Rider Haggard
Die heilige Blume
Rider Haggard

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18. Kapitel

Erfülltes Schicksal

Wir fanden die anderen bei unserer Rückkehr sehr niedergeschlagen. Zu verwundern war es nicht; die Nacht brach herein, der Donner grollte und hallte durch den Wald, und bald begann in großen Tropfen Regen zu fallen.

»Nun, Allan, was haben Sie arrangiert?« fragte Bruder John mit einem schwachen Versuche von Lustigkeit und ließ die Hand seiner Frau los. In jenen Tagen schien er immerfort ihre Hand zu halten.

»Oh!« antwortete ich, »ich will gehen und das Kanu holen, so daß wir hinübersetzen können.«

Jetzt erhob sich ein Durcheinander von Fragen und Ausrufen. Ich wies jedoch alle Einwendungen zurück.

»Kommt alle hinab zum Wasser. Ihr werdet dort nicht so in Gewittergefahr sein wie hier unter den hohen Bäumen. Und während ich hinübergehe, ziehen Sie, meine Damen, Hans die Gorillahaut an, so gut Sie können. Sie können sie mit Palmfasern festbinden und die Höhlungen und den Kopf mit Blättern oder Schilf ausfüllen. Er muß fertig sein, wenn ich mit dem Kanu zurückkomme.«

Hans stöhnte und schüttelte sich, aber er machte keine Einwendungen mehr. Wir gingen zum Wasser 290 hinunter. Dort zog ich die Überkleider aus und behielt nur mein Flanellhemd und die baumwollenen Unterhosen an, die grau und deshalb bei Nacht fast unsichtbar waren.

Nun war ich bereit, Hans übergab mir die kleine Büchse.

Ich erfaßte das Gewehr dort, wo der schrecklich fettige Lumpen herumgebunden war, schüttelte den anderen die Hände, und als ich zu Fräulein Hoffnung kam, legte sie mir – ich bin stolz darauf – die Arme um den Hals und gab mir einen Kuß auf die Stirne.

»Es ist der Kuß des Friedens, o Allan«, sagte sie. »Mögt Ihr gehen und in Frieden zurückkehren.«

Stephan murmelte etwas davon, daß er sich schäme, Bruder John schickte ein inbrünstiges und wohlgeformtes Gebet zum Himmel, Mavovo salutierte mit dem kupfernen Assegai und begann mir »Sibonga«, Zuluehrentitel, zu geben, und Frau Eversley sagte:

»Oh! Ich danke Gott, daß ich noch einmal in meinem Leben einen tapferen englischen Gentleman gesehen habe.«

Das betrachtete ich als ein großes Kompliment für meine Nation und mich selbst, immerhin büßte es etwas von seinem Glanze ein, als ich späterhin entdeckte, daß sie selbst geborene Engländerin war.

Wieder blitzte es. Ich rannte rasch zum Wasser hinab, gefolgt von Hans. Er wollte der letzte sein, der von mir Abschied nahm.

»Geh zurück, Hans, eh' du gesehen wirst,« sagte ich, indem ich leise von einer Wurzel in den Strom 291 hinabglitt, »und sage ihnen, sie sollen meine Jacke und meine Hose trocken halten, so gut sie können.«

»Fahr wohl, Baas«, murmelte er, und ich hörte ihn schluchzen. Seine weiteren Worte verschlang der plötzlich in wahren Fluten herabstürzende Regen. Ich kann nicht beschreiben, wie mir zumute war. Vor den anderen hatte ich meine Angst zu verbergen versucht. Aber jetzt überfiel sie mich so stark wie nie zuvor in meinem Leben. Am meisten entsetzte mich der Gedanke an die Krokodile. Ich habe immer Krokodile gehaßt, seitdem – nun, das tut nichts zur Sache –, und dieses Wasser wimmelte geradezu von diesen scheußlichen Reptilien.

