Rider Haggard
Die heilige Blume
Rider Haggard

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16. Kapitel

Die Götter

Brüllend warfen sich die Pongosoldaten auf uns. Mavovo gelang es noch, mit seinem Speer einen Mann niederzustoßen, für uns andere aber waren sie zu schnell. Binnen einer halben Minute hatten sie uns die Speere aus den Händen gerissen und uns sechs, oder besser sieben, denn der Kalubi war dabei, in das Kanu hinuntergeworfen. Etliche Soldaten unter Kombas Führung sprangen nach, und im nächsten Augenblick schon fuhren wir über den schmalen Kanal, der die Felsenklippen und die Höhle von dem Fuß des Berges trennte.

Als wir die Mündung der Höhle passierten, rief Motombo Komba den Befehl zu:

»Kalubi, setze den gewesenen Kalubi und die drei weißen Männer und ihre drei Diener an der Grenze des Waldes ab, kehre dann zurück und gehe heim. Ich allein will hier warten. Wenn alles vorbei ist, werde ich dich rufen.«

Komba beugte den Kopf als Antwort.

Einige Minuten später waren wir schon am anderen Ufer.

»Landet, weiße Herren, landet,« sagte Komba mit äußerster Höflichkeit, »und geht, besucht den Gott, 249 der schon auf euch wartet. Und jetzt, da wir uns nicht wiedersehen werden – lebt wohl. Ihr seid klug, und ich bin töricht, aber hört dennoch auf meinen Rat. Wenn ihr jemals wieder zur Erde zurückkehrt, so haltet euch an euren eignen Gott, wenn ihr einen habt, und kümmert euch nicht um die Götter anderer Völker. Nochmals: lebt wohl.«

Der Ratschlag war ausgezeichnet, aber in jenem Augenblick fühlte ich einen Haß gegen Komba, der fast übermenschlich zu nennen war. Mir schien sogar der Motombo ein Engel des Lichts im Vergleich zu ihm.

Dann wateten wir durch den zähen Schlamm an Land. Die Speerspitzen der Pongosoldaten, die unsere Rücken kitzelten, beschleunigten unseren Marsch. Bruder John schritt mit einem Lächeln auf seinem freundlichen Gesicht voraus, und der elende Kalubi machte den Schluß. So groß war dessen Entsetzen vor diesem ominösen Ufer, daß er von seinem Nachfolger Komba buchstäblich aus dem Boote hatte herausgeworfen werden müssen. Doch als er eben den Fuß aufs Land gesetzt hatte, kehrte ein Funke seines Geistes zu ihm zurück, er machte kehrt und rief Komba zu:

»Erinnere dich, o Kalubi, daß mein heutiges Schicksal das deine von morgen sein wird. Du weißt, der Gott wird seiner Priester leicht überdrüssig. Es kann morgen sein, nächstes Jahr oder noch später, aber einmal wird es sein.«

»Dann, o Kalubi von gestern,« antwortete Komba höhnisch, und sein Kanu stieß vom Ufer, »bitte den 250 Gott für mich, daß es ein späteres Jahr sein möge; bitte ihn, wenn deine Knochen in seiner Umarmung zerbrechen.«

Und nun, was denkst du, Leser, was dieser junge Draufgänger Stephan über unsere schauderhafte Lage zu sagen hatte?

»Hier sind wir also endlich, Allan, alter Junge, und sogar ohne daß wir uns hätten selber herbemühen müssen. Diese Mühe hat die Vorsehung uns freundlicherweise abgenommen. Fein, was? Hipp hipp hurra!«

Wahrhaftig, er tanzte in dem spritzenden Schlamm herum, warf seine Mütze in die Höhe und brüllte vor Vergnügen!

Ich warf ihm nur einen Blick zu und knurrte das einzige Wort: »Idiot.«

Durch die Vorsehung hergebracht! Fein! Nun, es ist nur ein Glück, daß die Verrücktheit mancher Leute dennoch manchmal zum Guten ausschlägt. Dann fragte ich den Kalubi nach der Wohnung des Gottes.

»Überall«, antwortete er und bewegte seine zitternde Hand gegen den düsteren Forst. »Vielleicht hinter diesem Baum, vielleicht hinter jenem, vielleicht auch weit weg. Wir werden es wissen, ehe es Morgen wird.«

»Was ist nun zu tun?« fragte ich barsch.

»Sterben«, antwortete er.

»Jetzt höre einmal zu, du Narr«, schrie ich und schüttelte ihn. »Du kannst ja sterben, wenn du willst, 251 aber wir wollen es nicht! Führe uns nach einem Platz, wo wir vor diesem Gotte sicher sind.«

»Man ist nirgends sicher vor dem Gott, Herr, vor allem nicht in seinem eigenen Hause«, sagte er und schüttelte den Kopf.

Plötzlich setzte der Kalubi sich in Bewegung. Ich fragte ihn, wo er hingehe.

