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Siebentes Kapitel.

Der Uhrzeiger auf der Mariahilferkirche erreichte m wenigen Minuten die achte Morgenstunde. Ein windiges, regnerisches Wetter trieb die Leute auf der Straße eilig ihrem Ziele entgegen. Alle hüllten sich heute nach dem argen Wettersturz, der die Augusthitze in eine wahre Oktobertemperatur umgewandelt, in ihre Überkleider.

Viele von diesen dahinhastenden Menschen bogen von der Mariahilferstraße in die Kirchengasse ab, um durch diese die Lindengasse zu erreichen, in welcher der stattliche Hinterbau des Warenhauses Groß & Komp. liegt.

Vor diesem Gebäude staute sich eine Menge von jungen Leuten, zumeist junge Herren. Die überwiegende Anzahl davon waren das, was der Wiener »Gigerl« nennt. Eleganz billigster Art nach jeder Richtung hin war das Charakteristische an ihnen: die Haare sehr sorgfältig gebürstet, die Krawatten ein wenig auffallend, kecke Hüte, unmögliche Stöcke – das stimmte fast bei jedem der lebhaft Plaudernden, die es offenbar gewohnt waren, die Augen ebenso unablässig zu gebrauchen wie das Mundwerk. Ihre Blicke folgten lebhaft den vielen jungen Damen, welche vorüberkamen. Es waren tatsächlich fast lauter hübsche, niedliche Persönlichkeiten, und merkwürdigerweise sahen sie fast alle gesund und frisch aus, diese kleinen Näherinnen und Kontoristinnen, Schreibfräulein und Putzmacherinnen, welche da zu ihren Arbeitsstätten eilten, um zehn oder wohl auch noch mehr Stunden in mehr oder minder ungesunden Lokalen eine der Gesundheit mehr oder minder zuträgliche Arbeit zu leisten. So viele glänzende Augen und so viele liebe, junge Gesichter wie Morgens zwischen sieben und acht Uhr in den Straßen Wiens sieht man nicht leicht anderswo beieinander.

Es hielten auch viele von den Mädchen vor dem Warenhause an. Es wurden zwischen ihnen und ihren »Kollegen« Händedrücke verschiedenster Schattierungen und lustige, sentimentale oder wohl auch temperamentvolle Blicke und Worte getauscht. Dann schlüpften die jungen Damen ins Haus. Sie warteten, auch wenn sie vor acht Uhr kamen, fast niemals aus der Straße, sondern begaben sich lieber sogleich in ihre Garderobe, denn bekanntlich haben Frauen nach dem Ablegen ihrer Überkleider und Hüte immer viel an sich zu Zupfen und zu richten, bevor sie mit ihrer äußeren Erscheinung Zufrieden sind. Außerdem plauscht sich's in der Garderobe viel angenehmer als auf der nassen, windigen Straße, und man hat sich ja häufig etwas mitzuteilen, wovon die »Kollegen« draußen nichts zu wissen brauchen.

Der Hüter der Damengarderobe, ein schon etwas angejahrter Mann von beschaulicher Rundung, wurde, wenn die Mädel anrückten, immer um ein Paar Jahre jünger. Sie brachten ja so viel Leben, so viel frische Lustigkeit mit sich. Weil ihre Augen glänzten, wurden unwillkürlich auch die seinigen lebhafter, weil sie lachten, lächelte auch er, und sogar seine Bewegungen wurden flinker, wenn die jungen Dinger um ihn herumhuschten, und nicht immer konnte seine Würde von Amts wegen ihrem Übermut standhalten.

Da plauderte er halt auch ein paar Worte und schmunzelte vergnügt, wenn sie so heimlich tuschelten und kicherten. Nur schade, daß der ganze Zauber, der sich täglich freilich viermal wiederholte, nur so kurz dauerte, denn wenn er wieder allein saß in seiner Garderobe mit den vielen Kastenreihen und der nicht minder kahlen Aussicht auf ein paar hohe Mauern, dann wußte der gute Obermayer immer wieder, daß er alt geworden ist, daß kein roter Mund ihm auch nur eine einzige Stunde seines Lebens fortlachen kann, und daß er allen diesen glänzenden Augen nichts anderes als das Bild eines guten, dicken, alten Mannes bietet.

