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Erstes Kapitel.

Ein wunderschöner Morgen zu Anfang des Juni blaute über Wien. Auf der Mariahilferstraße herrschte, wie immer, reges Leben und Treiben.

Es war noch früh. Auf die achte Stunde erst wies der Zeiger der Uhr, welche sich an der Stirnseite der vielbesuchten Mariahilfer Kirche befindet, die schon vor alter Zeit ihrer ganzen Umgebung den Namen gegeben hat, den der jetzige sechste Bezirk der schönen Kaiserstadt weiterführt.

Aus dem Portal der Kirche trat eine junge Dame. Ihre Kleidung war wohl sehr einfach, aber im Schnitt tadellos, und wie sie getragen wurde, bewies deutlich, daß eine Dame der vornehmsten Kreise sie trug. Unter dem dunklen Strohhut schauten ein Paar Augen hervor, die durch ihre Schönheit auffielen, aber auch in diesem Augenblick dadurch, daß sie vom Weinen stark gerötet waren. Auch das edelgeschnittene, reizende Gesicht zeigte tiefe Traurigkeit.

Als die Dame, die kaum das zwanzigste Jahr überschritten haben konnte, zu der Statue Haydns hinaufblickte, die mitten auf dem kleinen Kirchenplatze steht, erhellte sich ihr Blick, lächelte unwillkürlich ihr feingeformter Mund. Das schöne Standbild sagte ihr mehr als anderen Leuten. Sie liebte ja die Musik so unendlich, und gerade heute würde sie im Konservatorium eine der schönsten Kompositionen des großen Meisters vorspielen.

Ihre Musikrolle und ihren schwarzen Seidenbeutel fester fassend, eilte sie dann über die Straße und trat in das mächtige Warenhaus, welches die Ecke der Mariahilferstraße und der Kirchengasse einnimmt.

Langsam ging sie an den vielen Tischen vorüber, auf welchen die Verkaufsartikel lockend ausgelegt waren. Hier türmten sich hohe Pyramiden verschiedenen Briefpapieres in den Farben der Frühlingsblüten auf, dort zogen diese selber, täuschend der Natur nachgeahmt, in köstlichen Arrangements die Augen auf sich, und daneben, einer anderen Verkäuferin anvertraut, sah man Hutfedern von allen möglichen Formen und Farben auf bronzenen Haltern. Hier lockten Gürtel aus Seide und Leder, aus Perlen und Metall mit künstlerisch schönen Verschlüssen zum Ankauf, und dort schmiegten sich Handschuhe aller Arten in Stößen oder in eleganten Kartons aneinander. Hier bauschten sich Spitzen und Bänder, und dort konnte man Gewebe vom zarten Maline und weichen Krepp bis zum dichten Automobilschleier sehen.

Schier unabsehbar reihten sich die Verkaufstische aneinander in dem riesigen Saal, dem sich beiderseits andere, ebenso ausgedehnte Verkaufsräume anschlossen und dessen mächtige Pfeiler all die offenen Stockwerke trugen, über die sich eine ungeheure Glaskuppel spannte.

Wiewohl es noch früh am Morgen war, herrschte hier schon überall reges Leben. Kunden kamen und gingen, die Angestellten eilten hin und her, große Warenballen wurden ausgepackt und ihr Inhalt in die Fächer eingeräumt.

Mit träumerischem Blick ließ die junge Dame ihre Augen über all den Glanz und Reichtum hinwandern, dann trat sie zu einer der Verkäuferinnen mit der Frage nach der Abteilung, in welcher Kleiderstoffe zu haben waren. Man wies sie über den riesigen, glasgedeckten Hof nach der Baumwollenabteilung.

Im Hinterball des Riesenhauses, der wieder auf einen großen Hof hinausging, fand sie, was sie suchte. Ein Verkäufer breitete so viele Stoffe vor ihr aus, daß ihr die Wahl schwer wurde, und sie wehmütig an ihre Börse denken mußte, deren bescheidener Inhalt diese Wahl nur noch schwerer machte. Sie wendete sich daher energisch von den reizenden Batisten ab, deren Erwerbung der sehr gewandte Verkäufer ihr wortreich anriet, und wünschte billigere Stoffe vorgelegt zu bekommen.

