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Fünfundzwanzigstes Kapitel.

Für den 29. März hatte Dora Hartwig vom Direktor Hälby Urlaub erhalten. Sie ging schon früh zu Frau Till, und bereits um halb zehn Uhr traf sie bei dieser ein. Die alte Frau führte sie in die Küche. Die Tür derselben hatte in ihrem oberen Teile Fenster, welche mit Vorhängen verhüllt waren.

Frau Till hatte einen Sessel aus Tecks Zimmer herübergebracht, den sie Dora anbot. Sie selber setzte sich auf ihren Küchenstuhl. »Noch war sie nicht da,« sagte sie dabei.

»Hoffentlich kommt sie bald,« entgegnete Dora, »diese Wäscherin mit den feinen Händen, die so schnell beim Fensteröffnen ist, die aber die Blumenstöcke dann verkehrt hinstellt. Irgend etwas Dummes macht halt jeder Gauner. Aber auch ich selber hab' gestern eine Dummheit gemacht. Ich hab' ja ganz vergessen zu fragen, wie die Frau heißt.«

»Das weiß ich selber nicht. Der Schultz hat sie dem Herrn Baron empfohlen, und da ist sie mit einer Karte vom Herrn Schultz her'kommen, und ich wenigstens hab' sie nicht um ihren Namen gefragt. Auch muß man's sagen: billiger und schöner wäscht nicht so leicht eine.«

»Ob sie's wohl auch selber tut? Sie sag'n doch, daß sie ganz zarte, feine Handerln hat.«

»Das ist richtig.«

»Na seh'n S'!«

»Aber daß sie so schlecht sein soll! Sie schaut so treuherzig drein.«

Dora Hartwig lachte laut auf. »Was für eine gute Seel' Sie sind, Frau Till! Wann die Gauner nicht nobel oder treuherzig ausschau'n täten, gingen ihre Geschäfte schlecht. – Also, Frauerl, achtgeb'n! Wenn die Person kommt, muß ich sie genau sehen können, und während Sie ihr im Zimmer drinnen den Tee übergeben, geh' ich weg.«

»Wenn s' Ihnen nur nicht doch auskommt!«

»Das wird schon nicht geschehen. So – und jetzt mach' ich lieber gleich die Zimmertür auf, und vor das Küchenfenster zieh'n wir den Vorhang, damit es hier nicht gar so hell ist.«

Die beiden Frauen mußten nicht mehr lange auf das Eintreffen der »Wäscherin« warten.

Es war zehn Uhr eben vorüber, da läutete es an Frau Tills Tür. Die Erwartete trat eilig ein und erzählte, noch atemlos vom raschen Gehen, daß ihre Gretl fast die ganze Nacht gehustet und im Fieber gelegen habe. Die Frau war ganz verzagt und tat wenigstens der Till recht leid.

Dora, welche sie durch einen Spalt des Vorhanges musterte, verzog den Mund nur zu einem bitteren Lächeln.

Jetzt gingen die zwei Frauen in das Zimmer, und die Tür schloß sich hinter ihnen.

Einen Moment lang wartete Dora noch, dann verließ sie geräuschlos Frau Tills Wohnung.

Im Hause war ein Delikatessenladen. Vor dessen Auslage stehend, erwartete sie das Herabkommen der »Wäscherin«.

Sie brauchte auch nicht lange zu warten. Die Frau hatte sich, von der Angst um ihr Kind gehetzt, nicht lange bei Frau Till aufgehalten. Sie trat so hastig auf die Straße heraus, daß sie an einen Mann anrannte, der ihr dafür eine Grobheit sagte.

Sie achtete nicht darauf, sondern rannte weiter.

Dora folgte ihr. Sie war jetzt sicher, daß ihr die andere keine Beachtung schenken werde. Sie hatte nur dafür zu sorgen, daß sie ihr nicht aus den Augen kam unter den vielen Leuten, welche allzeit die Bürgersteige der Alserstraße beleben.

Im Hause Nummer 6 der Wickenberggasse verschwand die Frau. Dora stieg hinter ihr die Treppe hinauf und sah sie in ihre Wohnung gehen. Die Sache hatte sich ungemein einfach abgewickelt.