Doch ich schwamm los. Das Gewässer mochte etwa hundertfünfzig Meter breit sein, nicht mehr, also keine große Entfernung für einen guten Schwimmer. Aber dabei hatte ich das Gewehr um jeden Preis über dem Kopfe zu halten, denn wenn es einmal untertauchte, war es nicht mehr zu gebrauchen. Auch hatte ich schreckliche Angst, daß ich beim Lichte der Blitze gesehen werden könnte. Und schließlich waren die Blitze selber zu fürchten, denn es kam mir vor, als ob sie auf den Stahllauf des Gewehres zielten und rechts und links von mir ins Wasser schlügen.

Ich schätze, daß die Schwimmtour etwa eine Viertelstunde dauerte; denn ich kam absichtlich langsam vorwärts, um Kräfte zu sparen, obgleich der Gedanke an die Krokodile mich immer wieder entsetzte und zur Eile antrieb. Aber Gott sei Dank sah ich nichts von diesen Bestien. Jetzt war ich der Höhle schon ganz nahe – jetzt war ich unter dem 292 überhängenden Felsen, und ich fühlte Boden unter den Füßen. Das Wasser reichte mir noch bis zur Brust. Ich lehnte mich an den Felsen, spähte ringsum und bewegte meinen steifgewordenen linken Arm hin und her. Ich zog die Lumpen vom Gewehrschloß herab, wischte damit die Nässe vom Laufe und ließ die Lappen fallen, dann sicherte und stach ich das Gewehr. Nun schaute ich mich um. Da war die Plattform, und da – richtig, da saß die Krötengestalt des Motombo. Doch er kehrte mir den Rücken zu und starrte in die Dunkelheit der Höhle hinein. Ich zögerte einen schicksalsschweren Moment lang. Vielleicht schlief der Priester, vielleicht konnte ich das Kanu wegbringen, auch ohne ihn erschießen zu müssen. Mir widerstrebte es, auf einen Menschen zu feuern, der mich nicht sehen konnte. Außerdem war sein Kopf vornübergesunken, und wie konnte ich ihn durch einen Schuß in den Rücken sicher töten? Und schließlich hätte ich auch den Schuß des Knalles wegen gern vermieden.

In diesem Augenblick drehte sich der Motombo um. Irgendein Instinkt mußte ihm meine Gegenwart verraten haben; denn ich hatte mich nicht gerührt, und die Stille ringsum war, abgesehen von dem leichten Plätschern der Regentropfen, so tief wie in einem Grabe. Als er sich umdrehte, ging eben ein Blitz nieder, und er sah mich.

»Es ist der weiße Mann,« murmelte er zischend vor sich hin, während ich in der Dunkelheit mit dem Gewehre an der Schulter wartete, »der weiße Mann, der vor langer, langer Zeit schon auf mich 293 geschossen hat Er ist wieder da, und er hat ein Gewehr! Oh! Jetzt erfüllt sich mein Schicksal! Ohne Zweifel ist der Gott tot, und nun muß auch ich sterben!«

Dann, wie in einer letzten Hoffnung, griff er nach dem Horn, um Hilfe herbeizurufen.

Wieder zuckte ein Blitz auf, dem ein fürchterlicher Donnerschlag folgte. Ich schickte ein Stoßgebet zum Himmel, riß mich zusammen, nahm seinen Kopf aufs Korn und feuerte, gerade als das Horn seine Lippen berührte. Es fiel ihm aus der Hand; er sank zusammen und regte sich nicht mehr.

Oh! Dem Himmel sei Dank. In diesem entscheidenden Augenblick hatte mich die Kunst, in der ich Meister bin, nicht verlassen! Wenn meine Hand auch nur ein klein wenig gezittert hätte, wenn meine Nerven, die bis zum Zerspringen gespannt waren, mich verlassen hätten, wenn der Lumpen auch die leiseste Feuchtigkeit an das Zündhütchen gelassen hätte – nun, dann wäre diese Geschichte niemals geschrieben worden, und ein paar Knochen mehr moderten auf dem Begräbnisplatz der Kalubis. Das ist alles. – Eine Minute lang stand ich still, in der Erwartung, daß die Dienerinnen aus den Türen hervorstürzen und einen schrillen Alarm schlagen würden. Doch nichts geschah. Ich denke mir, weil das Krachen des Donners den Büchsenknall verschluckte.