Aber darüber wurde er nicht nachdenklich oder betrübt, denn er war ein gescheiter Mensch, der wackere Obermayer. Er wußte gut, daß jeder seine Zeit hat, und wie das Altertum nicht Mittelalter und dies nicht Neuzeit und die Neuzeit nicht Zukunft sein kann, und jede Periode ihr Recht hat und ihre Herrlichkeiten und ihre Mängel, so auch die Perioden eines Menschenseins. Und ein in Anstand herangekommenes Alter ist nicht die schlimmste Zeit für den Menschen, sonst allerdings ist das Altwerden eine Pein und das Altgewordensein recht häßlich.

Obermayer, der Philosoph in der Garderobe, fühlte zu seinem Glücke derlei Pein nicht, allein es machte ihn doch immer wieder nachdenklich, wenn er die jungen Dinger beisammen sah. Über ihren Frohsinn denkt er nach und über ihre immer wieder hervorbrechende Lustigkeit. »Warum sind sie denn nur gar so fidel?« fragt er sich oft, er, der weiß, daß sie zu so überschäumendem Frohsinn eigentlich gar keine Ursache haben, sie, die Kinder der Armut, die, kaum der Schule entwachsen, schon verdienen müssen von früh bis Abends im Arbeitsjoch, die keine gesicherte Zukunft haben und, wenn nicht das Glück ganz unverhofft kommt, einem Alter voll Sorgen und Entbehrungen entgegengehen.

Er sorgte sich sehr um die jungen Mädchen, der brave Obermayer, aber dabei fiel es ihm ein, wie viel Lichtes ja doch auch in jedem Leben sich findet. Gibt es nicht freie Tage mit Sonnenschein und Ausflügen? Und gibt es nicht Abendstunden, auf die man sich den ganzen Tag freuen kann? Und die Liebe, die tiefinnige Liebe, die gerade in den Herzen der Armen so oft ihr Hauptquartier aufschlägt – vergoldet denn nicht auch sie ihr Leben?

Er lächelte, da er an seine eigene Jugend dachte, und er begriff, warum die jungen Mädchen immer so kreuzfidel waren.

Alle freilich waren es nicht. Es gingen einige in Trauer Gekleidete vorüber, und eine zwar sehr einfach, jedoch besonders elegant gekleidete junge Dame stand schon eine ganze Weile vor dem offenen Schrank und starrte regungslos vor sich hin.

»Na, Fräulein Hartwig,« sagte der Garderobier, »was ist denn Ihnen übers Leberl gelauf'n?«

Sie gab ihm nicht sogleich eine Antwort, nicht aus Unhöflichkeit, sondern weil ihre Gedanken weit weg waren. Seine Anrede hatte sie aber doch vernommen und auf sich bezogen, und so fragte sie: »Was meinen Sie, Obermayer?«

»Was Ihnen heut fehlt, hab' ich gefragt.«

»Nicht mehr als sonst.«

»Also was denn?«

»Geld, Geld und noch einmal Geld.«

»So gierig aufs Geld sind Sie auf einmal geworden? Sie verdienen ja weit mehr als die meisten anderen.«

»Es ist halt immer noch viel zu wenig. Mit dem, was ich und mein Bräutigam verdienen, können wir nicht heiraten.«

»So also ist die G'schicht'?«

»Ja – so ist sie!« bestätigte Fräulein Hartwig, steckte ein wenig ungestüm die Nadeln in den abgenommenen Hut und fuhr, während sie ihn in den Kasten legte, zornig fort: »Und an dem allen ist die alte Hex', die Bauer, schuld, die den Erich nicht ins Geschäft aufnehmen will.«

»Weil er ihr nicht genug den Hof macht,« vollendete Obermayer.

