Rider Haggard
Die heilige Blume
Rider Haggard

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17. Kapitel

Die Heimat der Heiligen Blume

Eine halbe Stunde verging. Ich war damit beschäftigt, einesteils unsere Lage zu überdenken, andernteils Stephans Hymnen anzuhören. Erst schwärmte er von der Lieblichkeit der Heiligen Blume, auf die er einen Blick geworfen hatte, als er auf die Mauer geklettert war, und dann schwärmte er von der Schönheit der Augen jener jungen Dame in Weiß. Ich konnte ihn nur mit Mühe davon abhalten, in den heiligen Raum einzubrechen, in dem die Orchidee wuchs. Plötzlich öffnete sich die Türe, und Johns Tochter erschien.

»O ihr Herren,« sagte sie mit einer höflichen, kleinen Verbeugung und in ihrem drolligen Bibelenglisch, »die Mutter und der Vater, – jawohl, der Vater – fragen, ob ihr nicht essen wollt?«

Wir antworteten: »Jawohl, mit Vergnügen!« – und sie führte uns ins Haus.

Hier nahm sie mich bei der Hand, und von Stephan gefolgt, traten wir ein, während Mavovo und Hans draußen Wache hielten.

Das Haus bestand aus zwei Räumen, einem Wohn- und einem Schlafzimmer. Im ersten fanden wir Bruder John und seine Frau. Sie saßen auf 273 einer Art Sofa und blickten einander in die Augen. Beide sahen aus, als ob sie geweint hätten – vor Glück, nehme ich an.

»Elisabeth,« sagte John, als wir eintraten, »dies ist Herr Allan Quatermain, durch dessen Mut und Umsicht allein wir wieder zusammengekommen sind, und dieser junge Herr hier ist sein Gefährte, Herr Stephan Somers.«

Sie verbeugte sich. Sie war unfähig zu sprechen, und hielt uns nur die Hand entgegen, die wir schüttelten.

»Was ist ›Mut und Umsicht‹?« hörte ich ihre Tochter Stephan zuflüstern. »Habt Ihr das auch, Stephan Somers?«

»Es würde lange dauern, Ihnen das zu erklären«, sagte er mit vergnügtem Lachen, worauf ich nicht mehr auf ihren Unsinn hörte.

Dann setzten wir uns zur Mahlzeit nieder, die aus Gemüsen und einer großen Schüssel hartgekochter Enteneier bestand. Ein Teil davon wurde Hans und Mavovo durch Johns Tochter Hoffnung hinausgebracht. Diesen Namen hatte die Mutter dem Mädchen gegeben, als sie es in der Stunde ihrer tiefsten Verzweiflung gebar.

Es war eine ungewöhnliche Geschichte, die Frau Eversley – das war der eigentliche Name Bruder Johns, wie sich jetzt herausstellte – zu erzählen hatte.

Sie war Hassan-Ben-Mohammed und den Sklavenhändlern entronnen und nach tagelangem Herumirren einigen Pongo in die Hände gefallen. Diese hatten sie über den See nach Pongoland gebracht, und dort wurde sie an Stelle der jüngst gestorbenen 274 bisherigen Mutter der Blume, einer Albino, in ihr göttliches Amt eingesetzt. Der Kalubi jener Zeit hatte sie auf die Insel geführt. Den Affengott hatte sie noch nie zu Gesicht bekommen, obgleich sie ihn einmal hatte brüllen hören.

Kurz nach ihrer Ankunft auf der Insel gebar sie ihre Tochter, wobei einige der »Dienerinnen der Blume« hilfreiche Assistenz leisteten. Von diesem Augenblick an waren sie und das Kind mit der allergrößten Verehrung behandelt worden. Denn da die Mutter der Blume und die Blume selbst als Verkörperung der natürlichen Fruchtbarkeit angesehen wurden, hielten die Pongo die Geburt dieses Kindes in bezug auf ihre zusammenschmelzende Rasse für ein glückliches Omen. Auch konnte späterhin das »Kind der Blume« der Mutter in ihrem Amte nachfolgen. In dieser Weise hatten die beiden Frauen, absolut hilflos und verlassen, die langen Jahre verbracht. Glücklicherweise hatte Frau Eversley, als sie gefangengenommen wurde, eine kleine Bibel bei sich. Mit Hilfe derselben war sie imstande gewesen, ihr Kind lesen und alles, was sonst in der Heiligen Schrift erzählt wird, zu lehren.