Ein wenig beruhigt, watete ich ein paar Schritte vorwärts und band das Kanu los. Ich kroch hinein, legte das Gewehr auf den Boden, nahm ein Paddel und trieb das Fahrzeug ins offene Wasser hinaus.

Einige Minuten lang hielt ich noch das Boot dicht 294 an den Felsen. Das Gewitter schien im raschen Abziehen zu sein. Dann riskierte ich es, ruderte hinaus und in einem kleinen Bogen nach links dem gegenüberliegenden Ufer zu.

Meine Gefährten sahen mich kommen, und ich sah – sah, und mein Haar sträubte sich – im nächsten Augenblick den Gorillagott selbst ins Wasser patschen und nach meinem Boote greifen. Genau dasselbe Ungeheuer, das uns im Forst so geängstigt hatte. Oder schien es ein wenig kleiner?

Dann erst erinnerte ich mich und lachte erleichtert auf, und dieses Lachen tat unendlich wohl.

»Bist du es, Baas?« sagte eine dumpfe Stimme ungefähr aus der Bauchgegend des Gorillas her. »Bist du wohlbehalten, Baas?«

»Selbstverständlich,« antwortete ich, »wie wäre ich sonst hier?« Und aufgeräumt setzte ich hinzu: »Fühlst du dich wohl in dem schönen, warmen Fell bei diesem Regen, Hans?«

Ich landete, trat beiseite, zog mein nasses Unterzeug aus, stopfte es in die Taschen meines Jagdrockes und zog die anderen Sachen an. Dann nahm ich einen guten Schluck aus der Flasche, aß ein bißchen und erzählte den anderen in Kürze, was sich ereignet hatte. Ohne Zeit zu verlieren, wurde dann die Blume in das Kanu gelegt. Wir stiegen ein, ich setzte mich mit dem frischgeladenen Gewehr an den Bug, und Bruder John und Stephan nahmen die Paddel.

Wir fuhren in einem kleinen Bogen hinüber, um einer etwaigen Beobachtung zu entgehen. An der 295 Felsmauer drüben angekommen, steckte ich vorsichtig den Kopf in die Höhle und spähte. Nichts rührte sich. Leise, leise stiegen wir aus. Ich ging voraus, die anderen stahlen sich mit scheuen Blicken auf das schreckliche Gesicht des Toten vorbei und mir nach.

Dann rückten wir lautlos durch die Windungen der Höhle vor. Einige Schritte vom Eingang entfernt stand ein Wachtposten. Im allerletzten Augenblick drehte er sich um. Er sah den ungeheuren Affen und dahinter die hochragende Heilige Blume. Er sah die Götter seines Landes auf sich zukommen und stürzte, die Arme in die Höhe geworfen, sofort besinnungslos zu Boden. Ich habe nicht gefragt, aber ich glaube, daß Mavovo Maßnahmen getroffen hat, um ihn am Wiederaufstehen zu verhindern.

So schnell wir nur konnten, und die ganze Nacht, marschierten wir vorwärts. Nur hier und da machten wir kurze Rast, um die Träger der Blume zu Atem kommen zu lassen. Frau Eversley löste manchmal ihren Gatten für eine kleine Weile ab, aber Stephan, der ein sehr kräftiger Bursche war, trug sein Ende den ganzen langen Weg.