Die junge Dame lachte kurz auf. »Der –! Es wär' der reinste Hohn! So eine Vogelscheuchen, wie sie ist!«

»Aber reich ist s' halt, Fräul'n Dora – sehr reich!«

»Auf das fällt mein Erich nicht herein – Gott sei Dank! Die Bauer hat's ihm ja nicht nur einmal zu versteh'n gegeb'n, daß er ihr Geld, aber natürlich nur mit ihr, hab'n kann. Er mag aber nicht. Deswegen darf ihr Bruder ihn nicht zu seinem Kompagnon machen. – Aber hören S', Obermayer –«

»Was denn? Sag'n S' nur nicht wieder, daß Sie die Frau Bauer vergiften könnten. Zu so was sind Sie nicht geschaffen. Sie kommen Ihren Feinden von vorn.«

»Da haben S' recht, Obermayer!« entgegnete sie und setzte leise hinzu: »Ich hab' wirklich mehr eine gewalttätige als eine listige Natur, und deswegen ist mir ja mein heimlicher Dienst hier so zuwider. Ich steh' recht gern den ganzen Tag da und bin artig mit den Kunden, aber dieses heimliche Aufpasseramt, für das ich meine Überzahlung kriege, das ist mir in die Seel' hinein zuwider. Daß grad' ich zu so was engagiert worden bin!«

»Die Firma hat halt grad' zu Ihnen das Vertrau'n, daß Sie den Posten ausfüllen. Und Sie füllen ihn ja auch aus. Drei Schwindelgeschicht'n haben Sie schon aufgedeckt, und es ist doch noch keine zwei Monate her, daß Sie –«

»Aufpasserin sind? – Sagen Sie's nur, genieren S' Ihnen nit!«

Die Hartwig lächelte verdrossen, nickte dem Garderobier zu und ging.

Es waren jetzt nur wenig Bedienstete noch in der Garderobe. Auch sie eilten, in die Verkaufsräume an ihren Platz zu kommen.

Die letzte, welche ging, war eine auffallende Erscheinung. Sie war nicht mehr jung, hatte die Dreißig sicherlich schon überschritten und war kaum hübsch Zu nennen. Aber sehr groß und stattlich war sie und trug sich so, daß sie die Augen unwillkürlich auf sich zog. Ihr reiches rotes Haar war recht effektvoll geordnet, und ihre mausgraue Baregerobe war von einem ganz außerordentlich schicken Schnitt.

Dennoch sah sie nicht fein aus und rechtfertigte den Spottnamen, den ihre Kolleginnen ihr gegeben. Das »Schlittenpferd« hieß sie von dem Geklingel, welches sie auf Schritt und Tritt begleitete, denn sie war stets mit Ketten behangen. Am Halse trug sie solche und an den Armen, und auch um die Taille schlang sich eine lange metallene Kette, und jede dieser Ketten war mit Anhängseln versehen. Das alles klirrte ohne Unterlaß an Fräulein Paula Neuber, die sich, wie die bösen Zungen behaupteten, eben dieses Klirrens wegen immer so lebhaft bewegte.

Dicht vor dem Garderobier blieb sie stehen und warf ihm einen giftigen Blick zu. »Was habt ihr denn wieder miteinander zu tuscheln gehabt?« fragte sie, wartete jedoch eine Antwort nicht ab, sondern rauschte mit hocherhobenem Kopfe hinaus.

Obermayer brummte vor sich hin: »Ja, das werd' ich grad' dir sag'n, du hochmütige Gans! Du mit deinen Toiletten, von denen niemand weiß, woher sie kommen, bist die letzt', die wissen darf, was für ein Nebengeschäft die Hartwig bei uns hat.«

Plötzlich fuhr der brave Obermayer erschrocken zusammen. Ein langgezogener Ton, dreimal wiederholt, tönte, von den vielen Kastenwänden dumpf widerhallend, durch den Raum.