In diesem Augenblick sagte jemand neben ihr: »Guten Morgen, Baroneß.«

Sie sah erstaunt auf, dann aber streckte sie dem großen, hageren Mann, der sich artig vor ihr verbeugte, freudig die Hand entgegen und rief angenehm überrascht: »Sieh da, Herr Kern! Also gerade diese Abteilung steht unter Ihrer Obhut? Das ist ein hübscher Zufall, daß wir uns treffen!«

In den Mienen des Herrn drückte sich aufrichtige Teilnahme aus. Er zeigte ihr einen offenen Brief, den er schon vorher in der Hand gehalten, und erklärte: »Gestatten Sie, Baroneß, daß ich Ihnen sage, wie lebhaft ich mit Ihnen fühle. Mein Bruder Karl hat es mir sofort geschrieben.«

Der Verkäufer hatte sich taktvoll zurückgezogen. Die beiden waren allein.

»Ihr Bruder ist auch gleich zu uns gekommen und hat uns seine Teilnahme ausgesprochen,« sagte die Baroneß und setzte dann tief aufseufzend hinzu: »Ach, Herr Kern, seit der Vater tot ist, wird es immer schlimmer. Wie Ernst das überstehen wird, weiß ich wirklich nicht. Ich verstehe zu wenig von Geld und Geschäften und Bodenerträgnissen, um einen klaren Einblick in unsere Verhältnisse zu haben, aber ich fürchte, sie sind sehr übel. Nicht wahr, es ist so? Ihr Bruder hat Ihnen gewiß darüber geschrieben.«

»Baroneß, ich –«

»Sie wollen mir nichts sagen?«

»Wenn es Ihr Herr Bruder nicht tut, dann will er offenbar, daß Sie diesen Dingen ferngehalten werden.«

»Aber Ihrem Bruder sagt er alles!«

»Mein Bruder hat die Ehre, ein Freund des Herrn Barons zu sein. Gegen irgend jemand muß man doch offen sein können. Auch ist Karl keine junge Dame.«

»Wie ich, die noch immer verwöhnt werden soll!«

»Ich finde das sehr natürlich.«

»Ich aber nicht, Herr Kern. So viel verstehe ich schon vom Leben, um zu wissen, daß ich nicht da bin, um ewig andere für mich sorgen zu lassen. Ernst muß unbedingt entlastet werden, deshalb bin ich jetzt riesig fleißig. Wirklich – riesig! In einem Jahre kann ich meine Schlußprüfungen machen. Da ich auch in Sprachen tüchtig bin, werde ich niemand mehr zur Last fallen müssen und dabei doch passenden Umgang haben. Ernst kann ich vielleicht dann sogar noch ein bißchen helfen.« Die junge Dame atmete tief auf.

»Das sind ja wunderschöne Pläne,« sagte Kern wehmütig lächelnd, »aber ich wäre sehr, sehr froh, wenn Sie sie nicht auszuführen brauchten, denn –«

»Denn ich bin nicht stark genug dazu. Das wollten Sie ja wohl sagen, Herr Kern. Aber Sie irren. Da sehen Sie, wie bescheiden ich geworden bin! Solch ein Kleid werde ich tragen. Das Meter zu vierundachtzig Heller. – Bitte, schneiden Sie zehn Meter ab!« rief sie dem wieder näherkommenden Verkäufer zu. – »Also, lieber Herr Kern, Sie kommen doch nächsten Sonntag nach Klosterneuburg? Ihr Bruder und ich singen in der Stiftskirche.«

»Selbstverständlich komme ich,« beeilte sich Kern zu erwidern.

»Schön. – Aber jetzt, bitte, beeilen Sie sich!« rief die Baroneß ein wenig herrisch dem Verkäufer zu, »ich muß gehen.«

»Baroneß gehen ins Konservatorium?« fragte Kern.

»Ja, und dann fahre ich nach Hause. Ich fürchte, Ernst wird unangenehmen Besuch bekommen, da will ich bei ihm sein. – O, wer ist denn diese Person?« erkundigte sie sich, und ihre Miene drückte deutlich das Mißfallen aus, welches das Mädchen ihr einflößte, das soeben mit einem Herrn vorüberging.

Diese nicht mehr junge Person war ebenso auffallend gekleidet und frisiert, als sie auffallend mit ihrem Begleiter kokettierte. Sie hatte den verwunderten Blick der jungen Dame bemerkt und erwiderte ihn mit einem unverschämten.

Die Baronesse hob den Kopf sehr hoch und wandte ihr langsam den Rücken zu.

»Es ist die Vorstandsdame unserer Konfektionsabteilung,« sagte Kern, der sichtlich von dieser Persönlichkeit auch nicht eben entzückt war.

Die Baronesse aber ging nicht weiter auf diese Bemerkung ein. »Sie bleiben dann Abends natürlich mit Ihrem Bruder zu Tisch bei uns. Nicht?« sagte sie lebhaft.

»Sehr gern, Baroneß!« versicherte Kern aufrichtig, während sie dem Verkäufer zur Kasse nachgingen.

