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Dreiundzwanzigstes Kapitel.

Seit ihrer Entlassung konnte Klementine das schwere Schicksal, das über sie gekommen war, nicht mehr allein tragen. Ihrem Bräutigam hatte sie schon geschrieben, wie es um sie stand, und nun erwartete sie ihren Bruder. Allein er kam nicht.

Statt seiner erhielt sie gegen Mittag einen anderen Besuch. Kern war gekommen, um ihr zu sagen, daß er von einem der Klosterneuburger Chorherren, mit dem sein Bruder Karl schon vorher über sie gesprochen, erfahren habe, daß eine vornehme alte Dame für eine Reise, welche sie im Mai antreten wolle, eine Begleiterin und überhaupt eine Gesellschafterin suche. Das Fräulein, welches sie schon seit Jahren bei sich hatte, stehe nämlich im Begriffe, sich zu verheiraten und werde nur noch bis Ende April ihren Dienst versehen können. Der Chorherr hatte mit der alten Dame schon gesprochen, und diese erwarte, daß Klementine sich ihr am nächsten Sonntag vorstellen werde.

»Die Stelle ist Ihnen so gut wie sicher,« sagte Kern. »Ich bedauere nur die alte Dame, daß sie Sie nicht lange behalten wird.«

»Warum soll mich denn die Dame, falls sie mich überhaupt engagiert, nicht lange behalten?«

»Nun, der Herr Bräutigam wird doch –«

Ein bitteres Lächeln des jungen Mädchens ließ ihn verstummen.

»Wissen Sie so genau, daß ich noch einen Bräutigam habe?« fuhr Klementine fort.

Kern fuhr auf. »Der Herr Oberleutnant wird sich doch nicht dieser Infamien wegen zurückziehen!«

Klementine legte ihre Hand auf seinen Arm. »Nicht ungerecht werden, lieber Freund!« bat sie sanft. »Eugen ist Offizier – das allein genügt schon. Meine Ehre ist nun einmal befleckt. Es wird schon überall erzählt worden sein: die Klementine Teck gehört nicht mehr zu den ehrlichen Leuten. Sehen Sie, Herr Kern, so steht es um mich. Und Eugen weiß es schon. Ich selber habe es ihm eingehend berichtet, was mir im Hause Groß & Komp. passiert ist. Zugleich gab ich Eugen zum zweiten Male sein Wort zurück.«

Tief aufatmend hielt sie inne.

»Er wird es nicht annehmen,« sagte Kern.

»Er wird, er muß es. Ich kann es ja nicht beweisen, daß ich schuldlos bin. Wenn die alte Dame mich nur annähme! Fort, weit fort gehen können – das wäre mir jetzt eine Wohltat, und ich verwände es auch leichter, wenn –«

»Was würden Sie dann leichter verwinden?«

»Wenn Eugen meinem Rate folgte.«

»Welchem Rat?«

»Offizier zu bleiben.«

»Aber dann –«

»Kann er mich nicht heiraten! Nun, eine Ehrlose kann er ja doch nicht zur Frau nehmen.«

»Baronesse!«

»Es ist so! Es wird schon so sein! Er fühlt es wohl selber, daß ich nimmer zu ihm passe. Sein Schweigen ist beredt. Schon seit heute früh könnte ich ein Telegramm von ihm haben.«

Wie traurig ihr Lächeln war!

Kern hatte sich erhoben. Er mußte ins Geschäft zurück.

Auch Klementine war aufgestanden, um ihn zur Tür zu begleiten.

Diese Tür aber war schon aufgegangen. Ein Depeschenbote reichte ein Telegramm herein.

»Baronesse!« rief Kern ängstlich, denn er sah, wie bleich Klementine wurde, und wie sie wankte.

Rasch schob er ihr einen Stuhl hin, nahm dem Boten die Depesche ab und überreichte sie der Zitternden.

Mühsam öffnete sie den Umschlag, und jetzt flutete eine zarte Röte über ihr Gesicht, und ein süßes Lächeln öffnete ihre Lippen.