»Dummer Bub,« rief der Garderobier, »wirst wohl still sein!«

Diese Ansprache galt dem etwa sechzehnjährigen Burschen, dessen lustiges Gesicht in der Türspalte sichtbar wurde.

Der Junge tat jetzt die Tür weiter auf und machte eine groteske Verbeugung.

»Gustl, du bist und bleibst halt immer ein Wurschtl!« sagte Obermayer, schmunzelnd seinen Neffen betrachtend, welcher in der schmucken Uniform der Laufburschen des Warenhauses sich sehr vorteilhaft ausnahm.

»Aber geh, Onkel, ich bin ja die Automobilhupe,« sagte Gustl mit tiefem Ernst, »und ich wollt' dir nur kundtun, daß Hoheit dich nachher zu sprechen wünschen.«

»Wirst gleich still sein, du kecker Bub! Unseren Chef wenigstens laß weg, wenn du deine Spaßetteln machst.«

*

Im Warenhause nahm der Tageslauf seinen Anfang. Es waren erst ganz wenige Kunden da, Dienstmädchen, welche auf ihrem Einkaufsgange auch gleich einige Besorgungen für sich selbst machten, Frauen aus dem Handwerkerstande, die früh aufstanden und dies oder jenes Notwendige bei Groß & Komp. möglichst zeitig einkauften.

Bei diesen Kunden gab es nicht viel Herumsuchen, die wußten schon, was sie wollten, und machten ihre Einkäufe in einer gewissen Eile ab.

Es herrschte natürlich im Geschäfte schon peinliche Ordnung. Die Verkäufer und Verkäuferinnen rückten nur da und dort irgend einen Artikel auf dem Verkaufstische noch besonders in den Vordergrund, und die beim Stoffeverkaufe Angestellten ordneten die Stücke ein, welche ihnen neu zugestellt wurden. Die Warenaufzüge brachten ununterbrochen neue Massen aus den Vorratsräumen, die Abteilungschefs ordneten an, wo die Waren auszulegen seien, und gaben da und dort Winke bezüglich deren Gruppierung.

Ganze Berge von Stoffen türmten sich auf den Tischen, und auf Gestellen und Trägern waren unzählige Toilettestücke geschmackvoll ausgestellt.

Nichts, was die Kauflust wecken konnte, war versäumt worden, in den Auslagen auszustellen. Mit feinem Verständnis waren die Farben verwertet, und die verschiedenen Arten der Gewebe zusammengestellt. Leuchtende Seidenstoffe hoben die vornehme Mattheit schwerer Wollenstoffe noch besser hervor, andere wieder, vorteilhaft gebauscht, zeigten den Reiz ihres Faltenwurfes. Daneben sah man wahre Wunder der Bandfabrikation und der Posamenterie. Da kreuzten sich weiche Atlasbänder in noch weicheren Pastellfarben mit zierlichen Girlanden aus goldenen Ähren und silbernem Edelweiß. Da blitzten Pailletten tiefgrün wie der Spiegel eines Bergsees, dort glänzten irisierende Glastropfen auf einem spinnwebenzarten Stoff, der aussah, als beleuchtete ihn die Sonne nach einem Regenschauer.

Auf einem Gewoge milchweißer Seide ruhten Applikationsblumen, so wunderzart, als hätten Feenhände sie ausgeführt, und hinter einem seinen Stoff aus amethystfarbenem Seidenfaden flammte ein leuchtendes Metallgewebe auf. Vom schwersten Samt bis zum zartesten Flor konnte man alle Stoffarten in Bandform hinter dem Riesenspiegelglase sehen. Hinter dem nächsten Fenster gab es Spitzenkleider mannigfachster Art und gleich nebenan in grellem Kontrast jene Gummi- und Lederhüllen, welche der Automobilsport ins Leben gerufen hat und welche, den duftigen Toiletten gegenübergehalten, schier urweltlich wirkten.