»Sie müssen natürlich fürliebnehmen,« sagte die junge Dame schmerzlich lächelnd. »Aber trotzdem ich Gästen nur wenig bieten kann, lade ich unsere alten Freunde gern ein zu kommen, denn Ernst braucht liebe Menschen um sich, Menschen, vor denen er nicht Komödie zu spielen braucht. Auch Sie, Herr Kern, sind ein solcher. Darum bitte ich, kommen Sie!«

»Schon um alter Zeiten willen komme ich ja so gern nach Wellhof,« entgegnete er bewegt. »Ihre teuren Eltern sind uns edle Wohltäter gewesen, und Ihr Bruder und Sie – o Baroneß, ich bin glücklich, weil ich kommen darf.«

Er drückte ihr abschiednehmend respektvoll die Hand, und ein paar Minuten später verließ Baronesse Klementine v. Teck das Warenhaus Groß & Komp.

Am Ausgang begegnete ihr ein hübscher, etwa fünfzehnjähriger Junge in der schmucken Hausuniform der Firma, der eben einen Stoß Pakete zu dem vor dem Portal stehenden Automobil trug. Er hatte sich augenscheinlich zu viel aufgeladen, denn eines der Pakete fiel ihm vom Arm und er konnte sich nicht bücken, um es wieder aufzuheben.

Da bückte sich die Baronesse Klementine v. Teck und übergab es ihm mit einem liebenswürdigen Lächeln.

Der Junge schaute sprachlos der Davonschreitenden nach. Auf seinem Gesicht aber stand geschrieben, daß er der vornehmen jungen Dane diesen Liebesdienst nicht vergessen würde.

*

Baron Ernst v. Teck verbrachte diesen Vormittag in noch viel trüberer Stimmung als seine Schwester. Jedenfalls hatte er nicht so wie sie zeitweilig eine Ablenkung von seinen traurigen Gedanken gefunden.

Er ging schon eine gute Weile in seinem Arbeitszimmer auf und nieder und war augenscheinlich sehr unruhig.

Er war dies schon lang. Schon seit Monaten fragte er sich, was wohl aus seiner Schwester und ihm werden solle, wenn das Unglück ihn noch länger so verfolgte, wie es ihn, seit er das väterliche Gut bewirtschaftete, verfolgt hatte. Grau und düster lag die Zukunft vor ihm.

Seufzend blieb er am Fenster stehen. Sein hübsches, sympathisches Gesicht drückte tiefe Entmutigung aus. Und er war doch noch so jung – neunundzwanzig Jahre, also gerade in dem Alter der größten physischen Kraft. Aber die letzten vier Jahre hatte er einen aussichtslosen Kampf gekämpft, einen Kampf, in dem er unterliegen mußte, einen Kampf, für den er nach keiner Richtung hin gerüstet gewesen war. Er, die feinsinnige Künstlernatur, er, der nie dafür erzogen worden war, Landwirt zu sein, fand sich plötzlich auf einen Posten gestellt, der ihm gänzlich fern lag. Von der Kunstakademie weg mußte er ohne jeden Übergang die Verwaltung des Gutes übernehmen, der sein schwer erkrankter Vater nicht mehr vorstehen konnte. Willig hatte er sich der Aufgabe unterzogen, aber neben ihm stand nicht nur das Bewußtsein seiner unzulänglichen Kraft, sondern auch der Mangel an den erforderlichen Mitteln. Sein Vater hätte das schon stark belastete Gut vielleicht halten können, da seine Gläubiger ihm vertrauten, dem jungen Künstler dagegen wurden von allen Seiten Schwierigkeiten gemacht. Dennoch führte er den aussichtslosen Kampf weiter, denn der kranke, nun verstorbene Vater hatte es gewünscht. Noch am letzten Tage hatte er ihm gesagt: »Du wirst dich schon halten. Ein paar gute Jahre – und du hast Wellhof für dich und Klemi gerettet. Denke daran, daß es seit dreihundert Jahren der Familie gehört, und daß es uns nicht verloren gehen darf!«

Das hatte der Sterbende seinem Sohne gesagt, und Ernst, bestrebt, dem geliebten Vater die letzten Stunden leichter zu machen, hatte ihm versprochen, Wellhof zu halten, solange er es vermochte. Noch sah er den vertrauenden Blick, mit dem der Sterbende ihn angeschaut, noch fühlte er den schwachen Händedruck, der ihn verpflichtete.

