Straße, und Oscar Wilde lachte gern darüber. Es war wohl Oscar, glaube ich, der mir in seiner Schilderung der Ruskinschen Vorträge sein Epigramm über Neapel zitierte. »Neapel«, sagte er, »vereinigt in sich das Laster von Paris, das Elend von Dublin und die Vulgarität von Newyork.« Aber Ruskin war nie in Newyork gewesen und wußte nichts darüber, ebensowenig wie über das Laster in Paris. Er war eigentlich nur auf der Höhe, wenn er über Tugenden sprach.

Ich hatte Ruskin nie vortragen gehört. Aber er sagte mir, daß er nach einer gewissen Übung sich auf die Inspiration des Augenblicks zu verlassen pflegte, mit Ausnahme vielleicht der ersten Worte und des Schlußsatzes, die er sich gewöhnlich aufschrieb und auswendig lernte: »Manchmal ließ ich auch die Schlußworte aus,« fügte er hinzu, »nur um mein albernes Auditorium zu enttäuschen.«

Nach all diesen Qualifikationen ist es kein Wunder, daß Ruskin einen ganz ungewöhnlichen Einfluß in der Universität ausübte. Seltsamerweise habe ich den vollen Eindruck von dieser Wirkung bei einem meiner frühesten Diners mit Cecil Rhodes bekommen. Ich wußte, daß alle, selbst alte Professoren, zu Ruskins Vorlesungen gingen, wußte, daß die jungen Menschen von seinem leidenschaftlichen Idealismus und seiner patriotischen Glut tief ergriffen waren, aber erst durch Rhodes begriff ich die ganze Wirkung der außerordentlichen Bedeutung von Ruskin. Man kann seine oratorischen Fähigkeiten nach seiner Inaugurationsrede beurteilen:

»Ein Schicksal ist uns nun möglich geworden, das höchste, vor das je ein Volk gestellt wurde, um es auf sich zu nehmen oder ihm auszuweichen. Wir sind noch als Rasse nicht degeneriert, wir haben die Mischung des besten nordischen Blutes. Unser Charakter ist noch nicht haltlos geworden. Wir besitzen noch die Entschiedenheit, um zu herrschen, und die Anmut, um zu gehorchen ... Werdet ihr, Jünglinge Englands, euer Land wieder zu einem Herrscherthrone der Könige machen, zu einem szeptertragenden Eiland, zu einer Quelle des Lichtes für die Welt, zum Mittelpunkte des Friedens, zur Herrscherin des Wissens und der Künste, zum treuen Hüter zeitbewährter Prinzipien, mitten unter Versuchungen lockender Experimente und ungebundener Begierden; trotz der grausamen und lauten Eifersüchte der Völker um seines einzigartigen Wertes willen angebetet und den Menschen ein Wohlgefallen.«

Man kann sich die Wirkung dieser edlen Rhetorik auf junge, enthusiastische Geister leicht vorstellen. Obwohl den gewöhnlichen Professoren nie Beifall geklatscht wurde, begrüßte man Ruskin mit lautem Applaus, sobald er hereinkam, und manchmal war die Erschütterung, die er auslöste, so stark, daß die Studenten mit gebeugten Köpfen und verschleierten Augen wie gebannt dasaßen, wenn er seine Zettel zusammensuchte und den Saal verließ.

Selbstverständlich war es sein Imperialismus, den Rhodes an ihm am meisten schätzte. Er sprach ihm aus der Seele:

»Das ist es, was England tun muß, sonst droht ihm Verderben. Es muß, so schnell und so weit es ihm nur möglich ist, Kolonien suchen und seine besten und energischsten Menschen hinschicken. Es muß jeden Zoll fruchtbaren, brachliegenden Bodens ergreifen, auf den es den Fuß setzen kann. Es muß dort seine Kolonisten lehren, daß Landestreue die höchste aller Tugenden ist und daß ihr erstes Ziel die Steigerung der Macht Englands zu Land und zur See sein muß ... Sie halten es für ein unmögliches Ideal. Und wenn es auch wäre: lehnen Sie es ab, wenn's Ihnen nicht gefällt, aber sehen Sie zu, daß Sie sich Ihr eigenes Ideal an seiner Stelle bilden. Ich will ja nichts anderes von Ihnen, als daß Sie sich ein bestimmtes Ziel für Ihr Land und für sich selbst setzen, so eng umgrenzt es auch sei, wenn es nur beständig und selbstlos ist.«

Unter Rhodes' Papieren fand man nach seinem Tode einige von ihm selbst geschriebene Zeilen, die klar zeigen, was Ruskins Worte für ihn bedeuteten.

