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Drittes Kapitel.

Ende Juni schon konnte Frau v. Lassot das Spital wieder verlassen. Sie war nicht, wie es zu Anfang den Anschein gehabt, von einem Nervenfieber befallen worden, ihre Aufregungszustände hatten sich bald gelegt, um einer tiefen Apathie den Platz zu räumen.

Sie achtete kaum darauf, daß ihre Tante, die Oberstenwitwe, sie voll Güte zu sich ins Haus nahm, daß sie treu gepflegt, ja zärtlich behütet wurde, daß die warmherzige alte Dame voll tiefsten Mitleides alles tat, was den trostlosen Seelenzustand dieser unglücklichen Mutter zu erhellen verhieß.

Frau v. Laurens Güte schien ganz nutzlos verschwendet zu werden. Ihre Nichte blieb völlig stumpfsinnig – bis zu der Stunde, in welcher sie auf Anraten des Arztes, der sich einen Wandel dieses auf die Dauer unerträglichen Zustandes davon versprach, der seelisch so schwer Kranken den Brief gab, den ihr Sohn für sie zurückgelassen, und den Schimmel auf dem Schreibtisch hatte liegen sehen. Man hatte Frau v. Lauren diesen Brief sowie den übrigen Nachlaß des Verstorbenen ausgefolgt, nachdem sie erklärt, daß sie bis auf weiteres Frau v. Lassot bei sich behalten würde.

An einem schwülen Abend hatte die alte Dame ihrer Nichte den Brief schweigend auf den Schoß gelegt. Frau v. Lauren litt schwer unter dem Zwange, der Kranken halber in Wien bleiben zu müssen. Als sie ihr das Schreiben gab, hegte sie dabei auch für sich eine Hoffnung, da sie annahm, daß Leona, aufgerüttelt aus ihrem Kummer, sich endlich bewegen lassen würde, mit ihr Wien zu verlassen.

Ganz schüchtern setzte sich Frau v. Lauren an das Fenster und beobachtete von dort her, was nun kommen würde.

Eine lange Weile geschah gar nichts, dann griff endlich Frau v. Lassots Hand nach dem Schreiben.

Ein Zittern lief über sie hin, und ihre Augen drängten sich förmlich aus dem Kopfe. Eine dunkle Röte verbreitete sich über ihr Gesicht, und aus ihrem Munde kam ein dumpfes Röcheln.

Frau v. Lauren schauderte. So häßlich hatte sie sich das Erwachen aus dieser unheimlichen Erstarrung nicht gedacht. Am liebsten wäre sie jetzt hinausgegangen, allein sie wagte es nicht, sich zu regen.

Der Umschlag wurde jetzt in großer Eile in Fetzen heruntergerissen und das Briefblatt in fliegender Hast auseinandergefaltet. So schnell riß Leona das Papier auseinander, daß ihr davon eine Ecke in der Hand blieb.

Sie las jetzt. Ihre Hände ballten sich, ihre Zähne schoben sich knirschend übereinander.

Dann erhob sie sich. Merkwürdig groß scheinend, stand sie mitten im Zimmer. Der Brief war zu Boden gefallen. Ihre Hände hatte sie hoch erhoben, ihre Finger waren auseinandergespreizt, ihr Kopf weit vorgestreckt.

Sie sah schrecklich aus.

Frau v. Lauren duckte sich unwillkürlich zusammen. Sie erwartete unter Todesängsten, daß Leona einen Tobsuchtsanfall bekommen werde.

Aber es kam nicht so. Wohl spannte sich jeder Muskel in Leonas verzerrtem Gesicht, aber diese Spannung wich, nachdem das schreckliche Weib ihr durch einen gellenden Schrei Luft gemacht hatte.

Ganz ruhig sah sie danach aus, ganz normal. Aber sie wußte offenbar nichts von sich, denn als sie sich langsam wandte, um zur Tür zu gehen, verfehlte sie ihr Ziel und prallte an das zierliche Kästchen an, das gleich neben der Tür an der Wand stand.

Da erst kam Leona zu sich und starrte eine Weile auf die Niedlichkeiten, welche auf den verschiedenen Etagen des Kästchens standen und noch leise klirrten. Dann ging sie hinaus mit den automatenhaften Bewegungen einer Nachtwandlerin.

Frau v. Lauren, noch ganz kraftlos vor Schrecken, lauschte. Sie hörte Leona über den Gang gehen, der zu ihrem Zimmer führte.

Noch lange saß die alte Dame, die sich nur langsam erholte. Sich mühsam erhebend, ging sie den Brief zu holen, der dort am Boden lag.

Als sie sich nach ihm bückte, ergriff sie ein so starker Schwindel, daß sie beinahe hingefallen wäre. Zum Glück konnte sie sich an einem Sessel halten.