»Zum Begräbnisplatz«, antwortete er. »Bei den Knochen dort liegen Speere.«

Ich spitzte die Ohren; denn wenn man nichts als ein Taschenmesser bei sich hat, sind Speere nicht zu verachten, und ich befahl ihm, uns hinzuführen. Eine Minute danach kletterten wir bergan durch den dichten schwarzen Wald, der jetzt, kurz vor der hereinbrechenden Nacht, doppelt düster und unheimlich aussah.

Drei- oder vierhundert Schritt brachten uns zu einer Art Lichtung, wo eine Anzahl großer eiserner Kisten stand. Auf dem Deckel jeder dieser Kisten lag ein zertrümmerter Schädel.

»Gewesene Kalubis!« murmelte unser Führer.

»Sieh, Komba hat meine Kiste schon bereitgestellt«, und er wies auf eine, dessen Deckel abgehoben war.

»Wie vorsorglich von ihm!« sagte ich. »Aber zeige uns die Speere, bevor es ganz dunkel wird.« Er ging zu einer der neueren Kisten hin und bat mich, ihm den Deckel abheben zu helfen.

Ich tat es und erblickte eine Anzahl von Knochen, jeder in verrottetes Leinenzeug eingewickelt. Daneben lagen einige Töpfe und Geschirre und zwei 252 gute kupferne Speere. Aus den anderen Kisten zogen wir noch einige heraus, bis schließlich jeder von uns zwei solcher Waffen in Händen hielt. Das Holz der Speere war zwar durch Alter und Feuchtigkeit ein wenig vermodert, aber da die kupfernen Enden festgeschmiedet waren, konnten sie uns doch noch nützlich sein.

»Armselige Dinger, um einen Teufel damit zu bekämpfen«, sagte ich.

»Ja, Baas,« sagte Hans schmunzelnd, »ganz armselig. Ein Glück, daß ich etwas Besseres habe.«

Ich starrte ihn an; wir alle starrten ihn an.

»Was hast du denn Besseres, gefleckte Schlange?« fragte Mavovo.

»Was meinst du mit deinem Geschwätz, du Urenkel von lauter großen Narren? Ist jetzt Zeit für Späße? Und ist nicht ein Spaßmacher unter uns genug?« herrschte ich ihn an und sah auf Stephan.

»Was ich meine, Baas? Weißt du nicht, daß ich die kleine Büchse bei mir habe, die Intombi? Jene, mit der du damals auf Dingaans Kral Geier geschossen hast? Ich habe dir nichts davon gesagt, ich dachte, du wüßtest es; auch weil es besser war, falls du es wirklich nicht wußtest, es dir noch besonders zu sagen. Denn wenn du es gewußt hättest, hätten diese Pongo es schließlich auch leicht erfahren, und wenn die es gewußt hätten –«

»Verrückt!« unterbrach ihn hier Bruder John und tippte sich an die Stirn, »vollständig verrückt geworden, der arme Bursche. Nun, unter diesen niederdrückenden Umständen ist es nicht zu verwundern.« 253

Ich schaute mir Hans nochmals an, er sah gar nicht verrückt aus, sondern nur noch durchtriebener als sonst.

»Hans,« fuhr ich ihn an, »sage uns jetzt sofort, wo dieses Gewehr ist, oder ich haue dir eine mächtige Ohrfeige herunter.«

»Wo, Baas? Siehst du es noch immer nicht, da es doch vor deinen Augen liegt?«

»Sie haben recht, John,« sagte ich, »er ist übergeschnappt.«

Stephan sprang jetzt auf Hans zu und begann ihn zu schütteln.

»Laß mich, laß mich, Baas,« sagte er, »sonst beschädigst du das Gewehr.«

Und dann machte Hans irgend etwas mit dem Ende seines großen Bambusstabes, drehte ihn vorsichtig herum, und heraus glitt der Lauf eines Gewehres, sorgsam mit Lumpen umwickelt und die Mündung mit einem Propfen verschlossen!

Ich hätte ihn küssen mögen. In der Tat, so groß war meine Freude, daß ich diesen häßlichen, übelriechenden alten Hottentotten hätte abküssen mögen!

»Der Kolben,« keuchte ich, »der Lauf ist zu nichts nütze ohne den Kolben, Hans.«

»Oh, Baas,« antwortete er, übers ganze Gesicht grinsend, »denkst du, daß ich all diese Jahre mit dir zusammen gejagt habe, um jetzt nicht zu wissen, daß ein Gewehr einen Kolben haben muß, damit man es halten kann?«

Damit streifte er das Bündel von seinem Rücken, löste den Knoten der Decke und brachte den großen 254 gelben Kopf von Tabakblättern zum Vorschein, der schon am Ufer des Sees meine eigene und Kombas Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Er brach den Klumpen auseinander, und heraus kam der Kolben und das Schloß der Büchse mit einem schon aufgesetzten Zündhütchen. Ein Stückchen Watte war zwischen Hammer und Zündloch geklemmt, um eine zufällige Explosion zu verhüten.

