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Elftes Kapitel.

Am ersten Tage des Dezember trat der jüngste Sproß des alten Adelsgeschlechtes, die verwöhnte Tochter eines einst reichen Hauses ihre Stelle als Probiermamsell in dem Warenhause Groß & Komp. an.

Kern hatte sie schon am Tage vorher abgeholt und sie seinen Chefs vorgestellt.

Klementine hatte sich wacker gehalten bei diesem ihrem ersten Schritt in das bittere Leben der Arbeit hinaus. Sie war, als sie an Kerns Seite nach dem siebenten Bezirk fuhr, gezwungen heiter, allein Kern merkte recht gut, wie erregt sie in Wirklichkeit war, wie oft sie die Farbe wechselte, wie oft sie sich auf die Lippen biß.

Sie war eine Deklassierte – darüber kam sie einstweilen doch nicht hinweg.

Im Bureau der Chefs empfing man sie freundlich und behandelte sie fast wie eine Dame.

Fast! Sie spürte sehr genau, was da fehlte, und sie schalt sich, daß es ihr wehe tat.

Nachdem Kern sie den Chefs vorgestellt hatte, führte er sie zu Fräulein Vogel, von der sie wahrhaft herzlich begrüßt wurde.

»Möchte es Ihnen bei uns gefallen, Baroneß!« Mit diesen Worten streckte ihr das Fräulein beide Hände entgegen. Sie befanden sich hinter dem Glasverschlag, von dem aus Fräulein Vogels Augen so viele und so vieles überschauten.

»Nennen Sie mich nicht Baronesse!« bat Klemi. »Wie ich so viel anderes hinter mir lassen mußte, will ich auch meinen Titel ablegen. Er paßt hier ja so wenig mehr.«

»Zu Ihrer Stellung – da haben Sie recht. Zu Ihnen selber aber wird er immer passen.«

Fräulein Vogel hatte das sehr lebhaft gesagt. Sie hielt noch immer Klementines Hände in den ihrigen.

»Jetzt will ich Sie ins Aufnahmebureau führen,« setzte sie hinzu und wendete sich dann zu Kern: »Sie wünschten, daß ich mich besonders des Fräuleins annehme,« sagte sie lächelnd, »und ich versprach dies gern. Jetzt kann ich hinzufügen, daß ich mich ihrer annehmen werde, als ob sie meine Schwester wäre.«

»Wofür ich ewig Ihr Schuldner sein werde,« entgegnete er ernst und bewegt, lächelte Klementinen zu, verbeugte sich und ging.

Eine Viertelstunde später war die Baronesse v. Teck unter das Personal des Warenhauses aufgenommen und gehörte, auf ihren Wunsch als einfache Klementine Teck, der großen Zahl von Menschen an, welche ihre Kräfte in den Dienst der Firma Groß & Komp. gestellt hatten.

Nach ihrer Heimkunft saß sie lange ihrem Bruder, den sie von ihrem Vorhaben bereits unterrichtet hatte, schweigend gegenüber.

Endlich erhob sich Klementine und legte ihren Arm um seinen Hals. Sie hatte die Träne gesehen, die ihm über die Wange geflossen war. »Ernst, Herzensbruder,« sagte sie zärtlich, »du tust ja, als ob das etwas Furchtbares wäre. Aber es ist wirklich nicht so schlimm. Vielleicht bietet sich mir auch bald etwas Besseres, für jetzt aber müssen wir froh sein, daß ich durch Kerns Empfehlung einen bezahlten Posten gefunden habe. Mein Gehalt wird zunächst hundert Kronen betragen, ist also immerhin für das Allernotwendigste hinreichend. Und ich bleibe nicht lange Probiermamsell. Als Empfangsdame habe ich dann noch mehr Gehalt, und da ich drei fremde Sprachen rede, werde ich bald vorrücken. Wenn du dann auch noch wirst verdienen können, werden wir schon wieder ein bißchen hinaufkommen.«

So tröstete sie ihn, und er gab sich seufzend zufrieden. Morgen war auch er fest entschlossen, einen beliebigen Verdienst anzunehmen, wenn er auch nur insofern standesgemäß sein sollte, weil er ehrlich war.

Aber auch die nächsten Tage brachten ihm keinen Posten, den er hätte ausfüllen können. Beschäftigungslose Künstler von Beruf gab es ja so viele, und Kellner – mein Gott – Kellner konnte er doch nicht werden! Anständig wäre ja auch das gewesen, aber Ernst v. Teck fand einfach nicht den Mut, sich in solcher Stellung der Welt zu zeigen.

