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Sechsundvierzigstes Kapitel.

Droben in dem wohl durchwärmten und poetisch geschmückten ländlichen Gastzimmer, in dem Gertrud den bräutlichen Schmuck mit dem Reisekleid vertauscht hat, steht Grete Mannes und wischt sich die letzten Rührungs- und Abschiedstränen aus den Augen. Zärtlich streifen ihre Finger dabei über den kostbaren, malerischen Stoff, dessen schwach perlgrauer Grund ein weißes Lilienmuster in Silber aufweist.

Eines Tages war Madame Camilla Hubmair, neé Sonca, im Eklimpascherl, wie sich der Gatte rettungslos stets auszudrücken pflegt, – auf Gummirädern herangerollt gekommen und hatte, angetan mit einer äußerst eleganten Toilette, um den Mund ein Lächeln der Genugtuung, zum fünften Stock hinaufgeschielt und dann bei Frau Gertrud Halliger geläutet. Frau Hubmair war, trotzdem sie nun eine so reiche Frau ist, weder protzig noch hochmütig geworden. In tiefer Dankbarkeit genießt sie die geradezu fanatische Liebe ihres Jeans, – zu dem ordinären Johann kann sie sich absolut nicht entschließen – und verschönt, mit wahrem Grauen der Vergangenheit gedenkend, diesem das Leben in jeder erdenklichen Weise. Wenn sie auch nach ihrem Geschmack und ihrer Angabe gefertigte Gewänder trägt, darf sie selbst natürlich keine Nadel mehr anrühren. So bald aber Frau Hubmair gehört, daß ihre ehemalige Hausgenossin sich vermählen werde, gab es bei ihr kein Halten mehr, und der gute Jean ließ auch sein geliebtes Camillerl gerührt bei ihren Plänen gewähren. So flehte die frühere Schneiderin die von ihr ungemein verehrte, stets mit ihr so gütige Frau förmlich an, ihr das Brautgewand fertigen zu dürfen. Auch als die Gattin eines schwerreichen Münchener Hausherrn hatte Madame Sonca bis jetzt noch nichts verlernt.

Sie hatte dann auch in ihrem Schwanengesang wirklich Vollendetes geleistet. – –

Das Hanserl tänzelt fröhlich nach den Klängen der herüberschallenden Musik in Walzerschritten, mit zierlich seitlich aufgenommenem weißem Kleid ins Zimmer; dann aber wirft es sich so stürmisch Tante Greten an den Hals, daß der Rosenkranz fast aus dem gelben Gelock fällt und das junge, kräftige Mädchen beinahe ins Wanken gerät.

»Is 's wahr, is wahr, Tante Gretl, – mir – mir wohnen später in dem schönen Haus in der Briennerstraß draußen, und wenn der Herr Baron und die Frau Prof– Frau Baronin nach München kommen, Hausen die auch drinnen? Und du, du wirst dann ganz und gar mein Mutterl? Sag, sag, ist's wahr, der Onkel Toni hat mir's gesagt!«

»Ja, Hanserl, dann wird es schon so sein, denn der lügt niemals!«

»Juchhe, juchhe!«

Jauchzend und jubelnd springt das Kind umher; wieder umarmt es dann Grete, wenn auch etwas sanfter, und flüstert ihr dazu mit großer Wichtigkeit ins Ohr:

»Weißt, ich will aber auch immer recht brav sein, mir immer meine dreckigen Hand' waschen, die Zähn' von selber sauber putzen, mein Schulfach' schön arbeiten und – und – gar nimmer Äpfel stibitzen!«

»Na, aber das wäre doch! Hast du am Ende schon, –«

Die Kleine nickt tief errötend.

»Schon! Dreimal schon, weißt! Aber wirklich nur die ein bissel arg harten und wüschten, wo du gar net magst!«

Das junge Mädchen wird durch Ludwig Degenhardt, der seinen kecken, noch so jugendlichen Krauskopf zur Tür hereinsteckt, einem Probestück feinster Pädagogik überhoben.

»Da schauts! Da ham sich gar zwei auf ihre Güter z'rückzogen. Geh g'schwind in den Saal nunter, Hanserl, sie wollen alle, daß d'ihnen wieder was vortanzen tust!«

»Ui Jegerl! Aber glei, – glei!«

Husch, ist das flinke Ding draußen. Grete Mannes will auch gehen.

»Ah net, geh weiter, bleib da! Übrigens, Gretl, find ich, daß du beim Schmollieren vorhin dem Carlo ein viel längeres Busserl geben hast wie mir. Das muß jetzt fein nachg'holt werden!«

Sie lacht und wischt die allerletzten Tropfen von den blühenden Wangen.

