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Siebzehntes Kapitel.

Schimmel stand vor dem Hause Wickenburggasse Nummer 6. Es war spät am Abend, und der Hausmeister, auf den zehnten Stundenschlag der Alserkirchturmuhr wartend, trat unter das Tor, um mit dem Schlage zu schließen.

Als er den Fremden in das Haus treten sah, fragte er erstaunt: »Zu wem wollen Sie denn noch gehn?«

»Zu Frau Kleins Mäderl. Ich bin der Doktor. Sie wissen wohl, daß das Kind krank ist?« antwortete Schimmel mit großer Sicherheit.

Der Hausmeister nickte. »Freilich weiß ich's. Aber daß man zwei Doktoren braucht, das hab' ich nicht gewußt.«

»Nun, jetzt wissen Sie's. Also halten Sie mich nicht auf, lieber Freund. Geht es da zu Frau Klein hinauf? Ich hab' ihren Brief mit der genauen Adresse nicht bei mir.«

»Ja, bitt' schön. Da hinauf geht's. Im dritten Stock, Tür 15, wohnt sie.«

»Danke. Und hier ist gleich mein Sperrgeld. Ich werde nämlich nicht so bald wieder herunterkommen, denn ich muß das Kind genau untersuchen.«

Schimmel hatte schon ein Guldenstück in der Hand, aber er ließ es in die Börse zurückgleiten und gab dem Hausmeister nur eine Krone. Der Besuch, den er in seiner Ungeduld durchaus noch heute machen wollte, wäre ihm ja zehn Gulden wert gewesen, allein das brauchte niemand zu wissen.

Der Hausmeister war auch so schon sehr befriedigt, er zeigte sich jetzt außerordentlich artig, begleitete den »Herrn Doktor« bis in das Treppenhaus und versicherte, daß er ihn beim Fortgehen nicht werde warten lassen.

Zwei Minuten später stand Schimmel vor der Tür Nummer 15 und läutete.

Das Guckloch wurde geöffnet, und eine Frauenstimme fragte: »Wer ist's?«

Schimmel sagte leise: »Offnen Sie ohne weiteres! Ich bin von der Polizei.«

Drinnen fiel ein Glas zu Boden und zersplitterte. Gleich darauf tat sich die Tür auf.

Die Klein, in einem schmutzigen, auffallenden Schlafrock, den vermutlich früher eine Theaterdame getragen hatte, starrte ganz blaß vor Angst den späten Besucher an. Sie wollte eine Frage tun, trat jedoch, nach einem kurzen Moment der Überlegung, in das kleine Vorzimmer zurück, wohin Schimmel ihr folgte. Sie ließ es auch geschehen, daß er die Tür absperrte und die Scherben des Glases, das ihr vor Schreck aus der Hand gefallen war, mit dem Fuße Zur Seite schob.

»So,« sagte Schimmel gemessen, »jetzt gehen wir hinein. Ich habe mit Ihnen zu reden.«

Sein Ton, sein Blick zwangen sie, ihm zu gehorchen. Sie ging ihm voran in ein ganz elegant möbliertes Zimmer, dem freilich die Unordnung, welche darin herrschte, einen fatalen Stempel aufgedrückt hatte. Auch waren so vielerlei Überflüssigkeiten darin, daß es mehr einem Galanterieladen als einem Wohnzimmer glich.

Nachdem Schimmel rasch seine Blicke durch den Raum hatte gleiten lassen, ließ er sich in einem der zwei rotsamtenen Sessel nieder, die bei einem Tischchen standen, und wies auf den anderen Sessel.

Die Klein sank wortlos darauf nieder.

Er schaute eine Weile in ihr von der Hängelampe scharf beleuchtetes Gesicht, dann nickte er ihr vertraulich zu. »Wenn Sie gescheit sind, brauchen Sie sich vor mir nicht zu fürchten,« begann er, »und ich nehme an, Sie werden gescheit sein.«

Die Frau atmete auf. »Was wollen Sie denn? Wer sind Sie denn eigentlich?« fragte sie lauernd.

Schimmel beantwortete beide Fragen nicht, sondern stellte eine dritte. »Wie heißt der Doktor, der Ihre Gretl behandelt?«

»Warum interessiert Sie denn das?«

»Antworten Sie.«

»Diermayer heißt er.«

»Na also, Diermayer. Und ich selbst werde als Doktor Sturm – der Name ist ja leicht zu merken – von nun an öfters kommen, angeblich auch der Gretl wegen. Sie ist ja ein kränkliches Kind. In Wahrheit freilich komme ich zu Ihnen.«

»Aber warum denn? Und woher wissen Sie, daß meine Gretl krank ist?«

»Das brauchen Sie gar nicht zu wissen. Jedenfalls bin ich ein Mann, der Ihre Vergangenheit kennt, meine liebe Streit-Kathi oder, wenn Sie lieber wollen, Isabella Estalba. Mir und gar erst Ihnen kommt es ja auf ein paar Namen mehr oder weniger nicht an.«

Die Klein, welche ein bißchen von ihrer Frechheit zurückgewonnen hatte, knickte wieder zusammen und schaute den ihr Unbekannten, der aber so viel von ihr selbst wußte, scheu an.