»Sie haben viele Instinkte, Religion, Liebe, Geldverdienen, Ehrgeiz, Kunst und Schöpfertum, das ich vom menschlichen Standpunkt aus für das Höchste halte, aber wenn Sie anderer Meinung sind, überlegen Sie es sich und arbeiten Sie mit Ihrer ganzen Seele für den Instinkt, den Sie für den höchsten halten. C. J. Rhodes.«

Ruskin war mehr als irgendeiner daran beteiligt, den Imperialisten zu schaffen und Rhodes' Ehrgeiz Form und Zielsicherheit zu geben.

Da Rhodes mit dem englischen Patriotismus nicht ganz zufrieden war, griff er Ruskins letzte Worte als das Wichtigste heraus. Auf Rhodes hatten die Buren in derselben Weise gewirkt wie auf mich die Amerikaner. Er sagte mir oft, daß er die Buren von keinem afrikanischen Reich ausschließen könnte, an dessen Bildung er beteiligt wäre.

Ruskin war als Patriot wunderbar, obwohl ich selbst seine Schilderungen der Naturschönheit, insbesondere die Stelle über die Schweizer Berge, für das bei weitem Beste halte.

Ich möchte noch hervorheben, daß Ruskin seinen Idealismus ins Leben umsetzte, bevor er ihn rhetorisch zum Ausdruck brachte. Er war aus einem Guß, von einer durchsichtigen Ehrlichkeit. Er hatte eine tiefe Liebe für Oxford, und doch verzichtete er auf seine Kunstprofessur, weil er sich zu alt fühlte. »Es muß Ihnen sehr leid getan haben,« sagte ich eines Tages zu ihm, »daß Sie sich zu schwach fühlten, um Ihre berühmten Oxforder Vorlesungen fortzusetzen.«

»Zu schwach?« erwiderte er zornig. »Schwäche hatte nichts damit zu tun. Das Zimmer, in dem ich sprach, war immer überfüllt und hatte manche Mängel. Es war zum Beispiel sehr schlecht beleuchtet, und so bat ich, mir ein besseres Auditorium für die Kunstvorlesungen zu geben, die doch für eine Universität viel bedeuten sollten. Man erwiderte, daß man bereits verschuldet sei und nichts tun könnte. Und doch wurden im nächsten Jahre zehntausend Pfund für ein Laboratorium für Dr. Burdon Sanderson ausgesetzt, in dem er seine Versuche an lebenden Tieren machte, und weitere zweitausend Pfund, um diesen Vorraum der Hölle mit den notwendigen Instrumenten auszustatten. Die Oxforder Universität war zu arm, um etwas für die Liebe zur Schönheit zu opfern, die soviel zur Erlösung unserer armseligen Welt beiträgt, hatte jedoch genug, um für die Vivisektion zu sorgen und Tausende von Pfunden für Instrumente einer teuflischen Folter zu verschwenden.

Mein Weg lag klar vor mir. Ich legte als Protest meine Professur nieder und schrieb an den Vizekanzler mit der Bitte, den Brief, der die Gründe meiner Resignation auseinandersetzte, dem Kuratorium vorzulegen. Aber der Vizekanzler hatte nicht einmal die Güte, mir zu antworten oder meinen Brief weiterzugeben, und als ich in Empörung an den Herausgeber der Universitätszeitung schrieb, unterdrückte er einfach mein Schreiben, und so triumphierte die ganze Verschwörung des Totschweigens, und die Londoner Presse verkündete, ich hätte infolge ›vorgerückten Alters‹ meine Professur niedergelegt.

Oxford zog die Schreie der sterbenden, stummen Kreaturen den Worten vor, die ich zum Lobe des Guten, des Schönen und des Wahren zu sagen hatte. Es zeigte mir, wie wenig ich unter Menschen galt – vielleicht hatte meine Eitelkeit diese Lehre verdient –,« fügte er seufzend hinzu, »aber ich habe die gute Sache sehr bedauert, die hoffnungslos verloren ist.«

Der ganze Vorfall ist äußerst charakteristisch für die Art und Weise, in der England mit seinen Lehrern und Führern umgeht, wie ganz anders wurde Taine in Paris behandelt!