Merkwürdigerweise hatte sie, wie sie uns erzählte, gleich ihrem Gatten all diese endlosen Jahre hindurch niemals den Glauben daran verloren, daß sie eines Tages gerettet werden würde.

Es war erstaunlich. Fräulein Hoffnung war trotz dieser völligen Einsamkeit und Abgeschlossenheit doch in jeder Hinsicht zu einer richtigen Dame erzogen worden, und beide Frauen waren, wie sich 275 herausstellte, nachdem die erste Erschütterung des Wiedersehens vorüber war, heitere und glückliche Naturen, denen das Lachen näher lag als das Weinen.

Nachdem Frau Eversley ihre Geschichte zu Ende erzählt hatte, berichteten wir in kürzester Form die unsere. Dann sagte Fräulein Hoffnung:

»So dünkt es mich, Stephan Somers, Ihr seid unser Heiland.«

»Sicher,« antwortete Stephan, »aber wieso?«

»Weil Ihr die trockene Heilige Blume saht, weit weg von hier, in England, und Ihr sagtet: ›Ich muß der heilige Vater dieser Blume sein.‹ Dann habt Ihr Schekel bezahlt (hier kam ihr Bibelstudium zum Vorschein) für die Reise und tapfere Männer geworben, um den Teufelgott zu töten, und Ihr habt meinen alten, weißköpfigen Vater mitgebracht. O ja, Ihr seid der Heiland«, und sie nickte ihm lieblich zu.

»Selbstverständlich,« antwortete Stephan mit Enthusiasmus, »das heißt, es ist zwar nicht ganz so, aber das ist ja nebensächlich. Aber, Fräulein Hoffnung, könnten Sie uns unterdessen nicht die Blume zeigen?«

»O, die heilige Mutter muß das tun, wenn Ihr sie, ohne daß sie dabei ist, anschaut, müßt Ihr sterben.«

»So, so!« sagte Stephan, ohne seinen Blick über die Mauer vorhin zu erwähnen.

Nach einigem Zögern erklärte sich die heilige Mutter einverstanden. Zuerst jedoch ging sie hinter das Haus und klatschte in die Hände, worauf eine taubstumme alte Frau und eine Albino-Eingeborene erschienen, die uns erstaunt betrachteten. Frau 276 Eversley sprach in der Fingersprache mit ihnen, so schnell, daß ich ihren Bewegungen kaum folgen konnte. Die Frauen verbeugten sich, bis ihre Stirn beinahe den Boden berührte, dann standen sie auf und rannten zum Wasser.

»Ich habe sie weggeschickt, um die Paddeln vom Kanu zu holen«, sagte Frau Eversley, »und mein Zeichen darauf zu machen. Niemand wird dann wagen, sie zu benutzen, um über den See zu fahren.«

»Sehr klug gehandelt,« antwortete ich, »wir wünschen nicht, daß Neuigkeiten über uns zum Motombo gelangen.«

Dann gingen wir zu der Umzäunung. Frau Eversley zerschnitt hier zunächst mit einem Messer einen Strick von Palmfasern, der mit einem Tonsiegel an das Tor geheftet war. Das dazugehörige Petschaft trug sie als Symbol ihres Amtes an einer Kette um den Hals. Es war ein merkwürdiges kleines Ding aus Gold, und es zeigte in rohen Umrissen einen Affen, der in seiner rechten Hand eine Blume hielt. Ohne Zweifel war es uralt, und das schien zu beweisen, daß der Affengott und die Orchidee in der Tat seit alters her von den Pongo angebetet wurden.