Dora las nun ganz ungestört, was auf der Visitenkarte stand, die mit Reißnägeln an der Tür jener Wohnung befestigt war. Da stand: »Gustav Klein, Agent für Beleuchtungskörper.« Sie stutzte, notierte sich die Paar Worte und ging.

Sie fuhr sofort zu dem Kommissär, welcher Tecks Sache führte, konnte ihn zufälligerweise sogleich sprechen, berichtete ihm, was sie in Frau Tills Wohnung und soeben in der Wickenburggasse in Erfahrung gebracht, und schloß daran einen ebenso sachlichen als temperamentvollen Bericht über alles das, was Klementine zwischen der Weihnachtszeit und jetzt geschehen war. Bezüglich des Herrn, der neben Klementine bei Hopfner gespeist, der sich im Warenhaus als Hans Mautner aus Mödling vorgestellt, konnte sie berichten, daß ein Dienstmann, der an der nächsten Straßenecke seinen Standplatz hatte, diesem Herrn an jenem Tage einen Brief mit der Adresse »Klein« in das Gasthaus brachte, ferner daß es richtig einen Hans Mautner in Mödling gäbe, daß dieser jedoch schon seit 13. März verreist sei; und zum Schlusse konnte sie noch erwähnen, daß die Stadtbahnmonatskarte mit der Photographie, die den doppelnamigen Mann darstellte, und die auf den Namen Hans Mautner ausgestellt war, erst am 24. März gelöst worden war, sichtlich nur, um sie zu dem Zweck zu verwenden, dem sie dann wirklich gedient hatte.

Höchlichst interessiert hörte der Kommissär Doras Mitteilungen an, bewunderte im stillen ihre Intelligenz, ihre Energie und ihren Scharfsinn und vergnügte sich an ihrem echt Wienerischen Temperament.

Als sie mit ihrem Bericht fertig war, wollte sie gehen. Sie wußte ja aus ihrem eigenen Leben, wie viel die Zeit wert sei für einen vielbeschäftigten Menschen.

Der Beamte bat sie jedoch, noch zu bleiben. »Da Sie mir so in die Hände gearbeitet haben, sollen Sie es auch so schnell als möglich wissen, wer und was dieser Gustav Klein ist,« sagte er, trat zum Telephon und rief das Auskunftsbureau der Zentrale an.

Da hörte er denn, daß Gustav Klein ein Gewohnheitstaschendieb sei, daß er erst Ende Februar zum dritten Male eine Freiheitsstrafe abgebüßt habe und sich derzeit in Wien aufhalte, daß seine Frau, Isabella Klein, ebenfalls schon zweimal abgestraft sei und als bekannte Ladendiebin von der Polizei beobachtet werde.

»Na also!« sagte Dora Hartwig hoch aufatmend. Dann setzte sie hinzu: »Aber jetzt fällt mir noch etwas ein.«

»Was denn?« fragte der Beamte.

»Es ist da noch ein dritter mit im Spiel.«

»Noch ein dritter?«

»Ja. Ein unbeschreiblich widerwärtiger Kerl. Ich habe Grund anzunehmen, daß Frau v. Lassot ihn angewiesen hat, ihre Nichte zu verfolgen. Der alte Bursche ist nämlich der Rechtsbeistand der Lassot. Er heißt Schimmel, Doktor Schimmel.«

»Warten Sie, Fräulein, auch über diesen wackeren Herrn wollen wir uns noch unterrichten, ehe Sie gehen.«

Wieder rief der Kommissär das Auskunftsbureau an, und dann plauderte er, sehr angeregt von ihrer flotten, lustigen Art, mit ihr, bis die Antwort kam.

Bald wußten beide, daß es einen Advokaten Doktor Eduard Schimmel in Wien gegeben, der aber schon abgestraft und seines Amtes verlustig geworden war. Er wohnte derzeit im ersten Stadtbezirke Wiens, in der Krugerstraße.

»Die Frau v. Lassot hat sich da ja einen ganz famosen Rechtsbeistand ausgesucht!« sagte sarkastisch lächelnd der Kommissär, während er seinen Besuch zur Tür geleitete.

