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Zweites Kapitel.

In einem großen Zinshause der Mariahilferstraße, welche in einer Länge von etlichen Kilometern mehrere Bezirke Wiens verbindet, wohnte als Eigentümerin die Oberstenwitwe Julie v. Lauren. Sie besaß noch mehrere Häuser, zog aber dieses vor. Hier war der Hausmeister noch nicht zum Portier hinauf- und das erste Stockwerk noch nicht zum Mezzanin hinuntergeschraubt worden, hier gab es noch kein elektrisches Licht und keinen Küchenaufzug. Dafür aber wurde in diesem Hause auch nicht zu jedem Jahreswechsel gesteigert, und die Mietpreise waren so, daß auch bürgerliche Leute sie bezahlen konnten.

So kam es, daß die Parteien darin sozusagen mit dem Hause verwachsen waren, und daß die schon recht alte Hausbesitzerin von allen aufrichtig verehrt wurde.

Verkehr unterhielt sie mit wenigen, denn die kränkliche Frau, die nur noch dem Gedenken ihres noch nicht lang verstorbenen Gatten lebte, hielt sich sehr zurückgezogen. An Verwandten besaß sie nur noch Frau v. Lassot und deren Sohn.

Leona v. Lassot war die Tochter einer Base der Oberstenwitwe. Von naher Verwandtschaft konnte man also eigentlich nicht reden, wie auch der Verkehr zwischen den beiden Frauen niemals ein lebhafter war. Dafür hatte schon der verstorbene Oberst gesorgt, der die Ruhe geliebt und für intrigante Frauenzimmer niemals eine Schwäche gehabt hatte.

Vielleicht hatte nun gerade dieses Ferngehaltenwordensein für Frau v. Lassot die gute Folge gehabt, daß sie mit ihrer Bitte um Hilfe bei der alten Verwandten Glück hatte.

Ein junger Offizier, dessen Ehre auf dem Spiele stand und der – so war der alten Dame von der verzweifelnden Mutter aufs anschaulichste klar gemacht worden – sich das Leben nehmen müßte, wenn seine Schuld nicht noch heute getilgt wurde, der durfte nicht der Verzweiflung überlassen werden, wenn eine alte Verwandte nur zum Geldschrank zu gehen und ein paar Wertpapiere herauszunehmen brauchte, um ihn zu retten.

In knapp einer halben Stunde war die Angelegenheit geregelt, und sofort fuhr die überglückliche Mutter der inneren Stadt zu, um ihrem Sohne so eilig als möglich die ersehnte Hilfe in der höchsten Not zu bringen.

Dazu bedurfte sie jedoch noch der Unterstützung eines Mannes, der ihr und Robert schon einmal in einer peinlichen Angelegenheit beigestanden hatte.

Der Einspänner, den sie bestiegen, hielt nach kurzer Fahrt an einem der schon sehr alten Häuser der Krugerstraße. Frau v. Lassot bezahlte den Kutscher und ging eilig die dunkle, schmale Treppe hinauf.

Keuchend und mit zitternden Knien kam sie im letzten Stockwerke an. »Doktor Eduard Schimmel« stand da an der einzigen Wohnungstür auf einer tadellos glänzenden Messingplatte.

Frau v. Lassot läutete. Es dünkte ihr ungeheuer lang, bis man ihr öffnete.

Endlich wurde der Verschluß des Guckloches gedreht, Frau v. Lassot hatte das unangenehme Gefühl, erst beobachtet zu werden, und dann tat sich die Tür auf.

»Sie sind noch immer da?« sagte sie in ihrer schroffen Weise, und ihr hochmütiger Blick glitt über die armselige Gestalt der Frau, die schon vor drei Jahren, zu jener Zeit also, in welcher sie mit ihm zu tun hatte, Doktor Schimmels Wirtschafterin war.

»Ja, ich bin noch immer da, gnädige Frau, und ich werde auch noch eine Weile hier sein. – Nicht wahr, ich habe Frau v. Lassot zu melden?«

Sie führte die Besucherin in ein kleines Vorzimmer, und gleich darauf kehrte sie zurück mit der Meldung: »Der Herr Doktor läßt bitten.«

Eine Weile blieb sie dann noch stehen, die trüben Augen auf die Tür gerichtet, hinter welcher Frau v. Lassot verschwunden war. Dann sagte sie leise: »Das ist auch eine sorgenvolle Mutter. Gerade so wie ich. Aber es ist auch in dieser Hinsicht ein großer Unterschied zwischen ihr und mir. Ihr Sohn ist ein Lump, und meine Resi und ihr Mann sind ehrenhafte Leute.«

Nach dieser Reflexion ging sie in ihrer müden, langsamen Art in die Küche, um dort in ihren Vorbereitungen für das Nachtessen fortzufahren.