Darauf öffnete sie das Tor. Vor uns stand eine Pflanze, die lieblichste, die wohl jemals eines Menschen Auge erblickt hat. Sie maß annähernd drei Meter, ihre Blätter waren dunkelgrün, lang und schmal. Aus verschiedenen Blütenkronen leuchteten in unbeschreiblicher Schönheit zehn oder zwölf riesengroße purpur- und goldfarbene Blüten. Wie uns die Mutter erklärte, deuteten die Pongo die 277 Fruchtbarkeit eines Jahres nach der Anzahl der Blüten, die ihre heilige Blume trieb. Es kam vor, daß sie einmal ein Jahr lang ganz ohne Blüten blieb. Dann bedrohte nach ihrem Glauben Dürre und Hungersnot das Land. Schon auf mich machte diese wundervolle Blume einen Eindruck, der sich nicht in Worte fassen läßt. Doch was Stephan betrifft – ich befürchtete, er würde verrückt werden. Lange, lange starrte er wortlos auf dieses Blumenwunder, und zuletzt ließ er sich vor ihr buchstäblich auf die Knie nieder.

»Was, Stephan Somers!« rief Fräulein Hoffnung aus. »Betet Ihr auch die Heilige Blume an?«

»Beinahe,« antwortete er, »ich könnte – ich würde – für sie sterben!«

»Wozu Sie wahrscheinlich auch noch Gelegenheit haben werden, ehe alles vorüber ist,« bemerkte ich mit Nachdruck, »denn ich hasse es, zu sehen, wie ein erwachsener Mann einen Hanswurst aus sich macht. Es gibt nur etwas auf der Welt, was das entschuldigt – und das ist keine Blume –«

Als ich mich an der Schönheit dieser Blütenherrlichkeit sattgesehen hatte, fragte ich Frau Eversley nach der Bedeutung verschiedener kleiner Hügel, die hier und dort innerhalb der Umzäunung aufragten.

»Das sind die Gräber der früheren Mütter der Heiligen Blume«, antwortete sie. »Es sind ihrer zwölf, und hier ist der Platz, der für die dreizehnte ausgesucht worden ist. Für mich.«

Dann, um von anderen Dingen zu reden, fragte ich, ob es noch mehr solcher Orchideen im Lande gäbe. 278

»Nein,« antwortete sie, »oder ich habe wenigstens von keiner weiteren gehört. Man hat mir immer gesagt, daß dieses Exemplar hier vor langer, langer Zeit von weither hergebracht wurde. Auch gibt es ein altes Gesetz, das ihre Vermehrung verbietet. Jeder Sprößling, der etwa aufschießt, muß von mir unter gewissen Zeremonien abgeschnitten und vernichtet werden. Sie sehen diesen Stengel hier mit dem Samen, der von den Blüten des letzten Jahres übriggeblieben ist. Der Samen ist jetzt reif, und in der nächsten Mondnacht, wenn der Kalubi kommt, um mich zu besuchen, muß ich diesen Samen in seiner Gegenwart mit großer Feierlichkeit verbrennen, es sei denn, die Kapsel ist schon, bevor er ankommt, von selbst aufgesprungen. Dann muß ich jeden Keim unter denselben Feierlichkeiten vernichten.«

Als wir den Platz verließen, machte ich von meinem Grundsatze, niemals irgend etwas von Wert liegenzulassen, was ich wegtragen konnte, Gebrauch. Ich brach die reife Samenkapsel, die ungefähr die Größe einer Orange hatte, ab und steckte sie, ohne von jemand dabei beobachtet zu werden, stracks in die Tasche.

Wir drei Älteren gingen wieder ins Haus. Stephan und die junge Dame blieben innerhalb der Umzäunung, um weiter die Cypripedium – oder sich selber gegenseitig zu bewundern.

»John und Frau Eversley,« sagte ich, »durch die Gnade des Himmels sind Sie nach einer schrecklichen Trennung von über zwanzig Jahren nun 279 wieder vereinigt. Aber was soll jetzt geschehen? Jener sogenannte Gott ist tot, und deshalb können wir ohne Gefahr durch den Wald gehen. Aber jenseits des Waldes kommt das Wasser, das wir ohne Boote nicht passieren können, und jenseits des Wassers haust jener alte Hexenmeister, der Motombo, und er sitzt in seiner Höhle auf der Lauer wie eine Spinne in ihrem Gewebe, und außer dem Motombo und seiner Höhle gibt es den Komba, den neuen Kalubi, und seinen Stamm von Menschenfressern –«