Dora begab sich nun in ihre Wohnung. Sie traf gegen ein Uhr daselbst ein und fand Klementine in großer Unruhe.

»Ernst ist noch immer nicht dagewesen!« Das waren die ersten Worte der Baronesse, als Dora in ihr Zimmer trat.

»Wird wohl auch heute nicht kommen,« erwiderte Dora, schloß Klementine in ihre Arme und küßte sie herzhaft. Dann schob sie sie von sich und schaute sie mit ihren lebhaften Augen an. »Kinderl,« sagte sie dabei, »Sachen passier'n – Sachen, die –«

»Ich verstehe Sie nicht. Sie sind ja geradezu lustig!«

»Bin ich auch, Baroneßl! Bin ich von ganzer Seele und hab' auch alle Ursach' dazu.«

Sie zog die Nadeln aus ihrem Hut, nahm ihn ab, setzte sich steif in die Mitte des niedlichen Sofas und lud Klementine durch eine großartige Geste ein, ebenfalls Platz zu nehmen..

Kopfschüttelnd setzte sich die Baronesse.

»Also, hören Sie!« begann Dora.

Aber weiter kam sie nicht. Ihre Tante steckte den Kopf zur Tür herein und sagte: »Baroneß, ein Herr Braun will Sie sprechen.«

Mit einem jauchzenden Laut des Glückes eilte Klementine auf die Tür zu. Aber da angelangt, sanken ihre schon erhobenen Arme nieder, und alle Farbe wich aus ihrem Gesichte.

»Ja, ja – ich bin nicht der Eugen, ich bin der Konrad Braun, mein Fräulein,« sagte der alte Herr, der auf der Schwelle stand.

Klementine trat zur Seite. »Setzen Sie sich, Herr Braun. Das Stehen ist nicht gut für Sie,« sagte sie sanft und schob ihm, der merkbar hinkte, einen Stuhl zu, auf welchen er ächzend sank.

Dora hatte sich erhoben und wollte gehen.

Klementine hielt sie fest. »Bitte, bleiben Sie bei mir,« bat sie dringlich. »Ich werde Ihr Zeugnis brauchen.«

»Wofür?« warf Braun ein.

»Dafür, daß ich Eugen zweimal sein Wort zurückgegeben habe. Fräulein Hartwig weiß das und zwar nicht nur durch mich.«

»Gewiß,« bestätigte Dora, »ich weiß das.«

»Ich auch,« sagte ruhig der alte Herr.

»Warum kommen Sie also zu mir?« fragte Klementine. »Oder wissen Sie, daß Eugen jeden Augenblick hier sein kann, und wollen Sie etwa seine Freiheit vor mir schützen? Fürchten Sie nichts. Ich werde ihn schon davon überzeugen, daß er Offizier bleiben muß, daß sein Verzicht keinen Zweck mehr hätte, denn mich kann er ja doch nicht heiraten.«

»Warum denn nicht?«

Klementine schaute verwirrt bald auf Braun, bald auf Dora, die auch sehr erstaunt war.

»Sagen Sie mir doch, warum Eugen Sie nicht mehr heiraten kann,« fuhr der Fabrikbesitzer gemütlich fort. »Sie beide haben sich doch in all dem Jammer ganz famos bewährt.«

»Ob sie sich bewährt haben!« warf Dora mit stolzem Lächeln ein.

Der alte Herr zog ein Päckchen Briefe aus seiner Tasche. »Die Briefe sind seit heute früh in meiner Hand,« sagte er, »und ich habe sie gelesen; zuerst eigentlich nur neugierig, aber dann hat mir das Herz dabei weh getan, weil ich euch beiden ganz unnötig so lange Zeit weh getan habe.«

»Herr Braun!«

»Sagen Sie ruhig Onkel zu mir.«

»Sind Sie denn trotz allem mit unserer Verbindung einverstanden?«

»Für mich existierte Ihre Armut nie. Nur Ihr Stand war mir zuwider.«

Klementine lächelte schmerzlich. »So ist Ihnen die wegen Diebstahls fortgejagte Verkäuferin lieber als die unbescholtene Baronesse?«

»Machen Sie doch keine solchen Geschichten!« sagte freundlich der alte Herr. »Ich weiß alles, habe auch bereits mit dem Direktor Hälby gesprochen. Ihr Fall ist schon so ziemlich aufgeklärt. Wär's nur bei Ihrem Bruder auch schon so weit!«

»Bei meinem Bruder? – Was ist's mit Ernst?« Klementine wurde totenbleich.