Ein Huhn war zu spicken. Sie holte, was sie zu diesem Zwecke brauchte, zusammen. Dabei redete sie immerfort halblaut mit sich selbst. Es wird dies leicht zur Gewohnheit bei Leuten, die fast immer allein sind.

»Sie hat übrigens gar nicht unglücklich ausgeschaut,« murmelte sie, »und ihr Junge war doch ganz außer sich, als er vom Doktor wegging. Ob sie ihn gesehen hat? Er könnte ihr noch auf der Treppe begegnet sein.«

Gedankenvoll fing Frau Barbara Heister an, das Huhn mit seinen Fettstreifen zu durchziehen. Sie gab sich dabei Mühe, dem Braten ein schönes Aussehen zu verleihen, denn sie wußte, daß ihr Herr außerordentlich viel auf das Essen hielt, und daß er nicht nur ein Viel-, sondern auch Feinesser war, somit auch die Augen befriedigt haben wollte.

Während sie auf dem rahmgelben Hühnerleib zwischen allerlei Linien niedliche Speckrosetten entstehen ließ, wurde drinnen im Zimmer gar Wichtiges verhandelt.

Doktor Schimmel war seinem Besuch bis an die Tür entgegengegangen. »Gnädige Frau,« sagte er und war sichtlich verwundert, »sind Sie Ihrem Herrn Sohn nicht begegnet?«

»Robert? War er hier?« entgegnete Frau v. Lassot aufgeregt.

Der Advokat nickte. »Er ist soeben weggegangen. Er war nahezu zwei Stunden bei mir.«

»In welcher Stimmung?« Sie setzte sich auf den Sessel, den Schimmel ihr neben seinem Schreibtische zurechtgerückt hatte.

Einen Moment lang überlegte er, dann erst antwortete er: »Der Herr Oberleutnant ist ebenso gefaßt wie gnädige Frau. Er teilte mir mit, daß er gnädige Frau von allem verständigt habe.«

Sein Gesicht, nun völlig beschattet, sah jetzt fast wie das eines Mohren aus. Sein Teint war ungewöhnlich dunkel, und es gab Leute, die nicht mit Unrecht behaupteten, daß auch seine Seele von seltener Dunkelheit sei. Jedenfalls machte der Mann keinen günstigen Eindruck mit seinem feisten Gesichte, den dicken roten Lippen, den gelben Zähnen und den kleinen, kohlschwarzen Kalmückenaugen.

»Ja, ich weiß alles,« sagte Frau v. Lassot kurz. »Robert ist furchtbar leichtgläubig gewesen. Er hat sich darauf verlassen, daß sein Vetter die gegebene Erlaubnis nicht ableugnen werde.«

»Von welcher Erlaubnis reden Sie da, meine Gnädige?«

»Von der Erlaubnis, daß Robert Wechsel auf den Namen seines Vetters ausstellen dürfe.«

Doktor Schimmel lachte laut auf. So lustig war er, daß er sich, sein bißchen gesellschaftliche Bildung vergessend, mit lautem Klatsch auf das Knie schlug.

Frau v. Lassot richtete sich steif auf. »Herr Doktor!« rief sie streng.

Schimmel hatte sich schon gefaßt. »Hat der Herr Oberleutnant Ihnen die Sache wirklich so dargestellt?« fragte er, noch immer sarkastisch lächelnd.