»Menschenfressern!« unterbrach mich Frau Eversley, »ich habe niemals gewußt, daß sie Kannibalen sind. Ich weiß in Wirklichkeit wenig über die Pongo, die ich fast niemals zu Gesicht bekomme.«

»Dann, Madame, müssen Sie mir glauben, daß sie wirklich Kannibalen sind. Ich glaube, sie würden uns mit dem größten Appetit verzehren. Da ich nicht annehme, daß Sie den Rest Ihres Lebens hier auf dieser Insel verbringen wollen, möchte ich Sie fragen, wie Sie sich unsere Flucht aus Pongoland vorstellen?«

Sie schüttelten die Köpfe, die augenscheinlich vollständig bar von Einfällen waren. John strich seinen weißen Bart und fragte mild:

»Was haben Sie arrangiert, Allan? Meine liebe Frau und ich sind durchaus einverstanden, die ganze Angelegenheit Ihnen, der Sie ja so umsichtig sind, zu überlassen.«

»Arrangiert?!« stotterte ich. »Ich will Ihnen einmal etwas sagen, John, unter anderen Umständen – na, lassen wir das.« Nach kurzem Nachdenken 280 rief ich Hans und Mavovo, die sofort hereinkamen und sich niederkauerten. »Nun,« sagte ich, nachdem ich ihnen den Fall auseinandergesetzt, »was habt ihr arrangiert?«

»Mein Vater treibt seinen Spott mit uns«, sagte Mavovo mit tiefem Ernst. »Kann eine Ratte in einem Loch, vor dem ein Hund wartet, arrangieren, wie sie herauskommt? Wir sind hierher gekommen gerade wie die Ratte ins Loch. Doch jetzt sehe ich nichts als den Tod.«

»Sehr aufmunternd,« sagte ich, »nun ist die Reihe an dir, Hans.«

»O Baas,« erwiderte der Hottentotte, »eine Weile lang war ich wieder gescheit, nämlich als mir der Gedanke kam, die Flinte in den Bambus zu stecken, aber nun ist mein Kopf wieder wie ein verfaultes Ei, und wenn ich versuche, Weisheit herauszuschütteln, so schwabbt mein Gehirn von einer Seite nach der anderen wie die Brühe im verfaulten Ei. Aber halt, ich habe einen Gedanken, – wir wollen die junge Frau fragen. Ihr Gehirn ist jung und nicht müde. Den Baas Stephan zu fragen hat keinen Zweck, denn sein Gehirn ist voll von anderen Dingen«, und er grinste vielsagend.

Mehr um Zeit zu gewinnen als aus irgendeinem anderen Grunde rief ich Fräulein Hoffnung, die gerade mit Stephan aus dem Heiligtum der Blume trat, und legte ihr die Frage vor. Ich sprach sehr langsam und klar, so daß sie mich verstehen konnte. Zu meinem Erstaunen antwortete sie sofort.

»Was ist ein Gott, Herr Allan? Ist er nicht mehr 281 als ein Mensch? Kann ein Gott tausend Jahre in einem Loch festgehalten werden wie Satan in der Bibel? Wenn ein Gott weggehen will, um neue Länder zu sehen, wer kann zu ihm sagen: Nein!?«

»Ich verstehe noch nicht ganz«, sagte ich, um noch mehr aus ihr herauszuholen, obgleich ich schon zu wissen glaubte, worauf sie hinaus wollte.

»O Allan, die Heilige Blume da ist ein Gott, und meine Mutter ist ihre Priesterin. Wenn die Heilige Blume dieses Landes müde ist, und sie will irgendwo anders hin, warum soll die Priesterin sie nicht forttragen?«

»Ausgezeichneter Gedanke,« sagte ich, »aber sehen Sie, Fräulein Hoffnung, es gibt, oder besser, es gab zwei Götter, und einer davon kann nicht mehr auf Reisen gehen.«

»Oh, das ist auch sehr leicht, man ziehe die Haut des Gottes der Wälder diesem Manne an,« und sie zeigte auf Hans, »und wer sieht einen Unterschied? Sie sind wie zwei Brüder, nur ist dieser ein wenig kleiner.«

»Sie hat's! Bei meiner Tante, sie hat's erfaßt!« rief Stephan mit Begeisterung aus.