Er lächelte schmerzlich vor sich hin, dann ließ er seine Augen hinauswandern über die verbrannten Wiesen, über die Getreidefelder, deren zu erhoffender Ertrag gestern vom Hagel in den Boden hineingeschlagen worden war, über die sanften Hügelreihen, die sich gegen die Donau hin erstreckten, und die gestern noch ein lachendes Weingelände gewesen waren. Heute boten auch diese Hügel ein Bild des Jammers.

Er lachte plötzlich bitter auf und preßte dabei die feinen, blassen Hände ineinander. Der Weinertrag war seine Hoffnung, seine einzige Hoffnung gewesen! Die Sonnenglut, die dem Grase so übel bekommen war, die hatte es mit dem Weine gut gemeint. Eine einzige Hagelwolke hatte nun seine ganze Hoffnung vernichtet. Baron Teck war dem Ruin wieder um ein gutes Stück näher gekommen.

»Arme Schwester,« murmelte er, »wie wirst du das ertragen?« Unbeschreiblich weh tat ihm der Gedanke, daß er sein Wort nicht werde halten können, dieses in Liebe und Verehrung voreilig gegebene Wort, und der andere Gedanke, daß seine Schwester vielleicht schon demnächst die bitterste Form der Armut, die ungewohnte, ängstlich verborgen gehaltene Armut kennen lernen werde.

In diese quälenden Gedanken versunken, starrte Ernst noch immer auf die verwüsteten Weinberge hinüber. Er gewahrte es nicht, daß eine dicke Rauchwolke hinter ihnen aufstieg, daß ein Zug auf der Station drüben hielt. Erst als dieser Zug sich wieder in Bewegung setzte, wurde der Baron durch den schrillen Pfiff der Lokomotive aufmerksam. Zerstreut richtete er seine Augen auf das kleine Stationsgebäude, dessen Ausgangstür man vom Wellhofer Herrenhause aus gewahren konnte. Die Station lag ganz einsam da.

Die breite Landstraße zog, dem Flusse parallel bleibend, daran vorbei. Von ihr zweigte die Straße ab, die nach dem Wellhofer Schlosse führte, und auf dieser wurde jetzt eine Frauengestalt sichtbar.

Sie ging sehr rasch, und bald verschwand sie hinter einem Gebüsch, welches am Wege lag.

Als sie wieder zum Vorschein kam, befand sie sich schon so nahe, daß Ernst sie zu erkennen vermochte. Sofort verfinsterte sich sein Gesicht.

»Das auch noch!« sagte er laut. »Klemi hatte also doch recht, als sie diesen Besuch als sicher voraussagte.«

Ganz unwillkürlich war er einige Schritte vom Fenster weggegangen. Er stand jetzt neben seinem Schreibtisch und griff nach einem Einschreibeschein, der unter einem Briefbeschwerer lag. »Robert v. Lassot,« las er laut und dann »fünfter Juni. – Heute früh also hat er meinen Brief erhalten. Er weiß nunmehr, daß er von mir nichts zu erwarten hat.« Er trat wieder an das Fenster. »Ob auch seine Mutter es weiß?« setzte er in Gedanken hinzu und blickte hinunter.

Die Frau war schon ganz nahe. Sie trug Trauerkleider. Mit ihrer gedrungenen Gestalt, mit ihren breiten, verschwommenen Zügen sah sie nichts weniger als vornehm aus. Auch ihre Bewegungen waren nicht vornehm, wie sie so auffallend eilig daherkeuchte.

Jetzt hielt sie einen Augenblick lang an dem Tore des Gitters an.

»Die Arme! Wie sie gerannt ist!« murmelte der Baron, und seine Züge waren nicht mehr hart. »Eine Mutter in Sorge! Ich werde mich bemühen, gut gegen sie zu sein.«

Er ging ihr entgegen, und im Vorsaal trafen sie zusammen.

Er streckte der augenscheinlich sehr Aufgeregten die Hand entgegen. »Ich kann es mir denken, warum du kommst, arme Tante,« sagte er sanft.

Die Dame war noch atemlos. Ihr schweißbedecktes Gesicht mit ihrem Taschentuche abwischend, trat sie ihrem Neffen voran in dessen Zimmer. Dort erst ergriff sie seine Hand und schaute ihn angstvoll und lauernd an. Ihre kurzen Finger umspannten wie im Krampfe seine Hand, während sie mit rauher Stimme sagte: »Selbstverständlich hast du ihn eingelöst! Es wäre einfach infam, wenn du es nicht getan hättest!«

Sie standen jetzt beim Schreibtisch.