»Hans,« rief ich begeistert aus, »Hans, du bist ein Held und dein eigenes Gewicht in Gold wert!«

»Ja, Baas, obgleich du mir so etwas nie zuvor gesagt hast. Ich hatte mir fest vorgenommen, daß ich niemals wieder im Angesicht des alten Mannes (des Todes) schlafen wollte. Nun, wer von euch sollte jetzt auf dem Bett schlafen, das dieser bösartige Bausi mir geschickt hat?« fragte er, als er das Gewehr zusammensetzte. »Ich glaube du, du großer, dummer Mavovo; denn du hast kein Gewehr mitgebracht. Wenn du wirklich den Namen eines Zauberers verdientest, hättest du die Gewehre durch die Luft hierhergeschickt, damit wir sie hier vorfanden. Oh! Wirst du nun noch weiter über mich lachen, du Dickkopf von einem Zulu?«

»Nein,« antwortete Mavovo bereitwillig, »ich will dir Sibonga geben. Jawohl, ich will dir Ehrentitel geben, du kluge, gefleckte Schlange.«

»Und doch,« fuhr Hans fort, »doch bin ich nicht ganz ein Held; ich bin nur vielleicht die Hälfte meines Gewichtes in Gold wert; denn, Baas, obgleich ich genügend Pulver und Kugeln in meiner Tasche habe, habe ich die Zündhütchen aus einem Loche in meiner 255 Weste heraus verloren. Du erinnerst dich doch, Baas, daß ich dir sagte, es wären Amulette, die ich verloren hätte. Nun sind nur noch drei übrig; nein, vier, denn eins ist ja am Schloß. So, Baas, hier ist Intombi, geladen und fertig zum Schießen. Und nun, wenn der weiße Teufel kommt, kannst du ihm ins Auge schießen und ihn zu den andern Teufeln in die Hölle schicken. Oh! Was wird sich dein ehrwürdiger Vater, der Prediger, freuen, wenn er ihn da unten sieht,«

»Ich danke Gott,« sagte Bruder John feierlich, als Hans mir mit einem selbstzufriedenen Grinsen das Gewehr übergab, »er hat diesen armen Hottentotten gelehrt, wie er uns retten sollte.«

»Nein, Baas John, Gott hat es mich nicht gelehrt, ich habe selber nachgedacht. Aber seht, es wird dunkel. Sollten wir nicht lieber ein Feuer anzünden?« Und das Gewehr vergessend, begann er, sich nach Holz umzusehen.

»Hans,« rief ihm Stephan nach, »wenn wir jemals aus diesem Schlamassel herauskommen, werde ich dir fünfhundert Pfund geben, oder vielmehr mein Vater wird sie dir geben, was auf dasselbe herauskommt.«

»Ich danke dir, Baas, aber augenblicklich wäre mir ein Tropfen Schnaps lieber, und außerdem sehe ich kein Stückchen Holz.«

Er hatte recht. Außerhalb dieses Kirchhofes lagen allerdings etliche mächtige, heruntergebrochene Äste, aber sie waren viel zu groß und außerdem so mit 256 Feuchtigkeit vollgesogen, wie alles in diesem Walde, daß ihr Holz sicherlich kein Feuer fing.

Die Dunkelheit brach herein. Es war keine vollständige Finsternis. Der Mond stand hoch, aber der Himmel war bewölkt; außerdem schienen die Riesenbäume ringsum jeden Lichtstrahl förmlich aufzusaugen. Wir kuschelten uns, Rücken an Rücken, mitten auf dem Platze zusammen, warfen uns die Decken über und aßen ein wenig getrocknetes Wildfleisch und gerösteten Mais, von dem Jerry glücklicherweise einen Sack voll bei sich trug und den er auch nicht losgelassen hatte, als wir in das Kanu geworfen wurden.

Kurz darauf geschah etwas. Ganz tief im Walde erscholl plötzlich ein dumpfes Gebrüll, gefolgt von einem dunklen dröhnenden Trommeln, Töne, wie sie keiner von uns je zuvor gehört hatte. Sie waren mit denen eines Löwen oder einer anderen Bestie ganz und gar nicht zu vergleichen.

»Was ist das?« fragte ich.

»Der Gott,« stöhnte der Kalubi, »der Gott, der sein Gebet zum Monde spricht, mit dem er zugleich immer aufsteht.«

Ich sagte nichts. Aber ich dachte, daß die vier Schuß, die wir hatten, nicht viel waren, und daß nichts mich verleiten sollte, einen von ihnen zu verschwenden. Warum hatte auch Hans diese morsche Weste anziehen müssen!

Es wurde wieder still, und John begann den Kalubi auszufragen, wo die Mutter der Blume wohne.

Auf einmal war mir's, als nähme ich einen 257 riesenhaften Schatten wahr, der mit schrecklicher Geschwindigkeit vom Rande der Lichtung her auf uns zuschoß. In der nächsten Sekunde hörte ich, nur zwei oder drei Schritt von mir entfernt, ein scharrendes Geräusch und dann einen erstickten Schrei, und ich sah den Schatten in derselben Richtung, aus der er gekommen war, wieder verschwinden.