»Hat er sie denn Ihnen anders geschildert?«

»Ganz anders, meine Gnädige.«

»Und wenn er Ihnen dasselbe gesagt hätte, was er mir schrieb?«

»Dann hätte ich ebenfalls lachen müssen.«

»Also ist es nicht so?«

»Selbstverständlich nicht. Es ist nicht so, weil es einfach so nicht sein kann, weil solch eine Erlaubnis nur ein Wahnsinniger geben könnte, und Baron Teck ist, so viel ich weiß, im Vollbesitze seiner Vernunft. Nein – nein, gnädige Frau, hier handelt es sich um eine ganz gewöhnliche Fälschung, begangen in der Hoffnung, daß der Baron aus Familiensinn den Wechsel einlösen werde, was leider nicht geschehen ist, weshalb morgen früh die Sache dem Gerichte übergeben werden wird.«

»Es wird nicht so weit kommen.«

»Gnädige Frau?«

»Denn Sie werden die Angelegenheit sofort ordnen.«

»Sie haben das Geld?«

»Seit einer halben Stunde.«

»Das ist ja ausgezeichnet!«

»Robert soll nicht in Ungelegenheiten kommen wegen solcher Dummheiten.«

Ganz wegwerfend sagte sie dies, und mit einer erhabenen Bewegung legte sie den Umschlag vor sich hin, in welchem sich die soeben erhaltenen Wertpapiere befanden.

»Zählen Sie!« befahl sie. »Es muß reichen.«

Doktor Schimmel besah sich schon die Papiere. »Es reicht vollkommen. Es sind sogar etwa tausend Kronen mehr, als wir brauchen. Ich mache mich sofort auf.«

»Tun Sie das. Ich werde froh sein, wenn ich endlich das unselige Papier in Händen habe. Ich fahre jetzt zu Robert. Dort werde ich Sie erwarten.«

»Sie treffen ihn in seiner Wohnung nicht,« entgegnete Schimmel rasch. »Er sagte mir, daß er bis spät Abends Dienst habe.«

»Das ist fatal. So wird er also auch bis spät Abends nicht wissen, daß er gerettet ist?«

»O, das kann ich ihm schon auf irgend eine Weise mitteilen. So schnell als möglich soll er es sogar erfahren, und wenn mir Gnädigste sagen, wo ich Sie um acht Uhr treffen kann, werde ich Sie abholen, und da wird der Herr Oberleutnant vielleicht schon mitkommen können.«

»Ich werde um acht Uhr in der Maria-Theresienstraße sein. Robert kommt doch jedenfalls aus der Kaserne, also können wir dort am sichersten zusammentreffen.«

»Gut. Also um acht Uhr in der Maria-Theresienstraße. So – und jetzt eile ich. Derlei kann man gar nicht schnell genug aus der Welt schaffen.«

Sie standen beide auf.

Einen Augenblick lang dachte Frau v. Lassot daran, sich von ihm die Entgegennahme des Geldes bestätigen zu lassen. Dennoch ließ sie sich den gewünschten Schein nicht ausstellen. Sie und ihr Sohn waren ja auf Schimmels Diskretion angewiesen, und vielleicht war der Auftrag, den sie ihm da erteilte, ebenso schwierig als gefährlich. Sie wollte ihn also lieber nicht verschnupfen.

Sie ging ohne den Schein, von Schimmel artig bis zur Tür begleitet.

Der Doktor hatte es übrigens durchaus nicht eilig. Als er sich allein sah, steckte er die Wertpapiere wohl sogleich zu sich, danach aber setzte er sich wieder und fing an, nachzudenken.

»Jedenfalls werde ich mir die Geschichte erst gründlich überlegen,« sagte er sich. »Es ist auch noch Zeit, wenn ich erst dann zu dem Manne gehe, der die Fälschung in Händen hat, nachdem ich mit Lassot geredet habe. So wird Lassot früher beruhigt, und der andere muß länger für sein Geld fürchten – und das macht mürbe. Lassot wird mir jede Viertelstunde früherer Erlösung hoch anrechnen, was mir später reiche Zinsen tragen wird. Und mit dem Wechselchen selbst – na ja, das wird sich schon machen!«

Nach dieser Reflexion erhob sich Doktor Schimmel, holte sich seinen Hut und ging.

Die Heister hatte schon die Tür hinter ihm geschlossen, da pochte er wieder, und als ihm geöffnet wurde, sagte er: »Sie, liebe Heister, vergessen Sie bei dem italienischen Salat ja nicht, viel, sehr viel Öl zu nehmen, hören Sie, sehr viel Öl und ein paar Oliven. Punkt acht Uhr muß das Essen auf dem Tisch stehen.«

Nach diesen für ihn sehr wichtigen Anweisungen ging er wirklich.