Als ich Ruskin näher kennenlernte und mit ihm ausführlich über Bücher sprach, fand ich, daß sein Geschmack oft mit der Laterne zu suchen war. Er lobte Elizabeth Brownings Poesie über den grünen Klee und gestand, daß er Swinburne nicht mochte. Die schlimmste Prüderie des Puritanismus war im Einklang mit seinem dünnen Blute und dem Mangel an Männlichkeit. Und auch sein Urteil über die Malerei und die Maler war fast ebenso verfehlt, obwohl er sich für einen vollkommenen Kritiker hielt und es oft betonte, daß er fünf große Künstler entdeckt und berühmt gemacht habe, »die bis dahin verachtet waren«: Turner, Tintoretto, Luini, Botticelli und Carpaccio. »Aber sie waren nicht größer«, pflegte er dann hinzuzufügen, »als Burne Jones und Rosetti, meine lieben Jungen.« Dieser Vergleich schien mir so albern, daß ich sofort das Thema wechselte.

Warum reihe ich diese vagen und unzusammenhängenden Erinnerungen aneinander? Ruskin hatte auf mich, trotzdem er einen großen Einfluß in England ausübte und seit Jahren einen berühmten Namen hatte, keinen tiefen Eindruck gemacht, höchstens als Rhetoriker. Er war für mich weder ein Genie, noch ein geheiligter Führer der Menschen, er war stockblind und falsch eingestellt, ein englischer Puritaner, der, selbst als er dem Gefängnis des Puritanismus entwich, in seiner Seele die Narben der Unterwerfung unter englische Ideale und der Liebedienerei vor englischen Begrenzungen trug. Seine wirtschaftlichen Ansichten waren besser von Carlyle auseinandergesetzt, und er tat Whistler unrecht, der ein größerer Künstler war als sein Turner.

In wenigen Wochen eines gelegentlichen Zusammentreffens hatte ich ihn erschöpft oder fühlte, daß er mir alles gegeben hatte, was er mir geben konnte, und seine ewige Trauer, mit der krankhaft egozentrischen Einstellung gepaart, bedrückte meinen jugendlichen Optimismus.

Eines Morgens fragte ich ihn herausfordernd, ob er nicht in Versuchung war, einige der schlimmen Turnerzeichnungen zu behalten. »Sie waren sicher sehr interessant«, fügte ich etwas lahm hinzu, als ich seinen Antagonismus spürte.

Er legte sofort los: »Ich habe schon immer herausgefühlt, daß Sie mit dem, was ich tat, nicht einverstanden sind«, sagte er scharf. »Warum sprechen Sie nicht offen? Ich bin stolz auf das, was ich getan habe!« Und seine wintertrüben Augen blitzten herausfordernd auf.

»Stolz!« wiederholte ich. »Ich finde es furchtbar, das Werk eines Menschen umzubringen.«

»Vielleicht war es ein Werk von dieser Sorte, die Sie gern erhalten haben würden«, schnappte er ein, und ich bemerkte nun zum ersten Male, daß, wenn er zornig wurde, seine Lippe sich auf der einen Seite aufwarf und seine Hundezähne bloßlegte. Es war wie das Fletschen eines wütenden Hundes, noch dadurch verstärkt, daß es nur die eine Seite seiner Lippe war, die sich hob. Er hatte mir erzählt, daß er als Kind von einem Hund gebissen worden sei und seine Lippe durch den Biß gespalten war.

»Ich schäme mich nicht, es zuzugeben«, fuhr ich fort. »Jeder Angriff auf die puritanischen Maßstäbe und die englische Prüderie scheint mir wertvoll und wichtig. Aber selbst wenn ein großer Mensch eine Arbeit getan hätte, die ich hassen würde, zum Beispiel zur Verherrlichung des Krieges oder zur Rechtfertigung der Grausamkeit, würde ich es nicht zerstören. Wer bin ich denn, daß ich einen Teil seiner Seele zum Verderben verdammen könnte? Ich hasse alle endgültigen Verdammungen.«

»Ich tat, was ich für richtig hielt –«

»Dessen bin ich sicher,« unterbrach ich ihn, »und das ist eben der Jammer. Das Übel, das die Menschen aus hohen Motiven anrichten, ist das verderblichste. Die Tatsache, daß Sie ein Treuhänder waren, hielten Sie für eine Herausforderung an Ihren Mut. Ich verstehe es, aber ich kann es nur bedauern – es tut mir sehr leid!«

Ich hatte ihn tief verletzt, ich wußte es in diesem Augenblick. Er suchte mich nie mehr auf, und ehe ich mich entschlossen hatte, zu ihm zu gehen, hörte ich, daß er London verlassen hatte.