»Was ist los?« fragte ich.

»Zünden Sie ein Streichholz an,« antwortete Bruder John, »es muß etwas passiert sein.«

Das Streichholz brannte gut, denn die Luft war ganz still. Bei seinem Scheine sah ich zuerst die erschrockenen Gesichter meiner Gefährten – wie gespensterhaft sie aussahen! – und als nächstes das des Kalubi, der aufgestanden war und seinen rechten Arm in der Luft schwang, einen rechten Arm, von dem das Blut herabströmte und der keine Hand mehr hatte!

»Der Gott ist gekommen und hat meine Hand abgebissen!« sagte er mit schwacher, wimmernder Stimme.

Ich glaube, keiner von uns sprach ein Wort; die Sache war jenseits aller Vorstellung, aber wir versuchten dem Verwundeten wenigstens den Arm abzubinden. Dann setzten wir uns nieder und wachten weiter.

Die Finsternis wurde noch dichter, und eine Zeitlang wurde das Schweigen – das tiefe Schweigen des Urwaldes in einer Tropennacht – nur durch unser schweres Atmen, das Summen von ein paar Moskitos, das entfernte Plätschern eines 258 untertauchenden Krokodils und durch das unterdrückte Stöhnen des verstümmelten Mannes unterbrochen.

Wieder sah ich, oder glaubte wenigstens zu sehen – es mag etwa eine halbe Stunde später gewesen sein –, wie ein schwarzer Schatten auf uns zufuhr, wie ein Hecht auf einen Fisch im Teiche. Wieder ein Scharren dicht an meiner Linken – Hans saß zwischen mir und dem Kalubi – und dann ein kurzabgebrochener Aufschrei.

»Der König ist fort«, flüsterte Hans. »Ich fühlte, wie er verschwand, als ob der Wind ihn weggeblasen hätte. Wo er war, ist jetzt nichts als ein Loch.«

Plötzlich brach der Mond durch die Wolken. In seinem schwachen Licht sah ich ungefähr halbwegs zwischen uns und dem Rande der Lichtung – oh, was sah ich! Es war, als zerreiße der Teufel eine verlorene Seele. Eine ungeheuerliche, schwarzgraue Kreatur, grotesk und menschenähnlich, hielt den hageren Kalubi in ihren Pranken. Sein Kopf war schon in ihrem Rachen verschwunden, und die mächtigen Arme des Ungeheuers schienen dabei zu sein, ihn in Stücke zu zerbrechen.

Augenscheinlich war der Kalubi schon tot obgleich seine Füße hoch über dem Boden noch konvulsivisch zuckten. Ich sprang auf, nahm die Bestie aufs Korn und drückte ab. Doch schien entweder das Zündhütchen oder das Pulver ein wenig feucht zu sein; die Explosion verzögerte sich um den Bruchteil einer Sekunde. Und in dieser unendlich kleinen Zeit sah uns dieser Teufel – das ist der beste Name, den ich ihm geben kann –, oder vielleicht sah er nur 259 das Aufblitzen aus dem Schloß des Gewehrs. Auf jeden Fall ließ er den Kalubi fallen, und instinktiv, als hätte ihn irgend etwas vor dem gewarnt, was ihn bedrohte, warf er seinen mächtigen rechten Arm in die Höhe, so als ob er seinen Kopf schützen wolle. Dann ging der Schuß los, und ich hörte die Kugel aufschlagen. Im Schein des Mündungsfeuers sah ich noch den großen Arm der Bestie tot und unbehilflich herunterfallen, und im nächsten Augenblick widerhallte der Wald von seinem tobenden Gebrüll.

»Du hast ihn getroffen, Baas,« sagte Hans, »und es schmerzt ihn. Das beweist, daß er kein Gott ist. Aber er ist immer noch sehr lebendig.«

»Rückt zusammen,« antwortete ich, »und haltet die Speere vor euch, während ich lade.«

Ich fürchtete, daß die Bestie über uns herfallen würde, doch nichts derartiges geschah. Die ganze lange Nacht hindurch sahen und hörten wir nichts mehr von ihr. Ich begann zu hoffen, daß die Kugel lebenswichtige Teile verletzt habe und der große Affe verendet sei.

Die Stunden vergingen wie Wochen, bis endlich die Dämmerung anbrach und die Sonne unsere weißen Gesichter und vor Kälte zitternden Gestalten beleuchtete.

Gleich nachdem sich der Nebel ein wenig gehoben hatte, streiften wir in breiter Linie über die Lichtung, um die Leiche des Kalubi zu bergen. Die Eisenkiste, die Komba freundlicherweise für ihn bereitgestellt hatte, nahm seine körperlichen Reste auf, und Bruder John sprach ein kurzes Gebet. Dann 260 gingen wir in niedergedrückter Stimmung auf die Suche nach dem Weg zum Wohnplatz der Heiligen Blume. Anfangs war der Pfad leidlich zu erkennen, doch auf der Höhe des Hügels schlossen sich die Kronen der Bäume so dicht zusammen, daß unter denselben fast völlige Nacht herrschte.