Zu Robert v. Lassot wollte er gehen, und die Rudolfskaserne befindet sich im neunten Stadtbezirk, auf dem Alsergrund. Doktor Schimmel stieg jedoch, auf dem Kärntnerringe angekommen, nicht in den elektrischen Wagen, der nach dem neunten Bezirke fuhr, sondern in einen, auf welchem »Taborstraße« stand. Die Taborstraße aber befindet sich im zweiten Stadtbezirk, in der Leopoldstadt.

In der genannten Straße stieg er aus. Hier befand sich die Privatwohnung des Oberleutnants Lassot, und Schimmel wußte ganz genau, daß er ihn daheim treffen werde und nicht in der Kaserne, wohin er seine Mutter geschickt.

Lassot hatte ihm beim Fortgehen gesagt, daß ihm sehr übel zu Mute sei, und daß er direkt nach Hause gehen werde, zumal er dort seinen Gläubiger erwarte. Auch Schimmel selbst wurde von Lassot erwartet, denn der Doktor hatte dem vor Angst halb Sinnlosen versprochen, die fünfzehntausend Kronen bis zum Abend irgendwie aufzutreiben und sie ihm zu bringen.

Der wackere Doktor hätte übrigens nur seinen eigenen Geldschrank aufzumachen brauchen, um das Geld herauszunehmen, aber das brauchte Lassot ja nicht zu wissen. Es machte sich viel besser, wenn dieser glaubte, sein Rechtsfreund habe wegen dieses Geldes ungeheure Mühe gehabt. Auch brauchte niemand zu wissen, daß Herr Doktor Eduard Schimmel, der vor Jahren schmutziger Sachen halber aus der Liste der Wiener Advokaten gestrichen worden, ganz in der Stille ein ganz gewöhnlicher Wucherer war. Die Geldbedürftigen, denen er für sehr hohe Zinsen beisprang, glaubten stets, daß er nur ein gütiger, freundlicher Vermittler sei, der selbst entrüstet darüber war, daß man für so wenig Geliehenes so viel zurückzahlen mußte.

Diesmal freilich konnte Schimmel diese Meinung nicht erwecken, denn selbstverständlich mußte er es Lassot sagen, daß dessen Mutter das Geld, das er mitbrachte, aufgetrieben hatte; aber trotzdem stand ihm ein gutes Geschäft bevor, und so stieg er denn recht guten Mutes zu Lassots Wohnung hinauf.

Der Oberleutnant wohnte, wenn man sein sonstiges Auftreten damit verglich, ziemlich bescheiden. Er hatte bei einer alten Beamtenwitwe ein Zimmer und ein Kabinett gemietet, die beide ganz einfach eingerichtet waren. Frau Grübl hielt nicht einmal eine Magd. Nur eine Aushelferin kam Morgens, Mittags und Abends. Die sehr stille Wohnung lag im vierten Stockwerke eines gut bürgerlichen Hauses.

Frau Grübl öffnete dem Doktor selbst die Tür.

»Ist der Herr Oberleutnant zu Hause?« erkundigte sich der Advokat höflich.

Die Frau bejahte. »Soll ich Sie melden?« fragte sie in dem bescheidenen Tone, der guten alten Frauen eigen zu sein pflegt, und dabei zeigte sie nach der rechts befindlichen Tür.

»O nein, verehrte Frau,« entgegnete Schimmel liebenswürdig, »der Herr Oberleutnant erwartet mich.«

»Herr v. Lassot ist soeben erst nach Hause gekommen,« berichtete die Frau noch, dann zog sie sich in ihr Zimmer zurück.

Doktor Schimmel wendete sich nach rechts und pochte an die Tür, auf welche Frau Grübl gewiesen. Es wurde ihm keine Aufforderung zu teil, einzutreten.

Wieder pochte er, und wieder regte sich nichts im Zimmer. Da drückte er ohne weiteres die Klinke nieder und trat ein.

Er befand sich in einem recht gemütlichen Zimmer, dem man es übrigens sogleich anmerkte, daß ein Soldat es bewohnte. Ein Säbel lag auf dem Sofa und eine Offiziersmütze daneben auf dem Boden. Beide waren offenbar in Eile hingelegt oder hingeworfen worden. Das Riemenzeug des Säbels war ebenfalls auf den Boden geglitten.

Der süße Duft türkischen Tabaks erfüllte den ganzen Raum und bewies, daß der Bewohner dieses Raumes ein Verehrer dieses blonden, feingeschnittenen Krautes war, das ein so ganz eigentümliches Aroma besitzt.