»Was sagt die junge Dame?« fragte Hans mißtrauisch.

Ich erzählte es ihm.

»Oh, Baas!« rief Hans aus. »Denke doch an den Gestank, der von der Haut des Gottes aufstieg, als wir sie in die Sonne legten! Außerdem war der Gott ein sehr großer Gott, und ich bin nur ein kleiner Mann.« Dann drehte er sich um und machte prompt 282 Mavovo den Vorschlag, den Rock anzuziehen, indem er darauf hinwies, er sei größer und passe viel besser hinein.

»Lieber will ich sterben!« antwortete der große Zulu. »Soll ich, der ich das Blut von Königen in den Adern habe, und der ich ein Krieger bin, mich selbst lächerlich machen, indem ich die Haut einer toten Bestie anziehe und als Affe vor den Menschen erscheine? Sage mir das noch einmal, gefleckte Schlange, und ich schlage dir meinen Kerri auf den Kopf.«

»Schau einmal her, Hans,« sagte ich, »Mavovo hat recht, er ist ein Soldat, und er ist gewaltig in der Schlacht. Du bist auch gewaltig, aber du bist gewaltig in deinem Verstand, und wenn du ihn gebrauchst, wirst du alle die Pongo zum Narren halten. Und ich glaube, es ist besser, Hans, daß du die Haut eines Gorillas ein paar Stunden lang trägst, als daß ich, dein Herr, und alle diese anderen hier getötet werden.«

»Ja, Baas, es ist wahr, Baas. Es wird Spaß machen, diese Pongo noch einmal zu täuschen, und Baas, ich möchte nicht sehen, daß du getötet wirst, nur um mir einen Gestank oder auch zwei zu ersparen. So will ich, wenn du es wünschest, den Gott spielen.«

So war diese Angelegenheit durch die Selbstaufopferung dieses guten Burschen Hans, der also in Wirklichkeit der eigentliche Held dieser Geschichte ist, erledigt, soweit in unserer Lage überhaupt etwas als erledigt bezeichnet werden konnte. Dann machten wir aus, daß wir morgen bei Tagesgrauen zu unserem verzweifelten Abenteuer aufbrechen wollten.

Bis dahin gab es noch viel zu tun. Zuerst rief 283 Frau Eversley ihre Dienerinnen zusammen; fast alle von ihnen waren Albinos, und sie waren überwiegend entweder taub oder stumm. Sie sagte ihnen, daß der Gott, der in den Wäldern gewohnt hatte, gestorben sei. Deshalb müsse sie die Heilige Blume, die »Weib des Gottes« genannt wurde, zum Motombo bringen und ihm Bericht über das schreckliche Geschehnis erstatten. Unterdessen hätten sie hier auf der Insel zu bleiben und die Felder weiter zu bearbeiten.

Dieser Befehl versetzte die armen Geschöpfe, die sichtlich sehr an ihrer Herrin und deren Tochter hingen, in höchste Bestürzung. Die älteste von ihnen, eine große, dünne alte Dame mit weißer Wolle und Rubinenaugen, wie Stephan sagte, warf sich der Mutter zu Füßen, küßte sie und fragte, wann sie zurückkehren würde; denn sie und die »Tochter der Blume« wären alles, was sie zum Liebhaben hätten, und ohne sie würden sie vor Kummer sterben.

Die Mutter antwortete, daß sie es nicht wüßte; das hinge von dem Willen des Himmels und des Motombo ab.

Dann machten wir uns an die Ausgrabung der Heiligen Blume.

Die große Pflanze wurde auf eine Matte gelegt und ihre Wurzeln von Stephan in feuchtes Moos verpackt. Dann wurde die Mitte um das Ganze herumgeschlagen und festgebunden, und jeder einzelne Blütenstengel bekam eine Bambusschiene, um ein Abbrechen zu verhindern. Zuletzt wurde das ganze Bündel auf eine Art von Bahre gesetzt und darauf festgeschnallt. 284

Unterdessen war es dunkel geworden, und wir alle waren hundsmüde.