Ernst v. Teck hatte seine Hand mit einem jähen Ruck befreit. Er war sehr bleich, und seine Züge waren wieder finster geworden. Es lag ja so viel Widerwärtiges zwischen ihm und ihr. Das hatte er vergessen wollen, aber die Art dieser Frau, ihre innerliche Roheit, der gänzliche Mangel an der allergewöhnlichsten Einsicht und Gerechtigkeit zwangen immer wieder dazu, ihre Fehler widerwärtig deutlich vor Augen zu haben.

»Setze dich, Tante!« sagte er, sich gewaltsam zur Ruhe zwingend, und schob ihr den Rohrsessel hin, der vor dem Tische stand.

Frau Leona v. Lassot sank in den Sessel. Auch sie war jetzt bleich. Nur noch einzelne rote Flecken hoben sich von der gelblichen Blässe ihres Gesichtes ab, das vor Jahren vielleicht hübsch gewesen sein mochte, jetzt aber recht ungünstig wirkte.

Wieder waren ihre tiefliegenden Augen voll Angst, und zwar diesmal wirklich nur voll Angst, auf den jungen Baron gerichtet. »Sei nicht böse,« sagte sie. »Wenn ich heute ein Wort zu viel sage, darfst du dich nicht wundern.«

Er lächelte ironisch. »Liebe Tante, du hast die, welche dich kennen, längst daran gewöhnt, daß du bei jeder Gelegenheit ein paar Worte zu viel sagst. Daraus ist ja doch der Zwist zwischen den Häusern Teck und Lassot entstanden. Nun – es gibt jetzt nur wenige noch, die du aufeinanderhetzen oder auseinanderbringen könntest. Mit anderen Leuten verkehrst du ja kaum. Dennoch muß ich das Wort in Bezug auf mein Handeln, das du soeben gebrauchtest, entschieden zurückweisen.«

Seine Ironie war in eine Strenge übergegangen, die ihm außerordentlich gut stand, die Frau v. Lassot aber nur ängstigte und reizte. Da ihre Angst jedoch viel größer war als die Sucht, ihm seine harten Worte zurückzugeben, bezwang sie sich.

»Denke nicht mehr daran!« begann sie beinahe demütig. »Denke überhaupt nicht an mich, denke nur an ihn, an meinen armen Jungen, der jetzt in so großer Not ist!«

»In die er sich selber gebracht hat.«

»Wer sagt denn, daß es anders ist? Aber –«

»Du findest schon wieder ein ›aber‹!«

»Selbstverständlich! Bin ich doch seine Mutter!«

»Die vollständig blind vor Liebe ist!«

»Wirf mir das wenigstens jetzt nicht vor und – mein Gott – rede endlich! Ich werde ja krank vor Angst! Ernst, nicht wahr, mein lieber Ernst, du hast Robert aus dieser entsetzlichen Lage befreit, du hast diesen unglückseligen Wechsel eingelöst?«

Weit vorgebeugt starrte sie den Baron an, und als der den Kopf schüttelte und auch mit Worten verneinte, sank sie vor Schrecken in ihren Sessel zurück.

Vielleicht hatte sie für ein Paar Augenblicke lang wirklich das Bewußtsein eingebüßt, vielleicht auch hatte ihr der Schrecken nur für kurze Zeit alle Kraft genommen. Jedenfalls hatte sie die Herrschaft über ihre Glieder, ja sogar über ihre Zunge verloren.

Er zog sich einen Stuhl heran, setzte sich zu ihr und legte seine Hand auf ihren Arm. »Tante,« fing er sanft an, »wenn ich auch nur selten an deiner Seite stehen konnte, diesmal ist es der Fall. Ich begreife deine Aufregung, und mein ganzes Mitleid gehört dir. Auch Klemi ist über das Geschehene außer sich. Sie hat gar nicht weggehen wollen, denn sie nahm an, daß du hierher kommen würdest. Meine Schwester ist eben immer klüger als ich –«

Ob die Frau ihm zugehört, ob sie seine Reden verstanden hatte, war nicht zu ersehen. Plötzlich brach sie in ein jammervolles Schluchzen aus. »Ihr wollt ihm nicht helfen, ihm nicht helfen, da er jetzt so entsetzlich unglücklich ist!« schrie sie.

Sie stieß Ernst zurück, erhob sich und lief wie eine Wahnsinnige durch das Zimmer.