»Klemi hat diesen Mut gefunden,« sagte er sich hundertmal, aber hundertmal vergebens, denn es schüttelte ihn einfach ein wilder Schauer, wenn er sich Schüsseln tragend oder Trinkgelder heischend vorstellte. –

Eines Abends begleitete Franz Kern Klementine heim, um einen Unverschämten zu vertreiben, der sie in kecker Art schon mehrmals angesprochen hatte. Noch bebend vor Unwillen kam sie zu Hause an. Kern war mit ihr hinausgegangen.

Vor ihres Bruders Tür hielt sie den Schritt an und wendete sich ihrem Begleiter zu. »Nichts sagen! Ja nichts sagen! Sonst läßt er mich morgen nicht mehr weggehen,« flüsterte sie ihm zu.

Kern nickte. Er tat, als ob er eben Ernst habe besuchen wollen. Dabei kam er, der sich ungemein für die beiden Geschwister interessierte, auf des Barons Maltalent zu sprechen und fragte ihn, ob er denn schon in dieser Richtung hin Beschäftigung gesucht habe.

Da zeigte ihm Ernst ganz allerliebste Entwürfe für Ansichts- und Tischkarten, die er, um sein Können zu zeigen, gemacht und schon verschiedenen Firmen angeboten hatte. »Ich habe auch da kein Glück,« sagte er, die Karten weglegend. »Man ist, wohin ich auch komme, mit dem, was ich anbiete, reichlich versehen. Ach, lieber Freund,« fuhr er bitter fort, »wenn einer einmal im Abwärtsgleiten ist, dann hält ihn so leicht nichts mehr auf.« –

Als aber Kern zwei Tage darauf ihn wieder besuchte, hatte er doch einen Verdienst gefunden. Man hatte durch ein Inserat einen gewandten Primgeiger gesucht. Mehr hatte die Anzeige nicht gesagt. Auf sein schriftliches Angebot hin hatte man ihn in ein Kaffeehaus zu einer Zusammenkunft gebeten.

Dort hatte er einen recht gemütlich aussehenden Herrn von mittleren Jahren gefunden, der sich ihm als Musikdirektor Leopold Schultz vorstellte und dem gegenüber er seinen Adelstitel ebenso unterschlug, wie ihn Klementine abgelegt hatte. Ernst Teck war durch nichts auffallend, und richtig war der Name ja doch.

Musik, gar solche im musikfreudigen Wien, nährt zuweilen noch recht gut ihren Mann. Dafür sprach des Herrn Musikdirektors behäbiges Aussehen und seine vergnügte Stimmung. Der große Diamant an seinem linken Ringfinger war allerdings nicht echt, das merkte der Baron auf den ersten Blick, und auch nicht ganz echt war die biedere Art und Weise dieses Herrn Schultz, die sich mit gewissen Ansichtsäußerungen, die ihm sichtlich unüberlegt entschlüpften, durchaus nicht deckte. Aber so sehr streng brauchte Ernst den gemütlichen Herrn ja nicht zu prüfen; es handelte sich ja nur um ein ganz loses Verhältnis, das von vierzehn Tagen zu vierzehn Tagen ohne viele Weitläufigkeiten wieder aufgelöst werden konnte und immerhin für die nächste Zeit die Bedürfnisse für ein bescheidenes Leben sicherte. Ernst war engagiert worden, mit Herrn Schultz, dem Klavierspieler, und dessen Freund, dem Cellisten Rudolf Haunold, den musikalischen Teil unterschiedlicher Familien- und Vereinsabende als Primgeiger zu besorgen. Schultz betrieb sein Geschäft schon seit Jahren und stand sich nicht schlecht dabei. Er hatte sich, wirklich Gutes bietend, in dieser Zeit eine feste Kundschaft gesammelt, und es flogen ihm ob seines guten Rufes noch immer mehr Kunden zu, so daß er den Anforderungen, die man an ihn stellte, kaum mehr gerecht werden konnte. Teck, so schlug er vor, solle ihn am nächsten Vormittag mit seiner Violine besuchen und ihm etwas vorspielen. Genüge er, so könne er ihn bis zum kommenden März etwa beschäftigen und ihm eine abendliche Einnahme von fünf Kronen nebst freier Verköstigung zusichern.

Ernst überlegte nicht lange und nahm die gestellten Bedingungen an. Am nächsten Vormittag lernte er in seines neuen Chefs höchst genialer Junggesellenwohnung den neuen Kollegen Haunold, ein dürres, bescheidenes Männchen, kennen und bedauern, denn der in jeder Beziehung bemitleidenswerte Cellist besaß ein krankes Weib, drei kleine Kinder und eine höchst wankende Gesundheit.

Eines nur vergoldete des schon alten Mannes trübe Tage, die unendliche Liebe zu seiner Kunst. Haunold war einfach entzückt bei Tecks Probespiel.

In Schultz wurde dabei wohl auch der Kenner, noch mehr aber der Geschäftsmann munter. Letzterer gönnte dem Spiele, das ersteren mehr als nur befriedigte, pfiffigerweise kaum mehr als ein mäßiges Lob.