Hans allerdings fühlte sich unter dem beträchtlichen Gewicht der Gorillahaut nichts weniger als wohl. Aber er war ein zäher, alter Bursche und hielt besser aus, als ich erwartet hatte, obgleich er sich kurz vor der Stadt aus Müdigkeit gezwungen sah, manchmal der Gewohnheit des vorherigen Besitzers der Haut zu folgen, nämlich auf allen Vieren vorwärts zu laufen. Wir erreichten die große, breite Straße 296 von Rica etwa eine halbe Stunde vor der Morgendämmerung und waren schon unbeobachtet bis zum Festhause gekommen; denn an diesem nassen und kühlen Morgen fühlte sich niemand veranlaßt, besonders zeitig aufzustehen. Aber etwa hundert Schritt vor dem Hafen bemerkte uns eine Frau, die gerade aus ihrer Hütte in den Garten trat. Sie erhob sofort ein durchdringendes, entsetztes Kreischen.

»Die Götter!« schrie sie. »Die Götter verlassen das Land und nehmen die weißen Männer mit sich.«

Augenblicklich ging ein gewaltiges Geschrei und Getümmel in den Häusern los. Köpfe lugten zu den Türen heraus, Leute rannten in die Gärten und begannen zu schreien und zu kreischen, als ob ein Gemetzel im Gange wäre. Doch keiner kam an uns heran. Sie fürchteten sich offenbar vor dieser unheimlichen Prozession.

»Vorwärts,« rief ich, »oder alles ist verloren.«

Meine Leute gehorchten sofort. Hans schwankte mit letzten Kräften vorwärts, denn seine Vermummung erstickte ihn fast, Stephan und Bruder John fielen trotz ihrer Erschöpfung in eine Art stolpernden Trab. Wir erreichten den Hafen. Auf den ersten Blick sah ich ein Kanu daliegen, dasselbe, das uns von Mazituland herübergebracht hatte. Wir stolperten hinein. Ich zerschnitt mit dem Messer den Haltestrick, und wir stießen ab.

Am Ufer standen Hunderte von Menschen, unter ihnen viele Soldaten. Aber sie waren zu entsetzt, als daß sie irgend etwas unternommen hätten. Bis zu diesem Augenblick hatte Hansens Vermummung uns 297 glänzende Dienste geleistet. Hinter dem Menschenhaufen sah ich jetzt Komba, einen großen Speer in der Hand, im Galopp angerannt kommen. Und auch er blieb wie versteinert stehen.

Dann brach die Katastrophe herein. Sie hätte uns beinahe das Leben gekostet.

Hans bekam nämlich plötzlich einen Erstickungsanfall und schob deshalb seinen Kopf durch die Schlingen, die den ausgestopften Kopf des Gorillas über seinem eigenen festhielten. Dabei fiel dieser ihm über die Schulter herunter. Komba sah sein häßliches kleines Gesicht aus der Affenhaut auftauchen und wußte sofort, was los war.

»Sie spielen uns einen Streich!« brüllte er. »Diese weißen Teufel haben den Gott getötet und die Heilige Blume und ihre Priesterinnen gestohlen! Der gelbe Mann steckt in der Haut des Gottes! In die Boote! In die Boote!«

»Rudert!« schrie ich Bruder John und Stephan zu, »rudert ums Leben! Mavovo, hilf mir das Segel aufziehen!«

Es war ein Glück, daß nach dem Gewitter ein heftiger Wind, und zwar nach dem gegenüberliegenden Ufer zu, wehte.

So rasch wir konnten, hißten wir das Mattensegel. Aber unterdessen waren schon eine Menge feindlicher Boote hinter uns her. Im ersten stand Komba, der neue Kalubi, und brüllte Flüche und Todesdrohungen zu uns herüber.

Irgend etwas mußte geschehen, wenn wir nicht schon in den nächsten Minuten von diesen geübten 298 Bootsleuten eingeholt werden wollten. Ich überließ Mavovo das Segel, drängte den bewußtlosen Hans beiseite und machte das Gewehr fertig. Es war noch ein einziges Zündhütchen übrig, und von diesem wollte und mußte ich einen entscheidenden Gebrauch machen. Ich stellte das Visier auf die größte Entfernung ein, legte an und nahm Kombas Kinn aufs Korn. Das Gewehrchen war für solch große Entfernung nicht gemacht, und nur dadurch, daß ich absichtlich hoch hielt, konnte ich hoffen, den Körper des Mannes zu treffen. Ich hielt den Atem an und berührte den Abzug. Der Schuß ging los; und als der Rauch sich verzog, sah ich Komba die Arme hochschleudern und rückwärts ins Kanu zurückstürzen.