Da stand auch er auf, stellte sich mit verschränkten Armen vor den Schreibtisch und betrachtete mit mißbilligenden Blicken die Wütende. »Warum tobst du denn hier bei mir?« fragte er kühl. »Ich nehme nämlich wohl als richtig an, daß du von Horn kommst und erst, nachdem du mich besucht hast, nach Wien weiterfahren wirst. Siehst du, für dort hättest du dir diesen Wutanfall aufsparen sollen, denn im Zimmer deines Sohnes wäre er am richtigeren Platze gewesen.«

»Von Robert rede nicht!« schrie sie. »Er ist jetzt im Unglück. Er hat auf dich gebaut, und du verlässest ihn, und das ist erbärmlich – erbärmlich, sage ich!«

Ernst zuckte die Achseln. »Deine Logik und deine Moralbegriffe waren seit jeher ziemlich verwirrt, Tante Leona,« entgegnete er ruhig. »Darüber kann man mit dir eigentlich nicht reden. Ich möchte dir's aber trotzdem begreiflich machen, daß ich, selbst wenn ich es hätte tun wollen, diesen Wechsel, auf welchem Robert meine Unterschrift gefälscht hat, nicht hätte einlösen können, weil mir nach allen Richtungen hin die Hände gebunden sind, weil ich so arm geworden bin, daß ich nicht einmal fünfzehnhundert, geschweige denn fünfzehntausend Kronen sofort aufzutreiben im stände wäre.«

»Also so arm bist du, daß du nicht einmal die Ehre deines Vetters retten kannst? Ich meine, zu diesem Zwecke müßte ein Mensch, der ein Herz hat, Himmel und Hölle in Bewegung setzen.«

»Was ich diesbezüglich an Herz besitze, bin ich meiner Schwester schuldig.«

»So wirst du für Robert wirklich nichts tun?«

»Nein, ich kann nicht, und wenn –«

Ernst stockte. Er biß sich auf die Lippe, und seine Hände ballten sich.

Frau v. Lassot schluchzte halb, und halb schrie sie: »Und wenn du auch könntest, so willst du einfach ihm nicht helfen.«

»Jedenfalls verdient ein Mann, der, nur um seiner Genußwut frönen zu können, bis zum Wechselfälscher herabsinkt, keine Hilfe. Das, Tante, das muß ich dir sagen, so leid es mir tut, da du mir, ohne jedes Recht hierzu, so häßliche Vorwürfe machst.«

»Ohne Recht? Ohne Recht? Da – lies doch diesen Brief und sage dann noch einmal, daß ich ohne Recht dich den Verderber meines unglücklichen Sohnes nenne!«

»Ich bin der Verderber Roberts nicht! Sage so etwas nicht noch einmal! Es muß doch jede Verrücktheit eine Grenze haben.«

»Was sprichst du von Verrücktheit? Da, lies diesen Brief! Heute früh habe ich ihn erhalten. Mit dem nächsten Zuge bin ich hierher gefahren, um mir Ruhe zu holen, und nun –«

Sie sank aufstöhnend in den nächsten Sessel.

Ernst las schon. Plötzlich strömte ihm das Blut zum Kopfe, und dann wurde er sehr blaß. »Robert ist ein Schuft!« sagte er mit Anstrengung, und danach war er mit einem Schritt an der Seite seiner Tante und hielt diese, welche emporfahren wollte, mit eiserner Hand nieder. »Bleibe ruhig,« riet er ihr, »ich wiederhole, daß dein Sohn ein Schuft ist, falls er nicht etwa den Verstand verloren hat. Denn es ist kein Wort wahr von der Entschuldigung, die er seiner Selbstanklage folgen läßt.«

»Ernst – Ernst!« schrie sie grimmig.

»Daß du das hast glauben können, was er dir da vorlügt! Oder gibst du vielleicht nur vor, es zu glauben? Ich muß das fast annehmen, denn selbst du kannst nicht glauben, daß es einen vollsinnigen Menschen gibt, der einem anderen erlaubt, auf seinen Namen Wechsel auszustellen.«

Frau v. Lassot schaute ihn verwirrt an. »Er setzt doch hinzu,« stotterte sie, »daß du ihm dies nur unter der Bedingung erlaubt hast, daß er diese Wechsel seinerzeit wieder einlöst.«

»Ein so leichtsinniger Lebemensch, wie dein Robert einer ist, denkt gar nicht daran, Verpflichtungen einzuhalten. Aber auch dem ehrenfestesten Menschen würde ich es nicht erlauben, meinen Namen auf seine Wechsel zu setzen, und – Tante Leona, das verstehst du so gut wie ich. Trotzdem du seit einem Jahre von Robert gezwungen wirst, wie eine Verbannte zu leben, kannst du es ja doch noch nicht vergessen haben, wie vorsichtig jeder nicht nur mit seinem Gelde, sondern auch mit seinem Namen sein muß. Du glaubst also selber nicht an die Richtigkeit von Roberts Angabe.«

»O ja – ich glaube daran.«

»Tante!«

»Höchstens kann da ein Mißverständnis obwalten. Du hast ihm vielleicht einmal im Scherz oder in einer Weinlaune diese allerdings unvorsichtige Erlaubnis gegeben.«

»Auch das glaubst du selbst nicht.«

Wie geistesabwesend streicht sie sich das wirre Haar aus der feuchten Stirne, Röte und Blässe wechseln auf ihrem Gesicht. Plötzlich liegt sie Ernst zu Füßen.