Stephan und ich schliefen neben der verpackten Blume, und das war gut. Denn ungefähr um Mitternacht sah ich beim Licht des Mondes die Türe sich leise öffnen und die Köpfe einiger Albinofrauen hereinlugen. Zweifellos waren sie gekommen, um die Heilige Blume zu stehlen. Ich richtete mich auf, hustete und hob das Gewehr, woraufhin sie flohen und sich nicht mehr sehen ließen.

Noch lange vor Tagesanbruch waren Bruder John, seine Frau und seine Tochter auf und trafen die letzten Vorbereitungen zum Aufbruch. Beim letzten Mondlicht frühstückten wir, und beim ersten Schimmer des Tages setzten wir uns in Marsch.

Frau Eversley und ihre Tochter sagten dem Ort, an dem sie in vollständiger Einsamkeit und in ungestörtem Frieden so lange Jahre gelebt hatten, mit traurigen Mienen Lebewohl.

Ich bestand darauf, daß die beiden Damen, trotzdem es keine leichte Last für sie war, die Blume trugen. Denn es war gut, den Eindruck zu erwecken, daß sich die Heilige Blume in Obhut ihrer bestallten Priesterinnen befand. Ich ging mit dem Gewehr voraus, dann kam die Bahre mit der Blume, und die Nachhut bildeten Bruder John und Stephan.

Als wir die Blume verfrachteten, erschienen die unglücklichen Sklavinnen noch einmal am Ufer, warfen sich auf die Gesichter nieder und flehten mit Worten und Gebärden Mutter und Tochter an, sie nicht zu verlassen. Da wir den Dienerinnen aber 285 nicht helfen konnten, schoben wir das Kanu so rasch als möglich ins Wasser und hörten noch lange das Weinen und Rufen der Verlassenen. Am andern Ufer angekommen, versteckten wir das Boot dort, wo wir es gefunden hatten, und begannen unseren Marsch. Stephan und Mavovo, die zwei Stärksten von uns, trugen jetzt die Pflanze. Stephan sagte keinen Ton wegen ihres Gewichtes, aber man hätte hören sollen, wie der Zulu schon nach der ersten Viertelstunde fluchte! Wäre er nicht so gut Freund mit Stephan gewesen, er hätte sicherlich die Bahre schon nach den ersten hundert Schritt einfach hingeworfen.

Wir kreuzten den Garten des Gottes. Hier hatte, wie mir Frau Eversley sagte, der Kalubi jedes Jahr zweimal die heilige Saat ausstreuen müssen. Bei dieser Gelegenheit wurde dann der Priester, den die Bestie nicht mehr leiden konnte, von ihr angegriffen. Diese Überfälle verteilten sich meist auf eineinhalb Jahre. Bei der ersten Gelegenheit zeigte der Affe seine Abneigung, indem er beim Anblick des Priesters brüllte. Bei der zweiten packte er gewöhnlich seine Hand und biß ihm einen Finger ab, so wie es unserem Kalubi geschehen war, eine Wunde, die gewöhnlich infolge Blutvergiftung den Tod nach sich zog. Wenn der Priester jedoch geheilt wurde, so tötete ihn der Affe dann sicherlich bei seinem nächsten Besuch, indem er ihm den Kopf zwischen seinen mächtigen Kinnbacken zermalmte. Wenn der Kalubi diese Besuche machte, wurde er von einigen ausgewählten Jünglingen begleitet, von denen der Gott stets einige umbrachte. Diejenigen, die die Reise 286 sechsmal gemacht hatten, ohne umgebracht zu werden, mußten dann noch einige besondere Prüfungen bestehen, bis zuletzt gewöhnlich nur zwei übrigblieben. Von diesen hieß es dann, sie wären »an dem Gott vorbeigegangen« oder »durch den Gott angenommen«. Diese Jünglinge wurden mit größter Ehrerbietung behandelt. Bis schließlich der gegenwärtige Kalubi eines Tages von dem Gorilla getötet und einer der beiden Auserwählten Kalubi wurde. Frau Eversley wußte nichts von der heiligen Zeremonie der Verspeisung des toten Priesters und von der Beisetzung seiner Knochen in den eisernen Särgen. Solche Dinge schien man ihr absichtlich ferngehalten zu haben.