Wie ich späterhin hörte, hatte der Schuß mitten auf der Brust gesessen und das Herz durchbohrt. Und wenn ich alle Umstände in Betracht ziehe, glaube ich, daß jene vier Schuß, die ich in Pongoland abfeuerte, den Rekord in meiner Laufbahn als Schütze darstellten. Der erste, bei Nacht abgefeuert, zerschmetterte dem Gorillagott den Arm, und er hätte ihn getötet, wenn sich nicht die Explosion verzögert und dem Affen dadurch Zeit gegeben hätte, den Kopf zu schützen; der zweite tötete den Gorilla dann mitten in einem Getümmel; der dritte, bei dem Schein eines Blitzes und nach einer langen Schwimmtour abgefeuert, kostete dem Motombo das Leben, und der vierte, auf so große Entfernung und aus einem in Bewegung befindlichen Boot abgeschossen, war der Lohn für jenen kaltblütigen und verräterischen Schuft Komba, der der Meinung war, uns jetzt 299 sicher in Pongoland zu haben, uns ermorden und als Opfer verspeisen zu können.

Der Eindruck des Todes Kombas auf die Pongo war recht merkwürdig. Die anderen Kanus drängten sich sofort an jenes heran, in dem er lag. Dann, nach einer hastigen Besprechung, holten sie die Segel ein und paddelten nach dem Landungsplatze zurück. Warum sie das taten, kann ich nicht sagen. Es ist schwer, die oft mysteriösen Motive zu erkennen, die die Handlungen afrikanischer Stämme beeinflussen.

Jedenfalls war das nächste Resultat das, daß wir einen großen Vorsprung bekamen. Um drei Uhr nachmittags konnten wir schon die Küste von Mazituland und sogar den schwachen Farbenfleck am Himmel erkennen, wo der Union Jack vom Hügel herabflatterte.

Während dieser Stunden aßen wir den Rest unseres Proviantes auf, wuschen uns gründlich und ruhten aus. Im Hinblick auf das, was noch folgen sollte, war es sehr gut, daß wir diese Erholungspause gehabt hatten. Denn gerade als die Brise völlig einschlief, blickte ich mich um, und siehe, da kam die ganze Flotte der Pongokanus noch unter völligem Wind daher, dreißig oder vierzig Boote, und in jedem ungefähr zwanzig bewaffnete Krieger! Wir segelten weiter, solange wir segeln konnten, und trotzdem es nur langsam ging, ging es immer noch schneller, als wenn wir gerudert hätten. Außerdem war es nötig, unsere Kräfte für den Endspurt zu sparen. 300

Als das letzte Restchen Wind eingeschlafen war, waren wir immerhin noch etwas über fünf Kilometer vom Ufer oder vielmehr vom Rande des großen Schilfgürtels entfernt, der in einer Breite von fünf- bis sechshundert Metern die Küste von Mazituland umsäumte. Um diese Zeit waren die Pongo noch vier Kilometer hinter uns. Aber da sie den Wind einige Minuten länger ausnutzen konnten als wir, verminderte sich zuletzt der Zwischenraum bald auf höchstens anderthalb Kilometer. Das bedeutete also, daß sie bis zum Ufer noch fünf Kilometer und wir etwa drei zurückzulegen hatten. Wir warfen, um unser Kanu zu erleichtern, das Segel herunter und mitsamt dem Maste über Bord. Dann begannen wir zu paddeln, was die Kräfte hergaben. Als uns noch fünfzehnhundert Meter vom Rande des Schilfes trennten, hatten sie uns schon bis auf siebenhundert eingeholt, und diese Distanz verringerte sich infolge unserer Ermüdung von Minute zu Minute. Hundertfünfzig Meter vor dem Schilfgürtel waren sie bis auf vierzig oder fünfzig an uns herangekommen.