»Aber Tante!« ruft er halb zornig, halb mitleidig und streckt die Hände nach ihr aus.

Aber sie umklammert seine Knie und schluchzt: »Laß mich, Ernst, laß mich dich so um Hilfe bitten! Du kannst sie ihm ja nicht versagen! Ein bißchen hast du ihn ja doch lieb. Ich kenne doch dein Herz! Du hast für die Deinigen immer so viel Liebe gehabt, warst das Glück deiner Mutter, bist der Stolz deines Vaters gewesen und bist der beste Bruder. O Ernst! Ein Mensch von deiner Art kann einen anderen nicht zu Grunde gehen lassen. Und wenn du meinen Sohn selbst haßtest, so muß seine Not dich rühren. Ernst, lieber Ernst, hilf ihm!«

Jetzt war nichts Gemachtes und nichts Widerliches mehr in ihr. Es war die Mutter, die für ihr Kind bittet, die sich um ihres Sohnes willen demütigt.

Gerührt hob sie der Baron auf und geleitete sie wieder zu dem Sessel. »Schau, Tante, ich hasse Robert ja nicht. Du weißt, daß ich ihm vor zwei Jahren schon einmal geholfen habe. Jene fünftausend Kronen fehlten mir schon gar oft, und ich habe ihn häufig bitten müssen, mir dieses Geld zurückzuerstatten. Er hat es mir nicht zurückgegeben, aber trotzdem –«

»Er wird es dir ganz gewiß zurückzahlen,« beeilte Frau v. Lassot sich zu versichern. »Du weißt doch, Lucie Fein ist schon seine Braut; wenn sie seine Frau sein wird, ist er fast Millionär. Da kannst du doch sicher sein, daß er dir diese Schuld zurückzahlt, und auch ich selbst bin dir dafür sicher. Ernst, mein heiliges Ehrenwort, ich zahle dir diese Schuld zurück, und wenn ich es nicht früher tun kann, dann geschieht es nach Tantes Tod. Du weißt es ja, daß ich ihre Erbin bin. Aber jetzt – um Gottes willen – hilf Robert noch einmal!«

Da führte er sie zum Fenster und deutete hinaus. »Merkst du, daß ich dieses Jahr so gut wie keine Einnahmen haben werde?« sagte er bitter. »Und auf dem Gute lastet bereits eine dritte Hypothek. Im Frühjahr habe ich sie aufnehmen müssen. Jetzt frage ich dich, wer wird mir noch Geld leihen? Woher soll ich also die fünfzehntausend Kronen nehmen, die über meinem Namen auf jenem Wechsel stehen? Arme Tante – ich kann einfach Robert nicht helfen, in keiner Beziehung helfen. Die Sache hat schon ihren Lauf genommen.«

Frau v. Lassot stöhnte, dann schrie sie auf: »Kannst du denn nicht wenigstens das Schlimmste verhindern?«

»Seine Verurteilung meinst du?«

»Mein Gott, Ernst, hättest du wenigstens –«

»Was denn? Ich glaube, du bewegst dich im Kreise. Du kannst nicht loskommen von dem Gedanken, daß ich mich für Robert zu opfern habe. Du redest wieder von dem Wechsel, den ich hätte zurückhalten sollen. Aber wie denn? Als man mir ihn präsentierte, war ich natürlich überrascht und maßlos ergrimmt. Ich mußte einfach die Unterschrift als gefälscht bezeichnen. Da gibt es kein Zurücknehmen mehr.«

»Gewiß könntest du noch alles zurücknehmen.«

»Wie denn? Wo denn?«

»Erkläre einfach, daß es doch deine Unterschrift ist.«

»Das würde vor Gericht geschehen müssen, denn ich kann den Wechsel nicht einlösen, und sein Besitzer wird ihn zweifellos einklagen.«

»Also vor Gericht!«

»Ich müßte da einen falschen Eid schwören.«

»Und wenn auch! – Du rettest damit eines Menschen Ehre!«

»Und verliere im günstigsten Falle die meinige. Aber es könnte auch Zuchthaus dabei für mich herauskommen.«

»Muß es denn durchaus zu einem Eid kommen?«

»Nur deiner Aufregung schreibe ich es zu, daß du durchaus nicht verstehen willst. Also höre, wie ich den Fall ansehe und wie er vielleicht auch ist. Der, welcher Robert das Geld gab, wußte möglicherweise schon von vornherein, daß der Wechsel einen gefälschten Namen trug und –«

»Und darauf hätte er Geld gegeben?« höhnte Frau v. Lassot.