Die Tür zu dem anstoßenden Kabinett war halb offen. Aber auch da drinnen rührte sich nichts.

Schimmel, der in der Mitte des Zimmers stehen geblieben war, sagte laut: »Lassot, ich bin da!«

Wieder keine Antwort.

Schimmel wurde ungeduldig. »Zum Kuckuck, wo sind Sie denn?« rief er ärgerlich.

Mit einem Male aber wurde er still, ganz still. Er hatte keine übermäßig guten Augen, aber doch hatten diese etwas entdeckt. Sie hafteten starr auf etwas, das sich allerdings ziemlich deutlich von dem mit hellbrauner Ölfarbe gestrichenen Fußboden des Kabinetts abhob. Ein Lackschuh war es, der mit dem Fersenteil auf dem Boden ruhte, und dessen Spitze infolgedessen nach aufwärts gerichtet war.

Schimmel war blaß geworden. Wenn dieses merkwürdig dunkle Gesicht blaß wurde, dann kam ein grauer Ton hinein, der es geradezu unheimlich machte.

Ein paar Augenblicke lang brauchte der Erschrockene, um sich zu fassen, dann ging er auf das Kabinett zu und stieß dessen Tür vollends auf.

Links befindet sich das Fenster, daran schließt sich ein Kleiderschrank, auf der anderen Seite steht ein Toilettentisch und neben diesem eine teppichbelegte Truhe.

Der Teppich ist halb von ihr herabgeglitten, und von seiner dunkelgrünen Grundfarbe hebt sich ein bleiches Gesicht ab.

Es ist schrecklich blaß, dieses Gesicht, und schrecklich starr, aber noch jetzt ist es auffallend schön, wiewohl noch die ganze Angst darin zu sehen ist, die Robert v. Lassot in seinen letzten Augenblicken empfunden hat.

Schimmel schluckt ein paarmal, um sein Grauen hinabzuwürgen, dann überwindet er sich, kniet neben Lassot nieder, streift dessen Rock zurück und fühlt nach seinem Herzen.

Nein – das pocht nicht mehr. Die verglasten Augen zeigen kein Leben mehr. Ein eigentümlicher Duft ist an dem Körper zurückgeblieben, und auf der Unterlippe glänzt ein Tropfen.

Mühsam erhebt sich Schimmel und verläßt das Kabinett und das Zimmer.

Frau Grübl, bei der er ohne zu klopfen eintritt, stößt einen lauten Schrei aus. »Mein Gott – was ist geschehen?« ruft sie erschrocken.

»Tot ist er!« antwortet der Advokat. »Vergiftet hat er sich. Holen Sie einen Wachmann. Ich bleibe derweilen bei ihm.«

Die Frau verläßt eilig die Wohnung. Sie will laufen. Aber schon auf der Treppe wankt sie so, daß sie nur mühsam das Haustor gewinnt.

Schimmel kehrte wieder in Lassots Zimmer zurück. In das Kabinett ging er aber nicht, denn den Toten noch einmal anzusehen, hatte er keine Lust.

Aber seine Augen suchten nach anderem.

Ist Lassot denn ohne ein Wort zu hinterlassen gestorben? Das tut doch nur selten einer, namentlich einer, der stets viele Worte hatte, der immer ein Komödiant war.

Ja, ein solcher war Robert v. Lassot gewesen. Schimmel, der sehr scharfe Augen besaß, wenn es galt, die Fehler anderer zu sehen, hatte den schönen Offizier völlig durchschaut. Ganz hohl war der gewesen, der schöne Mensch, ganz faul seine Seele, durch und durch nichtsnutz sein Charakter. Aber wenn es notwendig war, hatte er doch glänzend den Ehrenmann zu spielen gewußt, der Welt und ganz besonders seiner Braut und seiner Mutter gegenüber.

Sollte so ein Mensch aus der Welt gegangen sein, ohne sich zu guter Letzt noch malerisch in seine Verzweiflung zu drapieren, ohne einen Versuch zu machen, seiner Nichtsnutzigkeit ein Mäntelchen umzuhängen?

Doktor Schimmel glaubte das nicht. Seine Augen hatten auch schon auf dem sehr kokett herausgeputzten Schreibtische einen Ruhepunkt gefunden. Es war ein Brief.