»Ja, unten, – aber nicht hier, Ludl!«

»Wär mir halt da heroben schon wirklich viel lieber! Aber wennst absolut net willst, – – du, apropos Gretl, das mit dem Hanserl wär ja schön und gut; aber hast dir's auch recht überlegt? Wenn man dich und das bildschöne Mäderl so anschaut, – alle zwei seid's so goldblond, so rosig, weiß und frisch, grad wie wirklich blutsverwandt, – schau, nachher, – – wenn so was schon unsereins auffallt, wo mir doch genau wissen, wer dem Hanserl sein Mutter war, – wie sollen nachher net gleich die Leut, – Schandmäuler hams ja oft!«

Sie lacht zuerst verlegen, gleich darauf aber schaut sie ihm unbefangen ins besorgte Gesicht und wird tief-ernst. Fest, mit einem geraden, leuchtenden und ehrlichen Blick sagt sie laut, fast feierlich:

»Das Kind ist nun mein! Gertrud hat es mir selber ans Herz gelegt, nach meinem heißen Wunsch. In mir schreit die Mutter nach ihrem Teil, – ich will nicht einsam arbeiten, leben und sterben und sehne mich danach, Liebes warm an meine Brust betten zu können. Was gilt mir die Welt? Was darf sie uns gelten vor unserem Gewissen, vor unserer eigenen Überzeugung, Rechtes zu tun, und vor unserem Selbst? Mögen die Leute doch reden, ich Werde es stets verachten!«

Leidenschaftlich drückt Grete die Hand aufs Herz:

»Hier klopft und verlangt es. Nun wird Ruhe. Ich habe nun, was ich ersehnte.«

»Pah! S' is eben doch nur ein Surrogat!« wirst Ludwig Degenhardt, absichtlich weit geringschätziger als er es eigentlich meint, hin.

»Unterschätze es nicht! Ein Surrogat kann unter Umständen Rettung aus höchster Not bedeuten. Selbst wenn ich doch noch eines Tages heiratete – kein Mensch kennt schließlich sein Schicksal im voraus, wenn ich auch freilich dergleichen nicht glaube – Hanserl bliebe auch dann bei mir!«

»Gretl, Gretl, heißt das am End' gar, geh, red, – schau. I bin ja eigentlich fast ein alter Kerl, aber wenn du halt doch noch möchtest, – vom Fleck weg heiratet ich dich! Der geistliche Herr von vorhin braucht gar nix als sich noch ein zweites Mal ins Kapellerl hineinzustellen!«

Sie nimmt sein Gesicht, das sich glühend anfühlt, zwischen ihre Hände, und die Tränen wollen ihr wieder kommen.

»Ludl, du Törichter, Lieber! Heiraten kann ich dich wirklich nicht! Sei gescheit! Ich mag dich ja so gern leiden, – aber lasse uns gute Kameraden sein und bleiben!«

Er fährt sich wie in heller Verzweiflung in das dichte, noch völlig braune, lockige Haar, dann zwischen Kragen und Hals, weil ihm die Luft auszugehen droht.

»Herr Gott! Und das soll einer aushalten! Du, du Tapfere, Schöne! Komm, was kommen mag, – i kann jetzt nimmer!«

Damit umfaßt er das Mädchen und preßt seine Lippen in brennenden, endlosen Küssen zuerst auf ihren weißen, fleckenlosen Hals, dann immer wieder auf ihren blühenden Mund. Anfangs versucht sich Grete zornig mit ganzer Kraft zu wehren. Nach und nach verringert sich aber ihr Widerstand. Zitternd muß sie Ludwig gewähren lassen. Eine fremde Macht, ein anderer Wille zwingt sie zu dem aufquellenden Bronnen des Lebens. –

Draußen lebt und malt der Herbst mit Sonne und Himmelsblau der Erde ein prächtiges Schlafgewand. Mit einem verträumten, weltverlorenen Lächeln, die Augen weit offen auf die Herrlichkeit der Natur gerichtet und gar nicht bemerkend, daß Ludwig Degenhardt eilig wie auf einer Flucht das Zimmer verlassen hat, holt Grete tief Atem und sieht dann verwundert um sich.