Mir, der ich als einziger mit einem Gewehr bewaffnet war, blieb die zweifelhafte Ehre, die Prozession anzuführen.

Eine Viertelstunde später hörten wir wieder das Rollen und Dröhnen, Töne, die von der Bestie, wie ich glaube, dadurch erzeugt wurden, daß sie sich mit den Fäusten auf die Brust schlug.

Doch schienen diese Töne nicht mehr so anhaltend und nicht ganz so stark zu sein wie letzte Nacht.

»Ha!« sagte Hans, »er kann seine Trommel jetzt nur noch mit einem Schlegel schlagen, den andern hat deine Kugel zerbrochen, Baas.«

In diesem Augenblick brüllte das Ungeheuer ganz in unserer Nähe und so laut, daß die Luft erzitterte.

»Was auch dem Schlegel geschehen sein mag, die Trommel ist auf jeden Fall noch in Ordnung«, sagte ich.

Ungefähr hundert Schritt weiter ereignete sich die Katastrophe. Wir hatten eine Stelle erreicht, wo ein großer Baum niedergefallen war, so daß ein wenig Licht herabdrang. Ich sehe den Schauplatz heute noch vor mir. Dort vor uns lag der mächtige Waldriese, seine Rinde unter Massen von grauem Moos und Büscheln von Mädchenhaarfarren verhüllt. Durch das Loch in der Decke des Waldes fiel ein schmaler 261 Lichtstrahl herein, wie durch das Rauchloch einer Hütte. Und über dem moosgrauen Berg, den der gefällte Waldriese bildete, zwischen zwei Farrenbüscheln, glühten ein paar feurige Augen aus dem Dunkel, und dahinter erschienen undeutlich die Umrisse eines gigantischen Leibes. Einzelheiten konnte ich nicht erkennen. Ich hatte nur den vagen Eindruck eines mächtigen, dunklen Gesichtes mit überhängenden Augenbrauen und großen, gelben Zähnen an beiden Seiten des Maules.

Ehe ich auch nur Zeit fand, das Gewehr an die Backe zu reißen, war die Bestie mit einem kurzen brüllenden Aufschrei schon über uns. Ich sah eine riesige graue Gestalt auf dem Rande des Stammes; ich sah sie wie einen Blitzstrahl an mir vorbeifahren, aufrecht, wie Menschen gehen, doch den Kopf vorgereckt. Ich bemerkte, daß der mir zugekehrte Arm hin und her baumelte, und hörte einen Schreckensschrei. Das Ungeheuer hatte den armen Mazitu Jerry gepackt, den vorletzten in unserer Reihe. Es hatte ihn in einem Augenblick gepackt und sprang im nächsten, den Körper des Unglücklichen mit dem gesunden Arm an seine ungeheure Brust pressend, davon. Wenn ich sage, daß Jerry, ein ausgewachsener, untersetzter Mann mit breiten Schultern, gegen diese Bestie aussah wie ein Kind, gibt das wohl eine Vorstellung von der Größe der Kreatur.

Mavovo, der den Mut eines Büffels hatte, sprang dem Affen nach und trieb ihm seinen Kupferspeer in die Seite. Auch die andern warfen sich wie Berserker auf das Ungetüm, ausgenommen ich selbst. 262 Innerhalb von drei Sekunden gab es in der Mitte der Lichtung ein wildes Durcheinander. Bruder John, Stephan, Mavovo und Hans stachen wie die Rasenden auf den enormen Gorilla los, obgleich ihm die Stöße nicht mehr Schaden zuzufügen schienen wie Stecknadelstiche. Zum Glück ließ das Biest Jerry nicht los, und da es nur noch einen gesunden Arm hatte, konnte es nach seinen Angreifern nur schnappen. Wenn es einen Fuß gehoben hätte, um sie damit zu zerreißen, wäre wahrscheinlich sein mächtiger Rumpf aus dem Gleichgewicht gekommen und hingeschlagen.

Jetzt schien es die Situation zu begreifen. Das Untier warf Jerry krachend hin, rannte Bruder John und Hans über den Haufen und sprang dann auf Mavovo los, der sofort den Speerschaft gegen seine Brust stemmte, mit dem Resultat, daß der Gorilla direkt in das Blatt der Waffe hineinsprang. Er prallte zurück, schwang seinen mächtigen Arm, wobei er Stephan über den Haufen warf, und hob dann den Arm hoch in die Luft, um Mavovo mit einem Schlage zu zerschmettern.

Das war die Gelegenheit, auf die ich gewartet hatte. Bis zu diesem Augenblick hatte ich nicht zu feuern gewagt aus Furcht, einen meiner Gefährten zu treffen. Jetzt stand das Tier für den Bruchteil einer Sekunde frei da, und mich zur Ruhe zwingend, zielte ich auf den mächtigen Kopf und schoß. Der Rauch trieb weg, und ich sah den gigantischen Affen ganz still und aufrecht dastehen, als wäre er in Nachdenken versunken. 263

Dann warf er den gesunden Arm hoch, drehte die brutalen Augen zum Himmel aufwärts, und mit einem heulenden, langsam ersterbenden Schrei sank er tot nieder. Die Kugel war dicht hinterm Ohr eingeschlagen und bis ins Gehirn gegangen.