Aber der war sorgfältig verschlossen, und man konnte ihn doch nicht einfach verschwinden lassen.

Schimmel zuckte die Achseln. Dann zog er eine der Schubladen auf. Der Schlüssel steckte im Schlüsselloch, und vielleicht hatte Lassot ihr das Gift entnommen. Wo man aber derlei aufbewahrt, da ist wohl auch noch allerlei anderes Interessantes zu finden. Namentlich einen Brief suchte Schimmel, den er selbst unlängst an Robert v. Lassot geschrieben, und den er lieber nicht in fremden Händen wüßte.

Etwa ein Dutzend Briefe lag in der Schublade. Ohne viel zu überlegen, schob der wackere Doktor sie in die Innentasche seines Rockes.

Er öffnete danach auch die drei anderen Schubladen des Schreibtisches.

In einer derselben befanden sich Photographien, in einer anderen ein Armeerevolver. Die dritte der Schubladen war leer.

Schimmel stieß sämtliche Fächer wieder zu und entfernte sich rasch vom Schreibtische, denn draußen war es laut geworden. Frau Grübl kehrte mit einem Wachmann und dem Polizeiarzt, der zufällig in dem nahen Kommissariat anwesend war, zurück. Dicht hinter diesen kam noch ein telephonisch benachrichtigter Polizeibeamter.

Der Advokat stellte sich als Rechtsfreund des Verstorbenen vor und erklärte, daß Lassot ihn für diese Stunde zu sich gebeten habe, und daß die Ursache seines Selbstmordes zweifellos die arge Geldklemme, in der er sich augenblicklich befand, gewesen sei.

Seine Aussage wurde zu Protokoll genommen, dann konnte er gehen.

Er begab sich jetzt sehr eilig zu dem Besitzer des Wechsels, dem er schilderte, was sich soeben zugetragen hatte.

Der Mann war außer sich darüber, daß er nun richtig um sein Geld sowohl als auch um seine Rache kommen sollte.

Schimmel bot ihm für den jetzt völlig wertlos gewordenen Wechsel zweitausend Kronen an und ließ sich auch durch alles Feilschen zu einer Mehrzahlung nicht erweichen.

»Seine Mutter wird mir weit mehr zahlen!« schrie der Inhaber des Wechsels.

»Seine Mutter muß mit zwölfhundert Kronen jährlich auskommen. Sie kennen ja die Pensionsbezüge der Beamtenwitwen.«

»So wird er andere Verwandte haben, die die Schande nicht aufkommen lassen dürfen.«

»Er hat außer dem Baron Teck, der Sie abgewiesen hat, keine anderen Verwandten. Und da er vor Ihnen, aber auch vor mir eingestanden hat, daß er die Unterschrift gefälscht hat, können Sie natürlich nicht mehr daran denken, den Baron Teck zu belästigen.«

»Also hat niemand ein Interesse daran, den Wechsel zu kaufen?«

»Niemand als ich, und ich meine, zweitausend Kronen sind immerhin besser als gar nichts.«

»Und warum kaufen denn Sie ihn?«

»Weil ich des jungen Mannes Freund war,« erklärte Schimmel mit Ernst und Würde.

»Natürlich kriegen Sie das Papier erst, wenn ich diesen Schurken tot vor mir liegen gesehen habe.«

»Schimpfen Sie nicht!«

»Warum nicht. Soll dieser Lump mir heilig sein? Er war lebendig ein Betrüger, jetzt ist er halt ein toter Betrüger.«

»Also kommen Sie. Sie sollen sehen, daß er tot ist.«

»Lassen Sie mir meine Ruh! Jetzt geh' ich nicht. So große Eile hab' ich nicht.«

»Aber ich. – Wenn ich den Wechsel nicht noch heute bekomme, kaufe ich ihn überhaupt nicht mehr.«

»Also gut. Ich gehe mit Ihnen.«

Unterwegs machten sie miteinander aus, daß es genügend sei, wenn der Zweifler aus dem Polizeiprotokoll sich überzeuge, daß Oberleutnant Robert v. Lassot sich heute vergiftet und dadurch den Tod gefunden habe. Diese Gewißheit verschaffte Schimmel dem betrogenen Manne bald, wonach der, fast weinend vor Wut, den Wechsel herausgab und dann mit dem erhaltenen Gelde davonrannte, als fürchte er, daß ihm auch dieses noch verloren gehen könne.