»Kameraden?!« – –

Sie schüttelt heftig den Kopf, macht einen Schritt gegen die spanische Wand, hinter welcher der Waschtisch verborgen steht, taucht ihr mit Purpur übergossenes Antlitz ins eisige Wasser und geht dann, die seegrüne Seidentoilette zusammenraffend, die vollen, samtglatten Schultern zurückgezogen, kerzengerade aufgerichtet, hinunter in den Tanzsaal. Dort wird sie sofort von To umfaßt, der schon ein sehr flotter Tänzer ist, aber, wenn auch mit innerem Grimm, doch des Hanserls Meisterschaft anerkennen muß. Er ist in ausgezeichneter Stimmung und betrachtet die Hochzeitsfeier der Mutter als ein Fest ganz besonders geheimnisvoller und herrlicher Art. Außerdem darf er so viel essen und trinken als er will, ist aber bereits so weise, etwas Maß darin zu halten. »Furchtbar ulkig« und »scheußlich nett«, war es auch gewesen, daß bei der Gruppierung der Hochzeitsgäste – die ja außerhalb des Kapellchens stattfinden mußte, weil innen nur soeben das Brautpaar und die Zeugen nebst dem Priester Platz fanden – ein winziges Bauernmädchen geäußert hatte: »Ah! da is a a Leutnant!« To hatte sich noch mehr gestreckt und unter einer feierlichen, steinernen Miene voll unerschütterlichen Ernstes und strenger Erhabenheit das innere Vergnügen verborgen, das er dabei empfunden.

Papa Degenhardt, der beim festlichen Mahl eine glänzende Rede gehalten hatte, in welcher Ernst und Scherz aufs feinste gemischt gewesen, hatte sich auch noch als flotter Tänzer erwiesen. Er will indessen jetzt elegisch werden. Die drei Söhne aber entreißen ihn geschickt dieser Stimmung, und auf seine Klage, daß er fühle, wie alt er werde, lachen sie ihn einfach aus. Auch der Bauamtmann tut dabei mit. Dieser ist dem Vater in der letzten Zeit wieder näher getreten. Durch Zufall hatte er sehr verspätet erfahren, wie der Leichtsinnige jahre- und jahrelang den in ärmlichen Verhältnissen lebenden Leuten, die damals bei dem Isar-Bankkrach das Ihrige verloren, soviel abgegeben, als er irgend von seinem Verdienst entbehren konnte. Frau Thilde allein hatte darum gewußt und ihn darin bestärkt, mit der Versicherung, daß die herangewachsenen Kinder ja doch längst versorgt wären und es lange nicht im gleichen Maß nötig hätten.

Wofür hätte wohl Doktor Ernst Degenhardt sein Lebtag nicht nur den Ruf eines unübertrefflichen Festarrangeurs, sondern auch den eines Mannes genossen, der alles zu erreichen imstande ist, wenn er nicht hätte vollbringen können, was sein Traudl sich gewünscht? Er hatte also keineswegs die Achseln gezuckt, wie ihm Gertrud ihre Bitte vorgetragen, daß draußen, an der Isar, in einem kleinen Waldkapellchen die Trauung stattfinden möge. So schwer es ihr würde, dabei auf ihren alten Dom zu verzichten, so peinlich wäre ihr doch auch wieder das Gefühl gewesen, von einer großen Menschenmenge begafft zu werden. Papa Degenhardt überlegte in aller Eile, daß es in Wahrheit ein schwierig zu vollbringendes Werk bedeute, warf sich jedoch in die Brust und schleuderte sein: »Kriegen wir schon, – m. w., –!« so siegesgewiß heraus, daß sowohl Detlev wie Gertrud gleich überzeugt vom Gelingen des Planes waren. – – –

Schnackl hatte natürlich Großes bei dem Diner geleistet, das im ländlichen Wirtshaus, mit Hilfe eines Kochs, ganz brillant verlaufen war. Sie fühlt sich heute aufs tiefste bewegt. Im Grund aber ist dem alten Paar das Herz eigentlich recht erleichtert worden durch diesen Festtag. Die Traudl wieder einen Mann, wird mit diesem großenteils in München leben, noch dazu in einer Prachtwohnung, – kurz, das alles ist doch wirklich nett, sehr, sehr nett! Zärtlich pressen sie sich die Hände und sind äußerst zufrieden.

»A feiner, wirklich a feiner Kerl, der Detlev,« meint Papa Degenhardt.

»Er wird unsere Jüngste glücklich, endlich glücklich machen,« äußert Frau Thilde freudig.