Ich fragte, ob auch der Motombo den Gott besuchte. Sie berichtete mir, das geschehe etwa alle fünf Jahre. Nach vielen mystischen Zeremonien verbrachte er dann jedesmal eine Woche im Urwalde immer zur Zeit des vollen Mondes. Einer der Kalubis wollte bei dieser Gelegenheit einmal den Motombo und den Gott zusammen unter einem Baume sitzen gesehen haben, jeder den Arm um des anderen Schulter geschlungen, und sie hätten sich dabei unterhalten »wie Brüder«.

Noch etwas brachte ich in Erfahrung, und das bestätigte Babembas Geschichte. Es wurden manchmal Gefangene von anderen Stämmen in den Wald gebracht, damit sich der Gott daran ergötze, sie zu töten. Auch uns war dieses Schicksal bestimmt gewesen.

Hinter dem Garten des Gottes kamen wir zu der 287 Lichtung, wo wir die Affenhaut ausgebreitet hatten. Sie war trocken und dadurch etwas kleiner geworden. Außerdem aber hatten Waldameisen, wie Hans mit Freude feststellte, alle daran verbliebenen Fleischreste aufs sauberste abgeknabbert. Die Haut selbst schien ihnen zu zäh gewesen zu sein. Aber auch die Bestie selbst hatten die fleißigen kleinen Geschöpfe ratzekahl aufgefressen. Nichts war übriggeblieben als die reinen weißen Knochen, und die lagen noch in derselben Stellung da, in der wir den Kadaver verlassen hatten.

Dann machten wir uns daran, den Kopf, die Hände und die Füße mit feuchtem Moos auszustopfen, um die Formen möglichst natürlich zu erhalten. Das Ganze war keine leichte Bürde. Bruder John und Hans trugen sie keuchend über einem Aste auf ihren Schultern.

Mit dieser Last und mit der Blume bepackt, kamen wir nur sehr langsam voran, und die Sonne ging fast schon unter, als wir den Begräbnisplatz erreichten, wo wir uns niedersetzten, um zu rasten und zu essen und um die Lage zu besprechen.

Was war zu tun? Der Flußarm mit dem stehenden Wasser lag jetzt vor uns. Aber wir hatten kein Boot, um hinüberzukommen.

Ich rief Hans. Die anderen auf dem Friedhofe zurücklassend, gingen wir zum Wasser hinunter, um die Lage zu studieren. Wir hielten uns sorgsam hinter den Binsen und dem mangrovenartigen Ufergebüsch versteckt. Fernes Wetterleuchten deutete auf ein Gewitter hin. 288

Wir schauten auf das dunkle, trübe Wasser und auf die Krokodile. Zu Dutzenden saßen sie wartend herum, seit Ewigkeiten wartend, ich weiß nicht, worauf eigentlich. Wir schauten auf die steil aufschießenden Klippen gegenüber. Aber außer der Stelle, wo die Höhle mündete, brandete das Wasser überall unmittelbar gegen Felsenmauern. Unverkennbar war die einzige Fluchtmöglichkeit der Weg durch die Höhle. Und kein Baumstamm war zu finden, auf dem wir zur Not hätten übersetzen können, und ebensowenig trockenes Schilf oder Buschwerk, um eine Art Floß daraus zu machen.

»Wenn wir kein Boot bekommen können, müssen wir hierbleiben«, bemerkte ich kopfschüttelnd zu Hans, der hinter mir unter einem Busche kauerte.

»Baas,« sagte Hans nachdenklich, »du mußt hinunterschwimmen zu dem Motombo und ihn mit der kleinen Flinte durch den Kopf schießen. Dann nimmst du das Kanu aus der Höhle und holst uns alle ab.«

»Die Krokodile«, sagte ich.

»Baas, die Krokodile gehen zu Bett, wenn ein Sturm kommt; denn sie haben Angst, der Blitz würde sie wegen ihrer Sünden töten.«

Ich hatte tatsächlich oft gehört und manchmal auch beobachtet, daß diese großen Reptilien bei bewegtem Wasser verschwinden. Wahrscheinlich weil auch ihre Nahrung verschwindet. Doch wie immer, im nächsten Augenblick hatte ich mich entschlossen.

»Ich werde es versuchen, Hans«, sagte ich. 289

 


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