Schimmel aber bestieg wohlgelaunt einen offenen Einspänner und ließ sich zur Rudolfskaserne fahren.

»Aber Eile hat es nicht,« sagte er zum Kutscher. »Fahren Sie ganz langsam. Jetzt ist es halb acht Uhr, in einer halben Stunde erst brauchen wir dort zu sein. Und wenn ich mit einer Dame zurückfahre, will ich das Verdeck aufgeschlagen haben. Seien Sie so gut und vergessen Sie das nicht.«

Es schlug gerade acht Uhr, als der Wagen in die Maria-Theresienstraße einbog.

»So, da halten Sie,« befahl Schimmel, »und vergessen Sie nicht, das Verdeck aufzuschlagen. Dann fahren wir zum Garnisonspital.«

Er warf seine Zigarre, die er sich inzwischen angezündet hatte, weg und stieg aus dem Wagen.

Frau v. Lassot kam ihm schon entgegen. »Nun – wo ist Robert?« fragte sie erregt.

»Wir fahren zu ihm,« antwortete Schimmel ganz ruhig.

»Warum ist er denn nicht bei Ihnen? Und warum kommen Sie denn im Wagen? Ich dachte, Sie seien bei ihm in der Kaserne?«

»Er ist nicht mehr in der Kaserne.«

»Sondern?«

»Liebe gnädige Frau, ich führe Sie ja zu ihm. Gedulden Sie sich nur wenige Minuten.«

»Herr Doktor! Sie –«

»Bitte, meine Gnädige, steigen Sie ein!«

Als sie nebeneinander im Wagen saßen, und dieser rasch davonfuhr, schaute Frau v. Lassot dem Advokaten scharf in die Augen.

»Sie verheimlichen mir etwas!« forschte sie unruhig. »Mit Robert ist irgend etwas nicht in Ordnung.«

»O doch, gnädige Frau. Und daß ich's nicht vergesse, den Wechsel habe ich bereits eingelöst. Sie sind dabei billig weggekommen. Ich habe ihn um nur sechstausend Kronen zurückgekauft.«

»So?«

»Ja – und hier ist das Geld, dessen ich nicht bedurfte.«

Sie schob den Umschlag, den er ihr reichte, zerstreut in ihre Tasche. »Warum fahren wir denn nicht über den Donaukanal?« fragte sie. »Robert wohnt doch in der Leopoldstadt, wir aber fahren der Votivkirche zu. Finden wir denn Robert nicht zu Hause?«

»Nein –«

Schimmel stockte nun doch.

»Reden Sie!« drängte die Aufgeregte. »Um Gottes willen, reden Sie! Was ist's mit meinem Sohne?«

»Erschrecken Sie nicht, gnädige Frau!«

Sie erschrak selbstverständlich über diese Warnung ebensosehr, wie alle darüber erschrecken, die man so anredet. Aber selbst jetzt kam das Brutale ihres Wesens zum Ausdruck. Schimmel grob am Ärmel rüttelnd, keuchte sie: »Reden Sie auf der Stelle! Ich will alles wissen!«

Da sagte er denn, was geschehen war. Allerdings blieb er nicht völlig bei der Wahrheit. Er blieb dabei, daß er Robert in der Kaserne aufgesucht habe; als er aber dort erfahren, daß der Oberleutnant Nachmittags nicht daselbst erschienen sei, habe er sich sofort in dessen Wohnung begeben und ihn dort schon tot vorgefunden. Frau v. Lassot lehnte halb ohnmächtig in der Ecke des Wagens.

Sogar in Schimmels Seele kam etwas wie Mitleid. Er faßte ihre herabhängende Hand. »Fassen Sie sich!« bat er. »Denken Sie daran, daß nur das Ehrgefühl ihn zum Gift greifen ließ, daß seine letzte Tat ihn völlig entsühnt!«

Der scharfe Denker, der geschulte Jurist wußte ganz genau, daß seine Worte nichts als eine dumme, verlogene Phrase waren, er wußte ganz genau, daß eigentlich er selbst schuld an Lassots Tod war, denn er hatte ihm, bloß um ihn recht mürb zu machen, gar zu wenig Hoffnung gegeben, daß er das Geld werde rechtzeitig herbeischaffen können, und hatte ihn, als das Geld schon für ihn bereit lag, absichtlich noch warten lassen.