Mit weichem Blick zu Kern aufschauend, reichte sie ihm schweigend die Depesche.

»Teure!« las er. »Brief soeben erhalten. Bin morgen früh auf dem Weg zu Dir. Immer Dein Eugen.«

»Ich hab's ja gewußt!« sagte Kern bewegt und gab das Telegramm zurück.

*

Doras Tante hielt sich eine Tageszeitung, zu welcher auch ein Abendblatt gehörte. Beide Teile der Zeitung wurden ihr ins Haus gebracht. Die gute Frau war sehr verwundert, als sie gegen vier Uhr durch einen Dienstmann einen Zettel von ihrer Nichte erhielt, in welchem Dora bat, ihr sofort das Abendblatt ins Geschäft zu schicken.

»I soll net ohne die Zeitung kommen,« bemerkte der Mann. Dann fiel ihm plötzlich noch ein Teil seines Auftrages ein. »Ja, und fragen soll i, ob das andere Fräul'n das Blattl schon g'les'n hat.«

Die Witwe verneinte, und der Dienstmann ging mit seiner Zeitung.

Dora atmete erleichtert auf, als er ihr diese Antwort und die Zeitung überbrachte, welch letztere sie ungelesen in die Tasche steckte.

Sie kannte schon einen Teil ihres Inhaltes. Das ganze Haus kannte schon diesen Teil. Es war eine Notiz von nur wenigen Zeilen, welche unter den Tagesneuigkeiten standen, und worüber man bei Groß & Komp. vom Keller bis zum Dachboden hinauf in eine gewisse Erregung geraten war, denn es waren zahlreiche Exemplare dieser Abendblattnummer in das Warenhaus gekommen. Wer sie gebracht, das wußte man nicht. Sie waren da und dort auf Tischen und Stühlen von einer dabei unbemerkt gebliebenen Person niedergelegt worden.

Ihre Innenseite war nach außen gekehrt, und die betreffende Notiz dickrot unterstrichen worden.

Man fand die Zeitung merkwürdigerweise schon um ein Uhr, und sie wurde doch sonst erst zwischen halb drei und vier Uhr von den Austrägern bestellt. Sie war also jedenfalls und zwar in mindestens zwanzig Exemplaren – so viele sammelte Gustl in des Direktors Auftrag – gleich nach ihrer Fertigstellung aus der Druckerei abgeholt und im Warenhause während der Mittagspause verteilt worden.

Die Notiz lautete: »Ein adeliger Taschendieb. Heute vormittag wurde auf der Stadtbahnstation Westbahnhof ein Taschendieb festgenommen. Es ist dies der ganz herabgekommene, als Brettlmusikant bekannte Baron Ernst v. Teck, dessen Schwester in einem hiesigen Welthause angestellt gewesen, sich daselbst aber auch schon wegen ähnlicher Vergehen unmöglich gemacht hat.«

Das war die Notiz, welche wie ein Lauffeuer sich in dem Riesengeschäfte verbreitete, und welche einen Sturm der Entrüstung hervorrief. Die vielen hundert Angestellten, welchen Klementine persönlich unbekannt geblieben, waren von der Richtigkeit der hier bekannt gegebenen Tatsachen überzeugt, und deren Entrüstung galt natürlich dem verkommenen Geschwisterpaar. Allein es gab auch viele im Hause, welche fest davon überzeugt waren, daß wenigstens die Baronesse, die in der Notiz ganz unnötig erwähnt wurde, schuldlos, daß vielmehr diese Notiz wieder nur eine Äußerung des unversöhnlichen Hasses ihrer Verwandten sei. Von Hälby bis zu Gustl herunter zweifelte daran keiner, daß nicht nur die arme Baronesse, sondern auch ihr Bruder von ihrer schrecklichen Tante angegriffen worden waren.