Das große Schweigen des Urwaldes umfing uns wieder, und minutenlang sagte oder tat keiner von uns etwas. Dann machte sich irgendwo in den grauen Moosmassen eine dünne zitternde Stimme vernehmlich, die mich an das Geräusch eines undicht gewordenen Gummikissens erinnerte, aus dem die Luft entweicht.

»Sehr guter Schuß, Baas,« piepste es, »ebensogut wie jener, mit dem du die Königsgeier auf Dingaans Kral tötetest. Aber wenn der Baas den Gott von mir herunterwälzen könnte, würde ich sagen – danke schön.«

Das »danke schön« war fast nicht mehr zu hören. Und das war kein Wunder, denn der arme Hans war bewußtlos geworden. Er lag unter dem mächtigen Rumpfe des Gorillas, nur seine Stumpfnase und sein Mund lugten zwischen Körper und Armen der Bestie hervor! Wäre nicht die weiche Moosdecke unter ihm gewesen, er wäre plattgedrückt worden wie ein Eierkuchen.

Wir wälzten, so geschwind wir nur konnten, den Kadaver herunter und flößten dem Hottentotten ein paar Tropfen Schnaps ein. Ihre Wirkung war wundervoll. In weniger als einer Minute saß Hans aufrecht, dann schnappte er nach Luft wie ein sterbender Fisch und bat um mehr. Ich überließ ihn 264 Bruder John zur weiteren Behandlung und ging, nach dem armen Jerry zu sehen. Ein Blick genügte. Er war tot.

Nachdem wir festgestellt hatten, daß keiner von uns, von ein paar unwesentlichen Beulen abgesehen, ernstlich verletzt worden war, untersuchten wir den gewaltigen Affen.

Wir hatten keine Möglichkeiten, sein genaues Gewicht oder seine Größe festzustellen. Aber ich habe niemals wieder einen so ungeheuren Affen gesehen oder von der Existenz eines solchen gehört. Die vereinten Kräfte von fünf Männern waren nötig, um den Kadaver von dem darunterliegenden Hans wegzuwälzen und ihn hernach von der einen Seite auf die andere zu rollen, als wir daran gingen, ihm die Haut abzuziehen. Ich hätte nie gedacht, daß ein so altes Tier, auch bei einer Höhe von über zwei Metern, ein solches Gewicht erreichen könnte. Ohne Zweifel war der Affe uralt. Die langen gelben, hundeartigen Zähne waren stark abgenutzt, die Augen lagen tief im Schädel, das Kopfhaar, das gewöhnlich rot oder braun ist, war ganz weiß, und sogar die nackte Brust, die eigentlich schwarz sein sollte, hatte einen grauen Ton. Vielleicht hatte der Motombo wirklich recht, als er sagte, dieses Geschöpf sei über zweihundert Jahre alt.

Stephan schlug vor, die Haut abzuziehen, und ich stimmte zu, trotzdem Bruder John in seiner Ungeduld etwas von »Zeitverschwendung« murmelte. So machten wir uns ans Werk. Aber wir brauchten mehr als eine Stunde harter Arbeit, ehe wir die Haut 265 herunter hatten. Sie war zäh und dick, und die Kupferspeere waren nur wenig ins Fleisch eingedrungen. Dagegen hatte die Kugel, die ihn in der vorhergegangenen Nacht traf, den Knochen so schwer beschädigt, daß der Arm bewegungslos geworden war. Diese Tatsache hatte uns wohl das Leben gerettet. Denn dadurch, daß der Affe Jerry packte, hatte er keine Pranke übrig, mit der er uns hätte niederstoßen und zermalmen können, und glücklicherweise hatte er auch damit keinen Erfolg gehabt, einen von uns mit seinen fürchterlichen Kinnladen zu packen.

Wir legten die große schwere Haut in die Mitte der Lichtung, und nachdem wir den armen Jerry in der Höhlung eines gefällten Baumes beigesetzt hatten, lagerten wir uns im Moose und aßen vom Rest unseres Proviantes.

Dann setzten wir, natürlich in weit besserer Stimmung als zuvor, unsern Marsch fort. Jerry war tot, das war richtig, doch der Gott war ebenfalls tot, und wir andern waren lebendig und so gut wie unverletzt. Niemals mehr würden die Kalubi von Pongoland ihr Leben zu Füßen dieser schrecklichen Gottheit aushauchen. Ich glaube mit Ausnahme von zweien, die aus Angst Selbstmord begangen hatten, war kein einziger dieser Herrscher jemals anders gestorben als durch die Hände oder Zähne des Affengottes.