Ernst lag an seinem Urteil ungemein wenig. So setzte er sich also gleichmütig über die kühle Beurteilung seines Musikdirektors hinweg und unterschrieb recht gern die beiden gegenseitigen Kontrakte, davon ihm einer eingehändigt wurde.

Abends erzählte er Klementinen, wozu er sich verpflichtet hatte.

Sie hielt mit Mühe die Tränen zurück, die sich durchaus in ihre Augen drängen wollten, und wünschte ihm Glück zu seinem Entschluß und zu dessen Ausführung. Dann bemühten sich die beiden Geschwister, einander so viel Freundliches zu sagen und zu tun, als nur möglich war. Ernst schilderte mit Humor die Zigeunerwirtschaft, in welche er heute Einblick erhalten, und Klementine erzählte ihm mit einer Lustigkeit, die allerdings recht künstlich war, von den Vorgängen im Geschäfte.

Schließlich waren beide froh, schlafen gehen zu können. So gescheit sie waren, schämte sich doch ganz überflüssigerweise eines vor dem anderen, und in diesem Empfinden fanden sie erst spät den Schlaf.

Namentlich Ernst empfand wieder einmal furchtbar schwer den Unterschied zwischen einst und jetzt. Einst Kavalier und freier Künstler, seine Schwester die Angehörige der besten Gesellschaft – und jetzt! Sie Probiermamsell in einem Warenhause, und er Musiker für fünf Kronen abendlich und – freies Nachtmahl!

Er biß die Zähne knirschend aufeinander.

Aber es war ja nun doch erreicht, das Ziel, das Ideal der Verarmten, davon er zu Keßler gesprochen: ganze Stiefel und Sattwerden – das hatten sie erreicht.

Arme Kulturmenschen des alten Europa mit ihren starren Begriffen über das, was sein und was nicht sein darf, die sich deklassiert fühlen, wenn ein widriges Geschick sie in andere Bahnen geworfen hat!

Da haben es die über dem großen Wasser besser. Die fühlen sich immer als Menschen, ob die Lebensschaukel sie auch noch so weit hinaufschnellt oder noch so weit unten absetzt.

Wir aber fühlen nicht unsere eigene Persönlichkeit, nicht unseren eigenen Wert, wir taxieren uns nur nach unserer Stellung der Welt gegenüber.

Wir sind eben Rangklassenmenschen!

*

Am 15. Dezember, Abends acht Uhr, schaute ein hübsches kleines Bürgermädel, dessen Schwester heute Hochzeit gemacht, mit schwärmerischen Blicken von der Tafel aus zu dem Musikantentisch hinüber, der in einer Ecke des Hotelsaales auf einem halb von Pflanzen maskierten Podium stand.

Dort lehnte, sehr elegant in Schwarz gekleidet, ein schlanker junger Mann neben dem Klavier und spielte auf einer ganz ausgezeichneten Violine ein süßes Liebeslied. Es war so zart, so süß, daß selbst der dicke Brautvater die Gänsebrust vergaß, die vor ihm auf dem Teller lag. Ganz still war es im Saale, keines aß und trank mehr, alles lauschte, und alles schaute nach dem Geiger, der das blasse, schöne Gesicht über sein Instrument neigte, dessen Augen so traurig und dessen Hände so fein waren.

Und als das Lied verklungen, der Geiger hinter der Pflanzenwand verschwunden war, und der dicke Klavierspieler mit den ersten Takten eines beliebten Walzers den Zauber brach, sagte der Brautvater ganz laut: »Der kann was! Schade um den Kerl!«

Sein Töchterlein aber, der liebe Backfisch, der noch an keine Rangklassen dachte, aber schon recht wienerisch pfiffig war, engagierte später bei der Damenwahl den hohen, schlanken Herrn, der, da der Klavierspieler gerade allein Musik machte, in einer Fensternische lehnte. Aber der Herr war besonnener als sie. Er machte ihr eine tadellose Verbeugung und sagte freundlich: »Gnädiges Fräulein, Sie irren! Ich gehöre auf das Podium hinauf. Und – Sie wissen wohl, Kellner und Musikanten darf man nicht zum Tanzen engagieren. Aber« – er lächelte noch immer, nur war jetzt auch etwas wie Dank und Weichheit in seiner Stimme – »aber die Blumen, die Sie mir zudachten, die dürfen Sie dem armen Musikanten schon geben.«

Und sie gab ihm errötend die Blumen. – Ein paar Stunden später träumte sie von ihm, und noch lang danach sah sie sein schönes Gesicht mit den tiefblauen Augen und dem hellbraunen Bart vor sich, auf dem so hübsche, goldene Lichter flimmerten.


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