Dora Hartwig verließ gegen fünf Uhr das Geschäft. Sie hatte vorher eine Besprechung mit Hälby gehabt. Ehe sie ging, redete sie auch noch mit Gustl, und dieser teilte ihr mit, daß Meißl heute nicht, wie er es sonst tat, bei Hopfner gespeist habe, und daß er Nachmittags in einem Wagen zum Geschäft gekommen sei.

Dora und Gustl nickten einander verständnisvoll zu, und dann ging erstere, seltsam aufgeregt, aus dem Hause.

Sie fuhr zur Administration der Zeitung, in deren Abendausgabe die Notiz enthalten war. Dort erfuhr sie, daß ein großer magerer Mann, gigerlhaft gekleidet und eine lichtrote Krawatte mit einer Hufeisennadel tragend, schon um ein viertel nach zwölf Uhr dagewesen war und sich erkundigt hatte, wann man frühestens Abendblätter haben könne.

Man hatte ihn nur wenige Minuten warten lassen müssen. Er hatte dann dreißig Nummern begehrt und war damit in einem Wagen weggefahren.

Dora verließ noch aufgeregter, als sie es vorher gewesen, die Administration. Auch sie nahm einen Einspänner, der sie zum Warenhause zurückbrachte.

Dort ging sie sofort in die Seidenabteilung, in welcher Meißl beschäftigt war. Mit dem Chef dieser Abteilung redete sie eine Weile, und dann begaben sich beide zu dem Tisch, an welchem Meißl soeben drei Damen wort- und gebärdenreich verschiedene Brokate vorlegte.

»Er ist halt immer wie aus einem Modejournal herausgeschnitten, der Herr Meißl!« sagte, an dem Tische stehen bleibend, der Abteilungschef. Er wußte sehr gut, daß es keineswegs taktvoll war, vor Kundinnen und während der Betreffende sie bediente, solch eine Bemerkung zu machen. Dennoch fuhr er noch lauter fort: »Und sicher hat im letzten Rennen Rot gewonnen, Sie Sportsman, den man nie ohne Hufeisennadel sieht.«

Meißl, wiewohl sehr verwundert über seines Vorgesetzten ganz ungewohntes Scherzen, lächelte doch sehr geschmeichelt.

Eine Viertelstunde später erhielt Frau Till den Besuch Fräulein Hartwigs. Dora blieb fast eine Stunde bei der alten Frau.

Als sie ging, war ihr letztes Wort: »Also ja nicht vergessen, liebe Frau Till! Wenn des Herrn Baron Wäscherin kommt, sagen Sie, daß der Tee aus Znaim erst am nächsten Tage komme. Bestimmen Sie der Frau eine Stunde und benachrichtigen Sie mich rechtzeitig, damit ich auch hier bin, wenn sie kommt.«

*

Gegen acht Uhr betrat Dora Hartwig Frau v. Lassots Haus.

Als sie die Treppe hinaufstieg, kam ihr ein Herr entgegen. Er ging sehr schnell, und er mußte ganz mit seinen Gedanken beschäftigt sein, denn er rannte an Dora an, die ihm nicht mehr rechtzeitig ausweichen konnte.

Mechanisch knurrte er eine Entschuldigung und rannte weiter.

Sie aber blieb höchlichst erstaunt stehen und sah ihm nach. Das war ja der ältliche, widerwärtige Mensch, der letzthin Klementine angesprochen, und den die Baronesse so hart zurückgewiesen hatte.

Kopfschüttelnd ging Dora weiter und läutete an Frau v. Lassots Tür.

Lotti öffnete.

»Ich muß Ihre Gnädige sprechen!« sagte Dora kurz.

Lotti schaute sie verwundert an. »Jetzt?« fragte sie.

»Ja – sogleich.«

»Die Gnädige begibt sich schon zu Bett.«

»Pflegt sie immer schon um acht Uhr zu Bett zu gehen?« spöttelte Dora.

Lotti war sichtlich entsetzt. »Es ist ihr übel geworden. Sie hat sich mit dem Herrn Doktor so geärgert –« stammelte sie.