Kurz hinter der Lichtung stießen wir auf eine andere, von Menschenhänden gerodete Fläche. Hier war offenbar der sogenannte »Garten des Gottes«, wo zweimal jährlich der unglückliche Kalubi die künftige Saat zu säen hatte. Umgeben von einem 266 Gürtel von Bananen, wuchsen hier hohe Maisstauden, Hirse, Erdnüsse und andere Feldfrüchte. Hier holte sich, wie wir an verschiedenen Anzeichen sahen, der Affe seine Nahrung. Der »Garten« war gut in Ordnung und fast frei von Unkraut. Ich erinnerte mich, den Kalubi sagen zu hören, daß diese Anpflanzung von den Dienerinnen der Mutter der Heiligen Blume in Ordnung gehalten wurde.

Wir kreuzten den Garten und stiegen den Berg hinauf. Bruder John trabte, ungeachtet seines lahmen Beines, so rasch voraus, daß wir kaum folgen konnten. Er kam als erster oben an, und ich sah ihn plötzlich, wie von einem Schwächeanfall übermannt, zu Boden sinken. Und auch Stephan, der neben ihm stand, hob, wie es schien, vor Erstaunen die Hände.

Ich eilte ihnen nach. Und ich sah dieses: Uns zu Füßen erstreckte sich ein steiler, grasbewachsener Abhang hinunter bis zum Ufer eines schönen kleinen Sees. In der Mitte dieses Sees schwamm auf dem blauen Wasser eine liebliche kleine Insel. Sie war über und über mit Feldern, Palmen und anderen Fruchtbäumen bedeckt. In der Mitte der Insel stand ein nettes, behagliches, mit Schindeln gedecktes Haus. In einiger Entfernung davon lagen ein paar Eingeborenenhütten und dazwischen ein kreisrunder, von einer hohen Mauer umgebener Platz. Auf der Mauer waren Pfähle angebracht, und diese Pfähle trugen Matten, die den Raum überspannten, so als ob irgend etwas vor Wind und Sonne zu beschützen wäre. 267

»Dort wächst die Heilige Blume, ganz sicher«, sagte Stephan aufgeregt – konnte er denn an nichts als an diese verdammte Orchidee denken? »Sehen Sie, die Matten sind an der Sonnenseite aufgespannt, und jene Palmen ringsum sind besonders zu dem Zwecke gepflanzt, um ihr Schatten zu geben.«

»Dort lebt die Mutter der Heiligen Blume«, flüsterte Bruder John, auf das Haus zeigend. »Wer ist sie? Wer ist sie –? Sich vorzustellen, daß ich mich nach allem noch irren könnte! Gott! Laß es nicht zu, daß es ein Irrtum ist, es würde mehr sein, als ich tragen kann.«

»Das beste ist, wir versuchen, es festzustellen«, bemerkte ich und lief im Galopp den Hang hinunter.

Nach fünf Minuten waren wir unten und fanden nach etlichem Suchen ein Kanu und eine genügende Anzahl Paddeln.

Zwei Minuten später ruderten wir über den See. Drüben angekommen, machten wir das Boot fest. Die völlige Stille ringsum und das Fehlen von Menschen machten mich stutzig.

Und doch hatte das seine guten Gründe, wie ich später herausbekam. Erstens war jetzt gerade Mittag, eine Stunde, in der alle Eingeborenen in ihren Hütten essen und schlafen. Zweitens hatte die wachhabende Frau uns beim Rudern über den See wohl gesehen, aber sie hatte angenommen, der Kalubi käme die Heilige Blume besuchen, und sie hatte sich, der Tradition gemäß, samt den übrigen Dienerinnen zurückgezogen. Denn bei den seltenen Zusammenkünften des Kalubi mit der Mutter der 268 Heiligen Blume durfte, wie bei einer religiösen Zeremonie, niemand anwesend sein.

Als wir zu dem ummauerten Platz kamen, kletterte Stephan, noch ehe ich ihn daran hindern konnte, mit der Behendigkeit eines Affen die Mauer hinauf. Im nächsten Augenblick war er wieder unten. Er war mit der Geschwindigkeit eines Menschen, der eine Kugel durch den Kopf bekommen hat, heruntergesaust.

»Oh! Bei meiner Tante!« sagte er. »Oh! Bei meiner Tante und allem, was lebt!« – und etwas anderes war nicht aus ihm herauszubringen.

Fünf Schritt von der Mauer entfernt erhob sich ein hoher Rohrzaun. Er hatte ein Tor, ebenfalls aus Rohr geflochten. Es war ein wenig geöffnet. Ich schlich hin, denn mir war's, als hörte ich Stimmen drinnen, und lugte durch den Türspalt. Zwei Meter entfernt lag die Veranda. Eine Tür führte in das Innere des Hauses, in dem ich einen mit Speisen bedeckten Tisch erkennen konnte.