Dora drückte sie auf einen Sessel und sagte, ihr sanft über das Haar streichend: »Gerade vorhin hab' ich's Ihnen erzählen wollen, daß auch Ihr Bruder in eine dumme Geschichte verwickelt worden ist, daß man aber auch da schon fast ganz im klaren ist.«

»Ist's wirklich so?« rief der alte Herr sehr befriedigt aus.

Dora nickte. »Es ist so! Auf meine Nachrichten kann man sich verlassen.«

»Was ist denn nur mit Ernst geschehen?« forschte Klementine aufgeregt.

Da zog Braun eine Zeitungsnummer hervor und wies ihr die betreffende Stelle.

Wortlos starrte Klementine darauf. Dann brach sie in fassungsloses Weinen aus.

Dora konnte sie aber bald beruhigen. »Es ist ja alles, was Ihnen und Ihrem Bruder schaden sollte, zu Ihren Gunsten ausgefallen!« schloß sie befriedigt.

Klementine schaute bewegt in des alten Herrn Gesicht. »Und auch Sie glauben an uns!« murmelte sie.

Da ergriff er ihre Hand. »Kind,« sagte er, »ich bin, wie fast alle alten Leute, starrköpfig und habe eine Menge Vorurteile. Mit einem von diesen habe ich aber aufgeräumt. Baronessen von Ihrer Art taugen ganz gut in ein tüchtiges Bürgerhaus. Schon seit Wellhof leer steht, habe ich mich in aller Stille viel um Sie und Ihren Bruder bekümmert, und es hat mich gefreut, daß nicht ich, sondern daß dieser schreckliche Allesbesserwisser, der Eugen, recht behalten hat, daß ihr tüchtige Menschen seid und daß er nicht von Ihnen läßt. Er hat mich schon manches gelehrt, mein Herr Neffe, auch das, daß man sich selber am meisten weh tut, wenn man die Krankheit des Alters, das Mißtrauen, nicht von sich abwehrt, und daß es doch noch Menschen, ja sogar Verwandte gibt, die nicht berechnend sind.«

Klementine küßte des alten Herrn Hand, dann schaute sie ihn mit leuchtendem Blick an und sagte selig: »Ja, mein Eugen? Das ist ein Mann!«

»Wieder ist ein Herr Braun gekommen,« meldete in diesem Augenblick die Feldwebelswitwe.

Diesmal stand Eugen auf der Schwelle. Als er seinen Onkel gewahrte, verfinsterte sich sein Auge.

»Fürchte nichts, Klemi!« rief er sofort. »Wir gehören zusammen.«

Dann zog er sie, die ihm entgegengeeilt war, innig an seine Brust.

Konrad Braun schaute belustigt Dora an und sagte: »Gebärdet er sich nicht, als sollte er gegen einen Drachen zu Felde ziehen, und derweilen gibt es gar keinen Drachen mehr.«

Dora hatte die Tür zu ihrem Zimmer geöffnet. »Ich nehme an, daß wir beide hier jetzt völlig überflüssig geworden sind,« sagte sie lächelnd und den alten Herrn mit einer freundlichen Gebärde zum Eintritt bei ihr einladend.

*

Am selben Abend noch wurde die Photographie Gustav Kleins, die man dem Verbrecheralbum entnommen hatte, durch einen Detektiv dem bestohlenen Amerikaner in dessen Hotel vorgewiesen, und Smith erkannte sofort auf dem Bilde die Züge des Mannes, welcher ihn auf Teck aufmerksam gemacht hatte.

Um die Sperrstunde herum saßen Klein und seine Frau bereits in sicherem Gewahrsam.

Die kleine, tatsächlich schwererkrankte Tochter des Diebespaares wurde in das Spital, der hoffnungsvolle Felix aber einstweilen in ein Kinderasyl gebracht.


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