»War das der Herr Doktor, dem ich auf der Treppe begegnet bin?«

»Er ist soeben erst fortgegangen.«

»Ein angenehmer Arzt, der seine Patienten noch kränker macht!«

»Der Herr Doktor Schimmel ist der Rechtsbeistand meiner gnädigen Frau.«

»Ah so! – Nun, meine Liebe, wenn sich Ihre Gnädige auch nicht wohl befindet, muß ich sie dennoch sprechen.«

»Ist es denn so dringend, was Sie mit ihr zu reden haben?«

»Sie werden sofort selbst merken, daß es etwas Dringendes ist. Gehen Sie hinein und sagen Sie der Frau v. Lassot, daß eine Bekannte vom Herrn Meißl da sei.«

»Eine Bekannte vom Herrn Meißl?«

»Ja – und daraufhin wird Ihre Gnädige mich schon vorlassen.«

Lotti ließ den Besuch eintreten und schloß die Tür.

»Doktor Schimmel heißt er also, der alte Sünder!« dachte Dora, während sie wartete. »Doktor Schimmel! Und Advokat ist er, und heute hat er sich mit der Lassot gestritten. Ob der Streit nicht vielleicht mit der Abendblattgeschichte zusammenhängt?«

»Sie möchten hineinkommen,« sagte Lotti, die auf der Schwelle des nächsten Raumes erschien.

Dora folgte dem blassen Mädchen bis in Frau v. Lassots Schlafzimmer.

Da sah sie zum ersten Male die Frau, welche von ihr, weil sie Klementine so herzlich liebte, schon recht energisch gehaßt wurde.

Frau v. Lassot sah nicht weniger scheu aus als Lotti, welche sich auf einen Wink ihrer Herrin wieder zurückzog.

Als sie draußen war, stand Leona auf und ging in das nächste Zimmer, dessen Außentür sie abschloß. Zurückgekommen, ließ sie sich wieder in dem Sessel nieder, auf welchem sie bei Doras Eintritt gesessen hatte.

Auch diese zog sich einen Sitz heran und ließ sich nieder.

Es war noch kein Wort gesprochen worden. In Leonas Augen war noch immer eine gewisse Scheu. Aber auch Hochmut drückten ihre Blicke aus, als sie auf der sehr einfach gekleideten Besucherin haften blieben, die sich so ungeniert benahm und sie so ganz unverhohlen kritisch musterte.

»Was läßt Herr Meißl mir sagen?« begann Leona verdrossen.

Da stand Dora auf und langte nach einer Zeitung, welche auf dem Nachttischchen lag. »Sie sind sehr unvorsichtig,« sagte sie, sich wieder setzend und auf eine Stelle des Blattes weisend, welche rot unterstrichen war.

Frau v. Lassot wurde unruhig, antwortete aber nicht.

»Das hat einen gewaltigen Sturm im Warenhause hervorgerufen,« fuhr Dora fort, »einen Sturm, der Ihnen vielleicht noch sehr unangenehm werden wird.«

»Warum mir?« stotterte Leona.

»Es ist sehr schlimm für Sie, daß Sie von Baron Tecks Verhaftung schon vor dem Erscheinen der Abendblätter wußten.«

»Wer sagt das?«

»Ich.«

»Und wie wollen Sie es beweisen?«

»Ihre Aufregung allein beweist, daß es so ist, und beweist nebenbei, daß Sie schon wissen, daß dieser Streich mit der Zeitung Ihnen teuer stehen kommen kann. Sie haben Ihre jungen Verwandten damit treffen wollen, aber Sie haben sich selber damit getroffen. Vermutlich hat Ihnen das der Herr Doktor Schimmel schon gesagt, und Ihre Aufregung kommt vielleicht davon her?«

Leona war zusammengezuckt, und jetzt sah sie nicht mehr hochmütig, jetzt sah sie nur noch erschrocken aus. »Wer sind Sie denn?« murmelte sie. »Ich habe geglaubt, Herr Meißl schickt Sie?«