Schimmel, der die junge, mollige Frau recht hübsch fand, ließ sich Zeit, sie recht eingehend zu betrachten.

Das gab ihr wieder einen gewissen Mut. Wenn ein Mann ein derartiges Interesse verrät, dann hat das Weib, welches es ihm einflößt, schon halb und halb gewonnenes Spiel. Das wußte auch die Klein, welche ihre großen Augen spielen zu lassen begann. »Ich bitte Sie jetzt, mir endlich zu sagen, wer Sie sind,« bat sie, sich das Haar zurückstreichend, damit der weite Ärmel zurückfallen und ihren weißen, schöngerundeten Arm enthüllen konnte.

Schimmel rückte näher. »Auch für Sie selbst bin ich der Doktor Sturm,« antwortete er, nach ihrer Hand greifend, »der sich für Sie interessiert und Ihnen gewogen bleiben wird, wenn Sie klug sind.«

Sie entzog ihm ihre Hand und sagte kühl: »Ich werde meinen Mann von Ihrem Besuche unterrichten.«

Schimmel lachte. »Der ist doch bis Ende Februar aufgehoben!«

»Sie wissen auch das?« murmelte die Klein ausfahrend.

»Freilich. Auch daß er schon zum dritten Male in Stein ist.«

»Der Arme!«

»Wie Sie schon zweimal in Neudorf waren.«

Die hübsche Frau senkte die Augen, aber nicht für lange; gleich danach schlug sie sie merkwürdig langsam wieder auf. Es war das eines ihrer beliebtesten Kunststücke Männern gegenüber, welche sie fangen wollte und welche nicht abgeneigt waren, sich fangen zu lassen.

Der alte Schimmel fand das Kunststückchen sehr nett. »Ich werde Ihnen also nichts tun,« versicherte er eifrig, »aber ich mache Sie darauf aufmerksam, daß Sie vorsichtiger sein müssen.«

»Wieso?«

»In den Geschäften, die Sie mit Ihren Kindern besuchen.«

Die Klein wurde kaum verlegen. Sie wußte ja schon, daß er ihre Vergangenheit kannte, diese Vergangenheit, die nicht schlimmer war als ihr gegenwärtiges Leben. »Warum vorsichtiger?« fragte sie. »Man hat uns ja nicht bemerkt, sonst hätte man uns doch längst festgesetzt.«

»Es hat Sie dennoch jemand beobachtet.«

»Und warum hat er sich dann nicht gerührt?«

»Er hatte seine Gründe.«

»Wo hat er uns beobachtet?«

»Das brauchen Sie nicht zu wissen. Jedenfalls hätte es keinen Sinn, wenn Sie leugnen wollten, daß Sie mit Hilfe der Kinder Ladendiebstähle ausführen.«

Trotzig die Unterlippe vorschiebend, lachte das Weib kurz auf. »Leugne ich es vielleicht?« fuhr sie Schimmel an.

»Es wäre auch nutzlos, außer – Sie würden dieses rentable Geschäft von jetzt an aufgeben.«

»Vielleicht gebe ich es auf.«

»Fällt Ihnen ja gar nicht ein.«

»Das wissen Sie nicht.«

»Noch nicht – aber ich werde es wissen.«

»Sie sind Detektiv?«

»Halten Sie mich wofür Sie wollen, aber seien Sie sicher, daß Sie von dieser Stunde an wohlbewacht sind.«

»Und warum?«

»Weil ich Sie in meiner Gewalt haben will.«

»Warum das?«

»Weil ich Ihre Talente in meinen Dienst stellen will, oder vielmehr in den Dienst einer anderen Person, deren Vertreter ich bin.«

»Noch haben Sie mich nicht in der Hand!« entgegnete die Klein.

»Wovon leben Sie eigentlich, schöne Frau? Sie und Ihre zwei süßen Kinderchen? Sie sind als Kleidermacherin angemeldet und nähen tatsächlich zuweilen. Für wen? Wie viel? Darum kann die Polizei sich natürlich nicht kümmern, kann überhaupt nur darauf achtgeben, ob Sie sich nicht abermals gegen die Gesetze vergehen. Ihr Mann ist, sobald er in Freiheit ist, für die Welt und für die Polizei Häuseragent. In Wahrheit lebt er vom Taschendiebstahl, was übrigens ein gar nicht so schlechter Beruf ist, wie ich aus dem ziemlich eleganten Nestchen ersehe, das Sie hier bewohnen. Sie halten sich zwar keine Magd, aber sonst lassen Sie sich sichtlich nichts abgehen.«

»Sollen wir etwa Hunger leiden?« warf die hübsche Frau ein.