In den riesigen Auslagen nach der Straße aber standen Puppen mit den jüngsten Erzeugnissen der Mode bekleidet. Mit ihren lächelnden Gesichtern und schmachtenden Augen schauten sie in immer gleicher Freundlichkeit auf die Passanten hinunter.

Ja, sie waren stets freundlich, und das haben ihnen die Modedamen, die ihnen ja auch sonst in vielem gleichen, abgelernt, denn, die Frauen nach der neuesten Mode wissen recht gut, daß gleichmütige Freundlichkeit ihnen am besten steht. Sie ist ein Toilettestück, wie der Hut ein Toilettestück ist. Freilich Zu Hause legt man den Hut und zuweilen auch die schöne heitere Ruhe ab.

Da stehen sie also in Reihen und Gruppen, die schöngebauten Gewandfiguren, und sind in duftige Morgenröcke und reizende Teekleider gehüllt, oder tragen Besuchstoiletten oder gar blitzende Ballanzüge. Zuweilen steht auch eine Braut da oder eine Dame in Trauer, und ihre Herzen sind genau so ruhig, wie die so mancher lebenden Braut oder Witwe, bei denen die wallenden Schleier auch allein die Stimmung und die Bewegtheit besorgen müssen.

In den obersten Stockwerken des Hauses herrschte aber auch um diese Zeit schon rege Tätigkeit. Da befinden sich die Buchhaltung, das Korrespondenzbureau, das Telegraphen- und Telephonzimmer der Firma und die Hausdruckerei; dort sind auch die Bureaus, in welchen die statistischen Arbeiten angefertigt werden.

Da sah man hinter langen Glaswänden eine Menge Mädchen all Schreib- und Rechenmaschinen und andere, welche mit Warenblocks hantierten oder Musterbücher anfertigten.

Auf und ab und auf und ab gehen die Aufzüge, bringen Agenten und Waren, führen auch die Bediensteten des Hauses herauf und herab.

Hier oben ordinierte auch ein von der Firma angeworbener Arzt, und der Korridor vor seinem Zimmer ist ziemlich belebt, denn der Wettersturz hat recht vielen geschadet, und es haben nicht wenige der Bediensteten sich Erkältungskrankheiten zugezogen.

Auch die im Hause beschäftigten Schneiderinnen und Modistinnen haben hier oben ihre Ateliers. Man sieht sie über ihre Arbeit gebeugt sitzen und emsig ihre hübschen Werke fördern. Dazwischen plaudern sie lebhaft und verstummen wohl auch plötzlich, wenn eine Vorgesetzte erscheint, vielleicht nur, um eine Anordnung zu treffen, vielleicht aber auch einzig zu dem Zwecke, um ihre gefürchtete Macht zu beweisen.

Eine dieser Vorgesetzten aber, die so ziemlich überall dreinreden durfte, und deren Worte bei den Chefs sehr großes Gewicht hatten, Fräulein Vogel, war trotz ihrer Zierlichkeit bei fast allen weiblichen Angestellten im Hause sehr beliebt. Von einer alles durchdringenden Intelligenz und einem ruhig festen Willen beseelt, war das kleine Fräulein eine der besten Stützen dieses Riesengeschäftes, und wie sie mit ihrem Hauptschlüssel alle Schlösser im ganzen Hause öffnen konnte, so konnte sie mit ihrem scharfen Verstand in das Wesen aller schauen, die da rings um sie lebten und wirkten.

Sie tat aber niemals jemand unrecht. Sie war wie ein tüchtiger Richter, lieber zu mild als zu streng. Aber an der Nase ließ sie sich deshalb von niemand herumführen.

Gerade jetzt hatte sie es mit einem Menschen zu tun, der in das feste Gefüge des Hauses niemals so recht gepaßt hat. Er war groß und mager und etwa vierzig Jahre alt, aber er sah um zehn Jahre älter aus, trotzdem er sich sehr fesch und jugendlich trug und für gewöhnlich auch so gebärdete.