»Das habe ich nicht behauptet. Ich habe Ihnen nur sagen lassen, daß eine Bekannte vom Herrn Meißl da sei. Nun, eine Bekannte von ihm bin ich ja, und seit heute interessiere ich mich sogar ungeheuer für ihn.«

»Seit heute?«

»Ja, seit ich erfahren habe, daß er kurz vor ein Uhr in einem Einspänner beim Geschäft vorfuhr, in welchem, man gleich darauf eine Menge Exemplare dieser Abendblätter fand. Ich bin dann in der Expedition gewesen und habe dort erfahren, daß ein Herr, der bis auf die Krawatte und die Krawattennadel unserem Herrn Meißl gleicht, schon gleich nach Mittag sich erkundigte, wann er frühestens Abendblätter haben könne. Um halb ein Uhr hat er sich dann dreißig Stück geholt. Er fuhr in einem Einspänner weg, und es ist nicht schwierig, auszurechnen, daß er um drei viertel auf eins schon in der Lindengasse sein konnte. Ja – ja, in einer Stunde kann ein wackerer Mensch viel leisten.«

Frau v. Lassot schwieg noch immer.

»Haben Gnädige diese Nummer auch schon so früh zugestellt bekommen, oder hat sie Ihnen erst der dunkle Ehrenmann gebracht, der Sie soeben verlassen hat, und der wahrscheinlich es auch schon vor dem Erscheinen des Blattes wußte, welche Notiz darin stehen wird? – Ja, Sie haben sehr nette Bekanntschaften, meine Gnädige. Dieser alte Schuft, der Ihrer Nichte nachstellt, und den wohl Sie selbst auf die Baronesse gehetzt haben, und dieser Meißl machen Ihnen alle Ehre. Aber –«

Mit einem Ruck hatte sich Leona erhoben. Zornbebend stand sie da. Ihre Brutalität hatte ihre Angst und Feigheit überwunden. »Meinen Sie, ich werde mich in meinem eigenen Hause noch länger von Ihnen insultieren lassen?« schrie sie. »Augenblicklich entfernen Sie sich!«

»Noch nicht, Verehrteste! Denn ich habe Ihnen das Wichtigste noch nicht gesagt,« entgegnete, gemütsruhig zu ihr aufschauend, Dora Hartwig.

»Ich höre Sie nicht mehr an.«

»Auch Neues über Ihren Sohn wollen Sie nicht wissen?«

»Über – über Robert?«

»Sehen Sie, das macht Sie neugierig.«

»Was wissen Sie von Robert?«

»Von Wellhof weiß ich etwas.«

»Reden Sie!«

»Von dort haben Sie zwei gute Menschen vertrieben.«

»Sie haben meinen Sohn gemordet!«

»Das ist lediglich Ihre Ansicht. Ich weiß, daß der Baron und seine Schwester auch jetzt noch geradezu edel gegen den Toten und gegen Sie handeln.«

»Was tun sie denn?«

»Eben nichts.«

»Was heißt das?«

»Sie zerstören Ihnen das Bild Ihres Sohnes nicht und könnten es doch mit wenigen Worten tun.«

»Und diese wenigen Worte wollen sie nicht reden?« höhnte Leona.

»Nein. Aber ich werde sie reden.«

»Sie? Wer sind Sie denn?«

»Eine, welche vor einer solchen Affenliebe nicht den mindesten Respekt hat.« Dora erhob sich langsam und sagte ebenso langsam: »Fahren Sie nach Wellhof. Im Schreibtische des Barons werden Sie Briefe Ihres Sohnes finden, und diese werden Ihnen zeigen, wie Ihr Sohn in Wirklichkeit von Ihnen dachte, was er in Wirklichkeit war.«

»Was Robert in Wirklichkeit war!« murmelte Leona, und dann fuhr sie fort: »Sie sind wohl abgeschickt worden, mir einen Schlag zu versetzen?«