Meine blöde Offenheit ist für mich eine schmerzliche Erinnerung. Wir standen jedoch im wesentlichen auf entgegengesetzten Polen. Und doch hätte ich daran denken können, was er für die englische Welt getan hatte und was er dem englischen Volke gab. Und schließlich ist keine Gabe des Menschen vollkommen. Aber ich muß gestehn, daß ich Ruskin damals nicht so hoch stellte, wie ich es heute tue. Ich teilte die französische Ansicht über die Kunst und Künstler von Anfang an und empfand gleich den Franzosen, daß die Bewunderung der Schönheit der höchste Impuls unserer Menschheit ist. Er ist seither meine wahre Seele geworden und hat mich langsam eine neue Ethik gelehrt. Ich hatte damals keine Ahnung, daß die Engländer Künstler wie Akrobaten einschätzten und einen halbgebildeten Politiker wie Chamberlain höher stellten als einen großen Maler, Bildhauer oder Musiker, und habe deshalb die Originalität Ruskins nicht richtig gewertet. Ich hatte keine Ahnung, daß seine dauernde Beschäftigung mit allem, was denkwürdig in Kunst und Literatur ist, seine leidenschaftslose Bewunderung der großen Kunst zuerst die Menschen verblüffte und dann Tausende interessierte, die sich sonst nie zu einem Verständnis des künstlerischen Ideals durchgerungen hätten. Seine Hingabe an die Kunst oder, wie er gesagt hätte, an das »Schöne« hat Tausende von englischen Männern und Frauen zu einem höheren Verständnis des Lebens gehoben. Außerdem hatte er die englische Literatur mit Stellen einer wunderbaren Prosa und vielleicht den köstlichsten Beschreibungen der Naturschönheit in der ganzen Sprache bereichert.

Ruskin war für die Engländer ein großer Prophet des Schönen. Die Kunst war ihm eine Religion, und dieser Standpunkt war ihnen bis jetzt fremd gewesen. Er hatte ihnen die Liebe und Bewunderung für Künstler wie Turner, Tintoretto und Botticelli beigebracht und sie gelehrt, solche großen Menschen als Wohltäter der Menschheit anzusehen. Er hatte die englische Weltanschauung erweitert und verewigt und war daher ein Segen für sein Volk.

Ich wäre in den achtziger Jahren empört gewesen, wenn man einen Vergleich zwischen ihm und Carlyle angestellt hätte, der für mich damals ein Seher und geheiligter Führer war. Aber Carlyles Vergöttlichung der Kraft und seine Verachtung der ästhetischen Seite des Lebens läßt ihn mir heute kaum wertvoller erscheinen wie Ruskin. Der allgemeine englische Instinkt, der Ruskin neben ihn stellte, war der Wahrheit näher.

Trotz seiner unzulänglichen Ausbildung und seiner seltsamen Beschränkungen übte Ruskin einen moralisch veredelnden Einfluß auf England ein halbes Jahrhundert lang aus, und der Einfluß war ohne Zweifel um so stärker, weil er im Grunde mit der Bibel großgezogen worden ist und in der Ehrfurcht aller englischen Konventionen und englischen Ideale aufgewachsen war.

Der Abschluß seines Lebens war tieftraurig. Er ging in den Jahren 1888 und 1889 ins Ausland. Im Jahre 1889 verfiel er in eine furchtbare Krankheit, verlor den Verstand und lebte noch elf Jahre, bis er im Jahre 1900 starb.

Ich glaube nicht, daß es je ein traurigeres Leben gab, oder besser gesagt, ich glaube, daß er so viel litt, wie nur sein Geist an Leiden in sich aufnehmen konnte. Carlyle hatte vielleicht mehr gelitten, weil er mehr Intellekt hatte und die Dinge viel klarer sah und sich nicht mit den Besuchen eines »Schutzengels« täuschen konnte. Aller Freuden der Liebe bar, bildet das Leben ein höchst armseliges Erbteil.


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