Die Veranda war mit Matten belegt, und auf den Matten knieten, in weiße Gewänder gekleidet und mit Armbändern und anderem Schmuck aus rotem Eingeborenengold behangen – zwei weiße Frauen! Die eine schien ungefähr vierzig Jahre alt zu sein. Sie war ein wenig untersetzt, hatte eine helle zarte Hautfarbe, blaue Augen und blondes Haar, das über ihren Rücken niederhing. Die andere mochte etwa zwanzig Jahre alt sein. Auch ihre Gesichtsfarbe war weiß, doch hatte sie graue Augen, und ihr langes Haar war nußbraun. Ich sah sofort, daß sie groß 269 und sehr schön war. Die ältere Frau betete, während die jüngere neben ihr kniete und ein wenig zerstreut zum Himmel emporblickte. Ich verstand den Wortlaut ihres Gebetes nicht, aber »Amen«, in das das Mädchen mit einem eigenartigen, lieblichen Akzent einstimmte, hörte ich ganz deutlich. Verstohlen sah ich mich nach Bruder John um. Er war vor Aufregung zusammengebrochen. Glücklicherweise war er nicht imstande, sich zu rühren oder auch nur zu sprechen.

»Haltet ihn fest,« flüsterte ich Stephan und Mavovo zu, »ich gehe hinein und spreche mit den Frauen.« Dann übergab ich Hans das Gewehr, nahm meinen Hut ab, und nach einem vergeblichen Versuch, meinen wilden Schopf ein wenig glatt zu streichen, drückte ich die Tür noch ein bißchen weiter auf, schlüpfte hindurch und räusperte mich.

Die beiden Frauen starrten mich an, als sähen sie einen Geist.

»Meine Damen,« sagte ich mit einer Verbeugung, »bitte seien Sie nicht beunruhigt. Sehen Sie, manchmal gefällt es dem allmächtigen Gott, Gebete zu erhören. Kurz gesagt, ich bin einer von – von einer Gesandtschaft weißer Leute, die unter einigen Schwierigkeiten bis hierher gekommen sind und – und – würden Sie uns erlauben, Sie zu besuchen?«

Noch immer starrten die beiden. Endlich öffnete die ältere Frau die Lippen.

»Ich werde hier Mutter der Heiligen Blume genannt, und es bedeutet für einen Fremden den Tod, mit der Mutter zu sprechen. Wenn Sie aber ein 270 Mensch sind, wie konnten Sie lebendig bis hierher kommen?«

»Das ist eine lange Geschichte«, antwortete ich munter. »Dürfen wir hereinkommen? Ich glaube, wir könnten Ihnen einen Dienst erweisen. Ich möchte hinzufügen, daß drei von uns Weiße sind. Zwei sind Engländer, und einer ist – Amerikaner.«

»Amerikaner,« keuchte sie, »Amerikaner! Wie sieht er aus und wie heißt er?«

»Oh!« antwortete ich, und ich fühlte, wie mich die Nerven verließen und wie ich in Verwirrung geriet, »er ist alt, und er hat einen weißen Bart, er sieht gerade so aus wie der Weihnachtsmann, und sein Taufname ist – ahem – John, Bruder John. Ich möchte sagen, das heißt ich denke, er könnte mit der jungen Dame da – ahem – nahe verwandt sein.«

Ich dachte, die Frau würde sterben, und ich verwünschte meine Plumpheit. Sie warf dem Mädchen die Arme um die Schultern, um sich vorm Hinsinken zu bewahren, – ein schlechter Halt, denn auch die Jüngere sah aus, als ob die Aufregung sie über den Haufen werfen wollte. Man muß bedenken, dieses arme junge Ding hatte noch nie einen weißen Mann gesehen.

»Meine Damen,« stotterte ich, »ich bitte Sie, sich zusammenzunehmen. Es wäre doch töricht, jetzt vor Freude zu sterben, nicht? Darf ich Bruder John hereinrufen? Er ist Pastor, und er könnte Ihnen vielleicht geistliche Hilfe geben, die ich, als Jäger, nun einmal nicht geben kann.« 271

Sie raffte sich zusammen, öffnete die Augen und flüsterte:

»Schicken Sie ihn herein.«

Ich öffnete das Tor, hinter dem die andern erwartungsvoll standen. Bruder John, der jetzt wieder ein wenig zu sich gekommen war, beim Arme packend, zerrte ich ihn vorwärts. Die beiden standen und starrten einander an, und auch die junge Dame blickte mit weitgeöffneten Augen von einem zum andern.

»Elisabeth!« rief Bruder John. Sie murmelte etwas Unverständliches, dann warf sie sich mit dem Aufschrei: »Mein Mann!« an seine Brust. Ich schlüpfte durch das Tor und schloß es fest zu.

»Sagen Sie mal, Allan,« flüsterte Stephan, »haben Sie sie gesehen?«

»Sie? Wen? Welche?« fragte ich.

»Die junge Dame im weißen Kleide. Sie ist reizend!«

»Halten Sie den Mund, Sie Maulesel«, antwortete ich. »Ist es jetzt Zeit, von weiblicher Schönheit zu reden?« – Dann ging ich abseits und – fing vor Freude zu weinen an. Das war einer der glücklichsten Tage meines Lebens. Denn wie selten laufen die Dinge so, wie sie sollen. 272

 


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