»Abgeschickt bin ich nicht, aber ich hoffe, daß Ihnen jene Briefe recht weh tun werden, daß in ihnen die bitterste Strafe enthalten sein wird, die Ihnen, Sie verblendete Frau, für die Verfolgung dieser zwei so herzensguten Menschen gebührt. – So, jetzt gehe ich.«

Wie betäubt blieb Leona zurück. Sie vergaß alles, sie vergaß, daß Gefahr für sie vorhanden sei, daß Schimmel ihr eine furchtbare Szene gemacht hatte, weil sie die Notiz, die er verfaßt, mit dem auf Klementine sich beziehenden Zusatz ergänzt und die Zeitungen viel zu früh hatte ankaufen und verteilen lassen. Sie vergaß, daß sie mit ihrer Ungeduld vermutlich ihr ganzes unsauberes Haß- und Lügengewebe zerrissen hatte.

An all dies dachte sie nicht, ihre Seele war nur mit den Briefen beschäftigt, welche sie in Wellhof draußen finden konnte.

Kein Schlaf kam die ganze Nacht in ihre Augen, und schon um sieben Uhr Morgens mußte Peter anspannen, dann fuhr Frau v. Lassot mit Lotti nach Wellhof hinaus.

Die Herstellungsarbeiten, welche sich übrigens nur auf das Äußere des Herrenhauses bezogen hatten, waren bereits beendet, und das alte liebe Wellhof erschien in seinem neuen Anstrich ungemein freundlich. Trotzdem hafteten Leonas Augen geradezu furchtsam auf dem hellen Mauerwerk, und scheu lief sie durch den weiten Flur.

Der Besitz Wellhofs hatte ihr noch nicht die mindeste Freude gemacht. Nur zweimal war sie, seit das Gut ihr gehörte, hier gewesen.

Das erste Mal hatte sie mit Schimmel im großen Gartensaale ein üppiges Mahl eingenommen, bei welchem es weder an Leckerbissen noch an herrlichen Weinen fehlte. Sogar Champagner war dabei geflossen. Aber dennoch hatte sich bei ihr keine rechte Befriedigung eingestellt.

Das zweite Mal hatte Frau v. Lassot im tiefen Winter Wellhof besucht. Sie war damals ohne Begleitung gekommen, und es war ein nebelreicher Tag gewesen. Sie hatte sich vorgenommen, so recht behaglich das Haus zu durchwandern. Aber es war nichts daraus geworden. Zu unheimlich waren die stillen Zimmer gewesen, die für sie trotzdem nicht still und leer waren, denn aus jedem Winkel meinte sie die Schatten derer auftauchen zu sehen, die einstmals hier rechtmäßig gehaust, auf jedem Stuhl meinte sie die ihr wohlbekannten einstigen Bewohner Wellhofs sitzen zu sehen, sie durch alle Türen treten zu sehen. War nicht das ganze Haus voll Seufzen und Flüstern?

Wie gejagt verließ die Lassot damals Wellhof – und wie gejagt von einer furchtbaren, nicht zu unterdrückenden Neugierde war sie jetzt wieder hergekommen.

»Soll ich nicht die Fenster öffnen?« fragte die über dieses unangemeldete Kommen nicht gerade entzückte Hausmeisterin.

»Gehen sollen Sie!« antwortete ihr Leona ungeduldig.

Die Frau ging verdrossen.

»Gnädige Frau fühlen sich nicht wohl?« fragte Lotti ängstlich. »Soll ich nicht lieber die Frau zurückrufen?«

Leona machte eine abwehrende Handbewegung. Sie hatte sich auf den der Tür zunächststehenden Stuhl gesetzt.

»Soll auch nicht eingeheizt werden? Es ist so kalt.«

»So kalt – so kalt!« wiederholte leise Leona. »Nein, lassen Sie das nur!«

Nach einer Weile erhob sie sich und ging in das nebenan befindliche Zimmer.

Lotti wollte ihr folgen.