Langsam kehrte sie zu ihrem Sitz zurück und begann nach einer Weile den Brief zu lesen. Er bestand nur aus wenigen, mit Bleistift geschriebenen Zeilen.

Sie lauteten: »Schimmel gab mir so wenig Aussicht auf einen guten Ausgang, daß die Angst übergroß in mir wird. Klemi und Ernst verfluche ich. Sie hätte meine heiße Liebe nicht verstoßen, und er hätte mich nicht verraten dürfen. Die beiden zwingen mich, zu sterben.

Dein unglücklicher Robert.«

Das waren die letzten Worte eines Verlorenen an seine Mutter. Nur Haß und Rachsucht hatte er gefühlt. Sonst hatte in seiner Seele nichts mehr Raum gehabt.

Frau v. Lauren starrte lange auf den Brief. Sie hatte ihn von sich geschoben wie etwas Häßliches, das man nicht in seiner Nähe haben will.

»Was wohl Ernst Teck ihm getan hat?« fragte sich die alte Dame, nachdem sie wieder freier denken konnte. »Verraten – das ist ein böses Wort. Und ich meinte, die Tecks seien brave Menschen. Aber freilich, ich kenne sie ja kaum.« Darüber, daß Klementine v. Teck Roberts Liebe zurückgewiesen hatte, machte sich die gute Dame bei weitem weniger Gedanken. Klementine hatte einfach vernünftig gehandelt, wenn sie seinem Werben kein Gehör gegeben. Und war denn seine Liebe wirklich so heiß gewesen? Leona hatte ihr, als sie um das Geld bat, doch erzählt, daß ihr Sohn verlobt sei, mit einer Millionärin verlobt sei.

Frau v. Lauren hätte gern noch weiter über diese Sache nachgedacht, aber der Kopfschmerz, an welchem sie seit einem Schlaganfalle litt, und der sich in der letzten Zeit wieder häufiger einstellte, kam jetzt so arg über sie, daß sie alles Denken einstellen mußte.

»Ob ich zu ihr hinübergehe?« fragte sie sich, indem sie sich mühevoll erhob, aber sie gab dieses Vorhaben sogleich wieder auf.

Leona wollte sicherlich jetzt allein sein, und sie selbst hatte das gleiche Bedürfnis.

Sie verwahrte den Brief in ihrem Nähtischchen, dessen Schlüssel sie mit sich nahm, und zog sich dann in ihre stille und kühle Schlafstube zurück.

Diese lag gegen den Hof hin, und um zu ihr zu gelangen, mußte die alte Dame an dem Zimmer vorübergehen, welches sie ihrer Verwandten angewiesen hatte.

Einen Augenblick lang blieb sie lauschend an dessen Tür stehen. Es regte sich nichts dahinter.

Frau v. Lauren ging weiter.

Als sie in ihr Schlafzimmer trat, kam ihr das Stubenmädchen entgegen. »Gnädige Frau, ich habe die Fenster schließen müssen. Es kommt so viel Staub herein.«

Frau v. Lauren nickte nur zerstreut. Sie war von den letzterhaltenen Eindrücken so erfüllt, daß sie auf das heranziehende Unwetter und den beginnenden Sturm gar nicht geachtet hatte.

Merkwürdig müde geworden, legte sie sich sofort auf den Diwan und schloß die Augen. Noch immer tanzten Lichtpunkte und Feuerlinien vor ihr hin und her.

Das Stubenmädchen kam noch einmal herein. »Entschuldigen, gnädige Frau, ich –«

»Nun?« tönte es müde von dort her.

»Sind gnädige Frau unwohl? Kann ich irgend etwas tun?«

»Kopfweh habe ich, und Sie können mir ein paar Umschläge machen. Aber Sie wollten ja etwas sagen.«

»Ich wollte nur sagen, daß Frau v. Lassot fortgegangen ist.«

»Fortgegangen?« wiederholte die alte Dame ganz matt. »Haben Sie gut nachgeschaut?«

»Ich habe in allen Räumen die Fenster geschlossen. Ich hätte Frau v. Lassot sehen müssen.«

Frau v. Lauren hatte sich mühsam erhoben. »Gehen Sie rasch, Tini,« rief sie ängstlich. »Vielleicht sehen Sie meine Nichte noch auf der Straße. Weit kann sie ja noch nicht sein.«

Tini begriff sofort, was ihre Herrin fürchtete. Sie lief schon hinaus.

Als sie an der Küche vorbeikam, rief sie der darin herumhantierenden Köchin zu, sie solle zur gnädigen Frau hineingehen, dann eilte sie aus der Wohnung.