»Natürlich hat er es gegeben. Auf diesen Wechsel sogar noch lieber als auf irgend einen anderen. Hat er gewußt, daß Robert eine reiche Braut hat, daß somit dieser Wechsel ganz sicher eingelöst werden wird, dann ist es sein Vorteil, die Sache geheimzuhalten, dann kommt sie nicht vor Gericht. Glaubt er jedoch, daß von Robert nichts mehr zu holen ist, dann wird er ihn bestraft wissen wollen. Verstehst du es jetzt?«

Frau v. Lassot gab keine Antwort.

»Hast du denn nur mich allein, an den du dich wenden kannst?« fuhr Ernst nach einer Weile fort. »Bist du denn mit Frau v. Lauren verfeindet, daß du dich nicht zu ihr zu gehen getraust?«

»O nein, Tante ist nicht böse auf mich, aber die ist doch in Baden-Baden.«

Ernst schüttelte den Kopf. »Heuer nicht. Klemi hat sie erst vor ein paar Tagen gesehen.«

»Wo?«

»In Wien. Als Klemi ins Konservatorium ging, fuhr die alte Frau Oberst an ihr vorbei.«

In Frau v. Lassot war plötzlich eine große Lebhaftigkeit gekommen. Sie zog schon ihre Handschuhe an. »An die habe ich ja sogleich gedacht,« sagte sie hastig, »aber ich nahm an, daß sie nicht hier ist, und Robert muß doch schnell geholfen werden.«

»Ja, dem muß immer sehr schnell geholfen werden,« warf Ernst herb ein.

Da sah Frau v. Lassot ihn höhnisch an und sagte bissig: »Nun, du hast ihm nur ein einziges Mal geholfen, und dazu hat dich einfach dein Gewissen gedrängt, denn hätte deine Schwester Robert damals nicht schroff abgewiesen, so hätte er sich nicht zu betäuben gebraucht. Robert hat eben ein fühlendes Herz –«

»Nur nicht für seine Eltern.«

»Er hat seinen Vater sehr geliebt. Wie hat er gelitten, weil er nicht zu seinem Begräbnis hat kommen können!«

»Meinst du? – Aber nein, ich öffne dir darüber lieber nicht die Augen.«

»Niederträchtige Verleumdungen behalte für dich!«

»Tante!«

»Und daß er mich zärtlich liebt, das weiß ich gewiß,« fuhr sie fort. »Für mich würde er gern jedes Opfer bringen. O, mich liebt er ehrlich. Wie oft drückt er mir sein Leid, daß ich nicht bei ihm sein kann, in seinen Briefen aus.«

Der Baron zog die Uhr. »Es ist elf Uhr. In einer halben Stunde geht ein Zug. Ich meine, ich muß dich daran erinnern.«

Frau v. Lassot ging schon nach der Tür. »Ich eile ja schon,« sagte sie höhnisch, »um anderswo die Hilfe zu suchen, die du meinem armen Sohne versagst. Ah – ich hätte es wissen können, daß ich nutzlos hierher gehe. Deine Eltern schon waren Robert abgeneigt, und du und deine hochmütige Schwester – ihr seid direkt seine Feinde. Von Wellhof ist uns noch nie etwas Gutes gekommen.«

Die Tür öffnete sich hinter ihr, und Baronesse Klementine trat ein. »O Tante! Ich hab's ja gewußt, daß du kommen wirst,« sagte sie und streckte ihr die feine Hand entgegen.

Frau v. Lassot jedoch ergriff die ihr gebotene Hand nicht, sondern wehrte sie grob mit der ihrigen ab, und während sie rief: »Laß mich! Du weißt, daß ich dich verabscheue!« eilte sie hinaus.

Die beiden Geschwister schauten ihr verblüfft nach. Als unten die Tür schmetternd ins Schloß fiel, kehrten sie schweigend in das Zimmer zurück. Bis an das Fenster gingen sie und schauten Frau v. Lassot nach.

»Wie häßlich ist es, wenn man seine Verwandten nicht achten kann!« sagte endlich das junge Mädchen. »Armer Ernst! Das war dir gerade noch notwendig! Sie war wohl noch brutaler als sonst?«

Der Baron nickte. »Ja, Klemi. Sie war wieder sehr – merkwürdig. Jetzt haßt sie uns mehr als je, und wer diese Frau zur Feindin hat, der mag sich vorsehen.«


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