Albert Meißl sprach ein hartes und geziertes Deutsch. Er spielte sich überhaupt gern auf den Vornehmen hinaus und würde auf den Sport- und Rennplätzen, wo er sich am liebsten aufhielt, um nichts in der Welt zugeben, daß er Kommis in einem Warenhause war.

Jetzt freilich war nichts von Großtun und Kavalierspielen zu bemerken, jetzt war er sogar sehr demütig. Er schämte sich sogar vor dem kleinen Fräulein Vogel und wäre am liebsten in den Boden hinein versunken.

»Ich werde also noch einmal bei den Chefs für Sie sprechen,« sagte sie zu ihm, »ein einziges Mal noch. Merken Sie sich das, Herr Meißl. Und nicht Ihrethalben wird es geschehen, sondern wegen Ihrer armen alten Mutter. Sie hat gestern so bitterlich hier geweint. Um dieser Tränen willen will ich noch einmal für Sie bitten, aber dann müssen Sie endlich vernünftig werden.«

»O liebes, teures Fräulein!«

Er warf ihr einen feurigen Blick zu, sie aber verzog den Mund, wie man ihn bei etwas Widrigem verzieht, und sagte hart: »Nehmen Sie sich nichts heraus! Für Sie bin ich der Vorgesetzte, vergessen Sie das nicht immer wieder, und tun Sie auch nicht, als ob ich Sie durch meine Zurechtweisungen mitten ins Herz träfe. Das ist Spiegelfechterei. Sie schaden sich damit nur, denn Sie werden mir dadurch noch widerwärtiger, als Sie es mir schon ohnehin sind.«

Sie waren auf den leeren Korridor hinausgetreten. Das machte ihm Mut. Er hielt ja sehr viel von sich, und ihre Gunst konnte ihn rasch emporbringen. Er strebte also schon längst nach dieser so wertvollen Gunst, und heute versuchte er es mit der Sentimentalität und der Bitterkeit.

»Noch widerwärtiger also!« sagte er, preßte die Hand aufs Herz und knirschte ein bißchen mit den Zähnen.

Sie schaute ihn überrascht an. Dann lachte sie laut auf und ihn noch einmal und diesmal von oben bis unten betrachtend, sagte sie belustigt: »Das ist wirklich gar zu dumm! Im letzten Vorstadttheater macht man das besser.« Dann aber wurde sie plötzlich ernst. »Herr Meißl,« fuhr sie scharf fort, »ich rate Ihnen zum letzten Male, kommen Sie mir nicht, selbst nicht mit Ihren Gedanken, zu nahe!«

»So sehr hassen Sie mich?« fragte er.

Sie schüttelte den Kopf. »Hassen? Nein. Widerwärtig sind Sie mir, wie jeder verlotterte Mensch mir widerwärtig ist.«

Ihr Kleid zusammennehmend, ging sie nach diesen Worten rasch weiter, und im nächsten Augenblick verschwand sie um die Ecke.

Er stand totenbleich da und ballte die Hände.

»O je – Herr Meißl! Wollen Sie denn jemanden umbringen?« fragte eine junge Stimme. »Oder hab'n S' vielleicht ein Gespenst g'seh'n?«

Gustl trug einen Korb voll Spitzen und war damit auf dem Wege zu den Krawattennäherinnen. Er konnte sich aber mit Herrn Meißl nicht länger beschäftigen, denn eben kam der Direktor Hälby daher, und der Herr Direktor hatte scharfe Augen.

Der Junge lief also weiter. Da sah er gerade noch Fräulein Vogel in der Tür zu ihrem Bureau verschwinden.

Er pfiff leise vor sich hin. »Aha, da hat's was gesetzt!« dachte er. »Geschieht dem Kerl schon recht?«

Dann lieferte er sein Paket ab, und gleich darauf rutschte er laut pfeifend das Treppengeländer hinab.


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