Auf der Treppe begegnete sie der Hausmeisterin. Aber diese konnte ihr keine Auskunft geben. Unten zog der Besitzer des Delikatessengeschäftes, welches die eine Parterreseite einnahm, soeben den letzten Fensterladen zu. Auch er hatte niemand aus dem Hause kommen sehen.

Tini und er schauten nach allen Richtungen aus, aber die Gesuchte entdeckten sie nirgends. Hüte sahen sie fliegen und Menschen gegen den Sturm ankämpfen. Ein Kutscher rannte der Pferdedecke nach, die wie ein Papierblatt vom Sturme davongeweht wurde. Und das alles wurde von Staubwolken überdeckt und verschlungen. Kaum atmen konnte man vor Schwüle und vor Staub.

Ein paar Häuser nach rechts und ein paar nach links lief das Mädchen noch ab und kehrte dann in die Wohnung zurück.

Noch einmal ging sie oben durch alle Räume, sie ließ keinen Winkel im ganzen, ziemlich weitläufigen Quartier ununtersucht, denn wenn das, was die alte Dame sowohl als auch sie und die Köchin schon immer gefürchtet, nun wirklich geschehen war, dann konnte es ganz gut auch in der Wohnung geschehen sein.

Aber sie fand Frau v. Lassot nicht.

Immerhin erleichtert berichtete sie es ihrer Herrin.

Auch diese atmete ein wenig freier auf, aber trotzdem machte sie sich schwere Vorwürfe darüber, daß sie Leona sich selber überlassen hatte, daß sie ihr nicht gefolgt war, wiewohl sie es gesehen, daß die Unglückliche so furchtbar erregt und so gänzlich verwirrt gewesen war, daß sie nicht einmal sogleich zur Tür hinausgefunden hatte.

Die gute, arme, alte Dame wurde von den beiden Mädchen zu Bett gebracht. Hier verfiel sie in einen Weinkrampf, und die Köchin lief zum Hausarzt.

Es dünkte der braven Tini eine Ewigkeit, bis der Sanitätsrat Martz erschien.

Er verbarg kaum seine Besorgnis, verschrieb ein beruhigendes Mittel und blieb so lange, bis Tini es aus der Apotheke gebracht hatte.

Als er ging, war es neun Uhr.

Schon kurz nach zehn Uhr öffnete ihm die verstörte Köchin wieder die Wohnungstür.

»Was für ein Gesicht machen Sie denn?« fragte Martz. »Steht's nicht gut?«

»Wir haben noch einen anderen Arzt holen müssen,« antwortete das zitternde Mädchen. »Ich war wieder in Ihrer Wohnung, aber –«

»Ich war nicht zu Hause. Natürlich – ich hab's ja hinterlassen, daß ich in der Josephstadt sein mußte.«

Im Salon kam ihm die Hausmeisterin mit einem Eiskübel nach. Drinnen fand er Tini und einen Kollegen. Der flüsterte ihm ein lateinisches Wort zu.

Martz seufzte. »Zum zweiten Male,« sagte er.

»Eines dritten Anfalles wird es nicht bedürfen. Das ist meine, allerdings unmaßgebliche Meinung; ich kenne die Natur und die Widerstandsfähigkeit der Kranken ja nicht.«

»Aber ich, Herr Kollege, kenne sie, und ich fürchte mit Ihnen, daß meine arme Freundin diesmal unterliegen wird.«

Doktor Martz sagte dies, die kalte Hand der Kranken zwischen seinen Fingern haltend, die kaum mehr einen Puls fühlten.

Was erfahrene Arzte in solchem Falle tun konnten, geschah. Es konnte aber nicht mehr helfen.

Die alte Dame kam nicht mehr zum Bewußtsein. Ein neuer Schlaganfall machte ihrem ohnehin nur noch flackernden Leben ein Ende.

Noch war die Morgendämmerung nicht völlig gewichen, als Doktor Martz und sein Kollege feststellen mußten, daß der Tod eingetreten sei.

Martz ließ sofort den Rechtsbeistand der Verstorbenen von deren Ableben verständigen. Er wußte, dieser würde in Anbetracht des Umstandes, daß die Verstorbene bloß von Fremden umgeben war, sogleich kommen. Und es geschah auch so. Als um fünf Uhr Morgens das Haustor vom Hausmeister geöffnet wurde, hielt ein Fiaker davor, aus welchem Tini und der Notar, den sie aus der inneren Stadt hatte herbeiholen müssen, stiegen. Die beiden Herren begrüßten sich noch, dann ging Martz nach Hause.

Sein letztes Wort war: »Eine edle, liebenswürdige Frau lebt weniger!«

»Und ein großes Vermögen ist frei geworden. Leider ein wenig zu spät, wird die Erbin finden,« entgegnete der Notar.


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