»Nun, das mutet Ihnen niemand zu,« entgegnete Schimmel gemütlich. »Das ist auch gar nicht notwendig bei Ihrem Talent. Da Sie das aber in Anwendung bringen müssen, wenn Sie ebenso gemächlich weiterleben wollen wie bisher, so habe ich nicht nur Sie, sondern auch Ihren Mann in der Hand – das sehen Sie doch ein? Und somit sind wir an dem Punkt angekommen, an welchem ich Sie haben will, und nun können wir über das Geschäft reden, welches Ihnen vorzuschlagen ich hierher gekommen bin, und welches Sie ausführen werden.«

»Wissen Sie das so ganz gewiß?«

Er lächelte beängstigend sanft. »Muß ich wieder von vorn anfangen?« fragte er. »Habe ich Ihnen denn umsonst Ihre Lage auseinandergesetzt? Sind Sie so schwer von Begriff?«

»Na, dann reden Sie endlich! Was soll ich tun?« schrie sie ihn an.

Er war beleidigt und sagte deshalb jetzt sehr kühl: »Sie werden eine junge Dame, eine Baronesse, welche sich derzeit als Angestellte in einem großen Geschäftshause befindet, dort unmöglich machen.«

»Wie soll denn das geschehen?«

»Sie werden in dem betreffenden Geschäftshause irgend eine Handlung ausführen, welche auf das Konto der jungen Dame kommt, und für welche diese ihre Ehre und ihren Posten verliert.«

»Diese junge Dame hassen Sie wohl?«

»Ich?«

»Ja, Sie! Ihr Gesicht sagt es, und Ihre Augen sagen es und Ihre geballten Hände.«

»Nun ja, auch ich hasse dieses hochmütige Geschöpf.«

»Sie brauchen sich meinetwegen keine Gewalt anzutun,« spöttelte die Klein. »Rollen Sie immerhin die Augen und fuchteln Sie mit den Fäusten herum, mich ängstigt das gar nicht. Aber eines weiß ich jetzt: die Betreffende hat Sie beleidigt. Habe ich recht?«

»Recht haben Sie, aber nicht nur deshalb soll sie büßen.«

»Was soll sie denn noch büßen?«

»Seien Sie nicht zu neugierig.«

»Aber ich muß doch wissen –«

»Nichts müssen Sie wissen, als was ich Ihnen sagen werde. Also: ein Mädchen, das sich ohne Zweifel tadellos aufführt, muß bei seiner Umgebung in Mißkredit gebracht, die Achtung, die man vor ihr hegt, planmäßig untergraben werden. Dazu lasse ich Ihnen und mir – denn ich werde mitarbeiten – etwa vierzehn Tage Zeit. Dann aber muß der Hauptschlag geführt werden.«

»Soll vielleicht etwas abhanden kommen?«

»Da Sie auf diesem Felde am sichersten arbeiten, so soll also etwas abhanden kommen. Es wird sich schon etwas finden, dafür sie einzustehen hat, und das Sie verschwinden lassen können. Augenblicklich kenne ich freilich noch nicht den Wirkungskreis der Betreffenden, aber in jedem Wirkungskreis kann man gegen die Ehrlichkeit sündigen. Mir ist nicht bang. Wir werden schon etwas finden, was diese hochmütige Klementine verdirbt.«

»Also Klementine heißt sie? Und sie ist sicherlich hübsch, sonst wären Sie jetzt nicht in solch wildem Haß hinter ihr her. Sie sind zweifellos sehr temperamentvoll.«

»Lassen Sie mich aus dem Spiele!« knurrte er, ihren spöttischen Blick mit einem zornigen erwidernd.

Da stand sie auf, holte vom Spiegeltisch, der zwischen den Fenstern stand, eine Schachtel Zigaretten, zündete eine an und steckte sie ihn:, verführerisch lächelnd, in den Mund, worauf sie sich mit kecker Grazie ebenfalls bediente.

»So – Alterchen! Jetzt können wir über Ihre geliebte Feindin plaudern,« sagte sie, sich behaglich in ihren weichgepolsterten Sessel drückend. »Geben Sie mir also das Rezept, wie man tadellos sich aufführende junge Damen zu Diebinnen macht.«

Die beiden redeten danach wohl eine Stunde lang über das, was geschehen sollte.

Als Schimmel die Wohnung der Klein verließ, stand unten bereits der Hausmeister mit der Laterne. »Na, das war ja eine gründliche Untersuchung!« sagte er brummig, wurde jedoch sogleich wieder höflich, denn Schimmel hatte ihm abermals eine Krone in die Hand gedrückt.

Eine Minute später stand Eduard Schimmel unter dem freien Himmel.

Er atmete tief auf. »Drei Fliegen auf einen Schlag,« sagte er laut vor sich hin. »Jetzt bin ich der Herr der alten Lassot, der Herr dieser netten Klein da oben und werde auch noch dein Herr sein, du hochnäsige Aristokratin!«

Und er sah dabei ganz deutlich Klementine Tecks blasses Gesicht vor sich und ihre Augen, aus denen ihn der Ekel anblickte.

»Dein Herr – dein Herr!«

Die Zähne aufeinanderpressend, ging er eilig weiter.


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