»Über Bord mit der Pflanze«, rief ich. Aber Stephan, der vor Erschöpfung und mit seinem durchschwitzten Gesicht ganz verändert und alt aussah, keuchte:

»Um Gottes willen, nein, nachdem wir soviel durchgemacht haben, um sie zu bekommen!«

Ich bestand nicht darauf, denn es war weder Zeit noch Atem für Auseinandersetzungen.

Jetzt hatten wir das Schilf erreicht. Durch die Flagge geführt, waren wir direkt auf die große 301 Flußpferdpassage gestoßen. Jetzt waren die Pongo, die wie Rasende ruderten, nur noch etwa zwanzig Meter hinter uns. Gott sei Dank hatte dieses Volk niemals den Gebrauch von Pfeilen und Bogen erlernt, und ihre Speere waren zum Werfen zu schwer. Auch bekamen wir jetzt Hilfe. Der alte Babemba und seine Mazitu und unsere Zulujäger hatten uns gesehen. Die Zulus eröffneten ein wildes Geschieße, mit dem Resultat, daß eine der Kugeln unser Kanu und eine andere meine Hutkrempe traf. Eine dritte allerdings tötete einen Pongo, und das brachte für eine Minute Verwirrung unter die Angreifer.

Aber dennoch schienen sie das Rennen zu gewinnen. Als ihr vorderstes Boot kaum zehn Schritt hinter uns war und wir noch immer über zweihundert vom Ufer, trieb ich mein Paddel grundwärts und fand, daß das Wasser hier höchstens einen Meter tief war.

»Über Bord alle und watet, das ist unsere letzte Hoffnung!« rief ich; wir purzelten heraus, und alles hätte jetzt noch gutgehen können, wenn nicht Stephan, nachdem er sich schon einige Schritte vorwärts gearbeitet hatte, wieder seine geliebte Orchidee eingefallen wäre. Nicht nur, daß er zurücklief, um sie zu retten, sondern er beschwatzte auch seinen Freund Mavovo, ihm dabei zu helfen. Sie packten die Pflanze und hoben sie gerade hoch, als die Pongo sie angriffen, indem sie über das Kanu herüber, das sich jetzt quer in die Passage gelegt hatte, mit ihren Speeren nach den beiden schlugen. Mavovo schlug mit seinem Pongospeer zurück, worauf einer der 302 Kannibalen einen Ballaststein nach ihm schleuderte und ihn seitlich am Kopfe traf. Mavovo sank ins Wasser nieder, erhob sich noch einmal, taumelte fast besinnungslos hin und her, und wäre wohl wieder und endgültig gestürzt, wenn ihn nicht die ersten der uns zu Hilfe eilenden Mazitu gepackt und ans Land geschleppt hätten.

Stephan, allein gelassen, zerrte unentwegt noch immer an der einen Seite der Orchidee. Alsbald aber packte ein Pongo ihre andere Seite, und ein paar Sekunden darauf stieß ein zweiter Stephan seinen Speer durch die Schulter. Da erst ließ dieser die Pflanze los und versuchte zu fliehen. Zu spät! Ein halbes Dutzend Pongo sprangen aus ihrem Boot und über das unsere hinweg ins Wasser, um ihn zu packen oder niederzustoßen. Ich konnte ihm nicht helfen. Denn ich war gerade in ein tiefes Schlammloch gefallen, und die Mazitu und Zulus waren noch zu weit weg, als daß sie ihm Hilfe hätten bringen können. Er wäre also sicherlich umgekommen, wenn nicht die tapfere Tochter Dogitahs seine üble Lage gesehen und, mit Sprüngen wie ein Leopard durch das Wasser zurückschießend, ihm zu Hilfe gekommen wäre.