»Bleiben Sie nur nebenan. Da warten Sie, bis ich komme. Ich will nicht gestört werden. Die Tür schließen Sie.«

Es geschah, was Leona angeordnet hatte. Lotti setzte sich im Nebenzimmer an ein Fenster und schaute auf die heute sehr freundliche Landschaft hinaus. Der Laubwald, auf welchem schon ein grüner Schleier lag, leuchtete förmlich. In den Rebenpflanzungen drüben arbeiteten Winzer, und zwei Pflüge wurden über die jenen benachbarten Äcker geführt. Und drüben die Donau – wie still ihre gewaltigen Wassermassen hinzogen, heute fast klar und grün, wie sie immer sind, wenn sie im Frühling Gletscherwasser mitbringen.

Lotti konnte sich nicht sattsehen an dem freundlichen Frühlingsbilde, welches die Landschaft heute bot. Ach, wie selten nur hatte die Arme solches geschaut! Ganz weit wurde ihr das Herz, ganz glücklich fühlte sie sich und war unsäglich verwundert darüber, daß es so viel Grün und so viel Licht und Sonne gab.

Wie lange sie wohl so dagesessen hatte? Lotti wunderte sich, daß Frau v. Lassot sich noch immer nicht regte, und sie begann nach der Tür hinüberzuhorchen.

Es war ganz still dahinter.

Während das Mädchen horchte, folgten ihre Augen dem Pflüger, und plötzlich fiel es ihr auf, daß dieser schon wieder zweimal den Acker durchmessen hatte. Drinnen regte sich noch immer nichts.

Es wurde ihr bang. Sie erhob sich zögernd, ging langsam zur Tür und klopfte.

Niemand antwortete ihr.

Noch einmal klopfte sie.

Wieder Schweigen.

Da öffnete sie die Tür. »Verzeihen, gnädige Frau, ich –«

Weiter kam sie nicht. Erschrocken schaute sie auf ihre Herrin.

Die sah um Jahrzehnte gealtert aus. Sie hatte langsam den Kopf erhoben und schaute herüber. Es war ein Übermaß von Elend, das aus ihren Augen schaute.

Lotti wurde davon überwältigt. Laut aufweinend lief sie auf die Herrin zu und stammelte: »Arme, arme gnädige Frau!«

Eine gute Weile blieb Leona noch still, dann erhob sie müde die Hand, strich über Lottis Gesicht und sagte: »Jetzt, ja, Lotti – jetzt bin ich arm. Diese Briefe hier haben mich arm, ganz arm gemacht.«

»Wer hat sie geschrieben?«

»Mein Sohn.«

»Enthalten Sie denn so Schreckliches?«

Leonas Gesicht sah jetzt geradezu verzerrt aus. »Er hat sich meiner geschämt!« stöhnte sie. »Die alte dicke Mutter hat in die Verbannung gehen müssen, so sehr hat er sich ihrer geschämt, und während man seinen Vater begrub, ist er zur Jagd gefahren.«

»Ob das auch wahr ist!« versuchte Lotti zu trösten.

Da lachte Leona schneidend auf. »Ja, es ist wahr! Nie, nie hat er mich lieb gehabt!« Und qualvoll weinend legte sie die Arme auf den Tisch und preßte ihr Gesicht darauf.

Die gute Lotti weinte mit ihr.

Endlich erhob Leona den Kopf wieder und sagte mit einem bitteren Lächeln: »So, jetzt können Sie Feuer machen.«

»Jetzt?«

»Ja. Mit diesen Briefen da.«

Wie auf einen Feind wies sie auf die Briefe, die geöffnet und zerknittert auf dem Tische lagen.

Lotti nahm sie und trug sie zu dem großen Kamin. Sie hatten reichlich Raum auf seiner Feuerstelle. Auf dem Rauchtische fand Lotti Zündhölzer.

Als die Briefe aufflammten, war Frau v. Lassots Gesicht kreidebleich, und als der letzte Funke erloschen war, erhob sie sich und ging schweigend hinaus.

Gleich danach lag eine dichte Staubwolke zwischen dem Wagen und dem Herrenhause von Wellhof.


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