Schimmel wurde bei diesen Erwägungen recht melancholisch. Zuweilen seufzte jetzt auch er, und als der Wagen hielt, schüttelte auch ihn ein innerlicher Frost.

Mit Mühe stieg Frau v. Lassot, auf seinen Arm gestützt, aus. Jetzt sah er erst so recht deutlich, wie verzerrt ihr Gesicht, wie irr ihr Blick war.

»Gnädige Frau, nehmen Sie sich doch zusammen!« bat er.

Sie schaute in die Richtung, in welcher sich sein Gesicht befand, aber er hatte das deutliche Empfinden, daß sie ihn nicht sah.

Und sie hatten erst ein paar Schritte gemacht, als sie plötzlich sehr schwer, ihr Gesicht aschgrau wurde. Mit einem dumpfen Laut glitt sie zu Boden.

*

Etwa eine halbe Stunde später bestieg Schimmel wieder den Wagen.

Frau v. Lassot hatte ihren toten Sohn nicht besucht. Man hatte die aus schwerer Ohnmacht zur Raserei Erwachte sogleich in das nahegelegene allgemeine Krankenhaus gebracht, nachdem ihr Begleiter angegeben, wer sie sei, und daß sie etliche Wertpapiere bei sich habe, welche zweifellos ihr Eigentum seien.

Frau v. Lassot war also im Krankenhause aufgenommen worden.

Es war schon neun Uhr vorbei, als der ehemalige Advokat die Treppe zu seiner Wohnung hinaufstieg.

Er war sehr ärgerlich und sehr hungrig.

Sein erstes Wort beim Eintreten war: »Na, das Huhn ist natürlich gänzlich verbraten?«

Frau Heister beruhigte ihn jedoch, und er konnte sich ein paar Minuten später davon überzeugen, daß sie wahr geredet hatte.

Goldbraun oben und in weichere Töne übergehend, mit feinen Speckstreifen und Rosetten einen zierlichen Anblick bietend, lag das Huhn in seiner duftenden Soße appetiterregend vor ihm. Und auch der italienische Salat war vorzüglich gelungen. Nichts hatte Frau Heister vergessen, auch nicht die Oliven, und aus dem reichgeölten Gemisch von allerhand guten Sachen lugten auch die Köpfchen bitteren Spargels heraus, und alles wurde von einem Kranz sanft rötlicher Garnelen stimmungsvoll abgeschlossen.

Doktor Eduard Schimmel war schon wieder in bester Stimmung.

Als er sich das weiße Bruststück auf den Teller legte, murmelte er vergnüglich vor sich hin: »Viertausend Kronen Profit. Das war heute wohl ein heißer, aber trotzdem ein sehr guter Tag.«

Und als er das letzte Knöchelchen abnagte, dachte er: »Und möglicherweise nützt mir auch der Wechsel noch.«

Aber als er sich den Rest des Rotweines einschenkte, umwölkte sich seine Stirne. »Und doch war ich ein Esel!« sagte er ganz laut vor sich hin. »Hätte ich ihn nicht in solch großer Angst gelassen, so lebte er noch, heiratete die kleine Millionärin, die ja wie toll nach ihm war, und wäre immer in meiner Hand gewesen. Das hätte mir Hunderttausende getragen. Und jetzt muß ich mich mit diesen lumpigen viertausend Kronen zufrieden geben! – Ich Esel!«

Während er, nun wieder recht verdrossen, den Wechsel und das Geld aufbewahrte, fiel ihm ein, daß er ja auch Briefe mitgebracht habe. Er entnahm sie seiner Rocktasche und öffnete eines der Schreiben. Es trug die Überschrift: »Mein süßes Kind!« und war mit »Deine Dich anbetende Mutter« unterschrieben.

Schimmel lächelte sarkastisch und lachte: »Wenn du wüßtest, daß dein ›süßes Kind‹ nur über dich gelacht und dich absichtlich von sich fern gehalten hat, weil es sich einer solchen Mutter schämte, würdest du wohl nicht so viel ungesunder Liebe an den Burschen verschwendet haben.«

Nachdem er alle Briefe, die er an sich genommen, zu dem Wechsel gelegt hatte, schloß er seinen Schreibtisch und zündete sich eine feine Zigarre an.


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