Sie warf sich zwischen Stephan und die Pongo und begann mit gellender Stimme und erstaunlicher Zungengeläufigkeit die furchtbarsten Flüche der Pongo-Religion auf die Köpfe der Angreifer herabzuschleudern. Die Wirkung dieser Beschwörung war prompt und gründlich. Die Pongo blieben wie versteinert stehen, ließen die speerbewaffneten Hände 303 und vor lauter Ehrerbietung sogar die Köpfe sinken, und gaben dadurch den beiden genügend Zeit zu entkommen. Den Kopf nach rückwärts und die Augen fest auf die Wilden gerichtet, brachte das Mädchen den Verwundeten in Sicherheit.

Die Heilige Blume sah ich noch einmal, und zwar zum letztenmal in meinem Leben. Ich sah sie über dem Schilf auftauchen, als sie von den Pongo hochgehoben und in eins ihrer Boote gebracht wurde. – Das war das Ende meiner Orchideenjagd – und auch des Geldes, das ich beim Verkauf dieser Kostbarkeit zu machen gehofft hatte. Ich wüßte gern, was aus ihr geworden ist. Auf der Insel ist sie nicht wieder eingepflanzt worden. Vielleicht hat sie die Rückreise in jene düsteren, bis heute unbekannten Regionen Afrikas gemacht, aus denen die Pongo sie vor Hunderten von Jahren mitbrachten.

Inzwischen waren wir alle mit Hilfe unserer Freunde ans Ufer gekommen. Hier brachen Hans, die Damen und ich vollständig erschöpft zusammen, während Bruder John noch soviel Kraft fand, unsere beiden Verwundeten Stephan und Mavovo zu verbinden.

Dann begann die Schlacht im Schilfe. Die Pongo, rasend vor Wut über den Tod ihres Gottes und seines Priesters Motombo und die Verschleppung der »Mutter der Blume«, griffen an wie verwundete Büffel. Sie sprangen aus ihren Kanus und strebten durch das Schilf dem Ufer zu. Hier wurden sie von ihren Erbfeinden, den Mazitu, unter dem Kommando des alten Babemba in Empfang genommen. Ein wildes Handgemenge begann. 304

Im großen ganzen sah es aus, als ob die Pongo, die hier in ihrem Element waren, den Sieg davontragen würden – wenn nicht die Gewehre der Zulujäger gewesen wären. Obgleich ich selbst nicht mehr imstande war, auch nur einen Schuß abzufeuern, gelang es mir doch, die Zuluschützen um mich zu sammeln und ihr Schießen zu dirigieren. Hierdurch wurden die Pongo so in Schrecken versetzt, daß sie nach einem Verlust von zehn oder zwölf Mann plötzlich kehrtmachten und Hals über Kopf wieder in ihre Boote hineinkletterten.

Auf ein Hornsignal hin tauchten sie dann die Ruder ins Wasser und glitten, uns noch immer mit Flüchen und Verwünschungen überschüttend, zum Kanal hinaus in offenes Wasser. Ihre Boote wurden bald kleiner und kleiner und verschwanden schließlich ganz.

Zwei der Kanus wurden erbeutet und mit ihnen sechs oder sieben Pongo. Die Mazitu wollten sie natürlich sofort umbringen, aber auf Befehl Bruder Johns, der unter ihnen ja dieselbe Autorität genoß wie der König selbst, wurden ihnen die Arme gebunden, und sie wurden als Gefangene mitgenommen.

In einer halben Stunde war alles vorüber. Was sich an diesem Tage sonst noch ereignete – darüber kann ich nichts berichten. Denn mir wurde unsagbar elend, und ich verlor schließlich die Besinnung, was wohl zu verstehen ist; man vergegenwärtige sich nur, was wir in diesen vierundeinhalb Tagen, seit wir von der Mazituküste aufgebrochen waren, alles erlebt hatten. 305

 


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