Daß bei der Hochzeitsfeierlichkeit die Exzellenzen fehlen, die auf einer Reise nach Spanien begriffen sind und aus Barcelona ein langes Glückwunsch-Telegramm geschickt hatten, empfindet jeder einzelne als große Wohltat. – –

Draußen, zwischen den noch teilweise grünen Büschen, den tief smaragdfarbenen Tannen und buntscheckigen Buchen gehen später zwei auf und ab. Sie bemerken in ihrem Vertieftsein gar nicht, wie sich hinter einem Boskett die blutjunge, hübsche Kellnerin des unverbesserlichen Uz erwehren muß. Strahlend sprechen Mesting und Ottilie Burkstaller von dem enormen Erfolg, den Horsts Roman ›Unter den Rädern‹ schon jetzt gehabt, so daß dem ehemaligen Pastor der kaum vollzogene Sprung ins Unbekannte gar nicht mehr gewagt erscheint. Er erzählt, daß er bereits daran sei, ein neues Werk zu verfassen, und daß er fühle, wie recht er gehandelt. Während er spricht, begegnen seine Finger denen des Mädchens, die er fest umschließt. Inmitten einer großen, grün und braun fleckigen Wiese bleiben sie stehen. Mit den Augen eines Entdeckers betrachtet der Mann seine Gefährtin, die vom hellsten Lichte eines klaren Herbstnachmittags übergossen vor ihm steht, vom Kopf bis zu den Füßen. Durch deren prächtigen Körper geht ein Beben. In dieser langen Zeit schwankenden Hoffens und Harrens ist Ottilie blasser und auch magerer geworden, hat aber einen neuen, fremdartigen, mädchenhaften Reiz dazu erworben.

Horst unterdrückt das aufsteigende Verlangen, das ihn von jeher in der Künstlerin Nähe ergriffen, das er für ein Unheilbringendes, Unreines gehalten und während all dieser Monate stets zu bekämpfen versucht hatte, um endlich das Echte davon abzuscheiden. Längst liegt Ottilie Burkstallers Vergangenheit offen und klar vor ihm gebreitet. Hatte es ihm auch anfangs unmöglich gedünkt, je darüber hinwegkommen zu können, so gewiß ist er jetzt seiner selbst, daß er sich überwunden habe und damit auf dem rechten Weg sei. In weiter Ferne ist längst seine verkannte Liebe zu Gertrud verblaßt, und wie verkettet fühlt er sich mit dem Mädchen. Sie war ihm Trovata geworden im vollsten Sinn des Wortes! –

Unbeobachtet war Lise nach oben gegangen in jene Stube, worin die Mutter sich umgekleidet hatte. Vom abgelegten Brautkleid tritt das Mädchen zu den herumliegenden Gegenständen, die der nun Geschiedenen gedient, streichelt sie mit den Fingerspitzen oder drückt ihre Wangen zärtlich darauf. Schmerzbewegt blickt sie auf den Kopfschmuck aus Spitze und Orangenblüten herab; nimmt ihn zögernd in die Hand und endlich setzt sie sich ihn auf das blonde Haar. Schwer fühlt sie die bräutliche Zierde über der Stirne. Stimmen von unten, – Knirschen des groben Kieses vor dem Haus! Sie wirft einen Blick durch das offene Fenster. Das rote Kleid, der sonst so stolze, jetzt demütig gebeugte Nacken Ottilie Burkstallers, von dem das wärmende Tuch geglitten, leuchten zu ihr herauf. Daneben die schlanke Gestalt Mestings, die den eleganten Frack trägt wie ein lang gewohntes Gewand. In dem ländlichen Raum oben ein kurzer Wehlaut aus blassem Mund, – der Mutter Brautputz sinkt zu Boden. Eine Reihe weißer, zierlicher Zähne beißt sich fest in die Unterlippe ein. Dann aber fallen dem jungen Mädchen Gertruds zärtliche Abschiedsworte ein: ›Lebe wohl, mein Kind! Ich habe dich sehr, sehr lieb!‹ Wie in einen warmen Mantel gehüllt nach quälenden Frostschauern hatte sich Lise da gefühlt. Nun aber sinkt sie in die Kniee und weint bitterlich. –

Die Toaste galten wenn nicht dem Brautpaar größtenteils der Baugrete und deren schönem Sieg. Der Amtmann ignorierte den eben gegebenen Beweis ganz enormen Vorwärtsschreitens der Frau auf bisher ausschließlich männlichem Gebiet natürlich völlig.

»Das sind so Sachen, – verrückte, unnötige. Mein Gott, so Weiber!«

Mit seiner Schwester aber hatte Otto viel und oft zärtlich zu flüstern gehabt, und mehrmals zuckte es bedenklich weich und schmerzvoll um seinen scharf geschnittenen Mund. Wenn Dombrowskys auch das gemütliche Absteigequartier haben würden, das von Grete Mannes mit dem Hanserl, – auch wieder so was Überspanntes, – behütet und bewacht werden sollte, so blieben sie ja doch den größten Teil des Jahres über in Seedland oder würden auf Reisen sein, und außerdem, – das ahnte Otto, – beanspruchte der neue Schwager sein Traudl jedenfalls sehr ausschließlich für sich.

Wortkarg sinnierte der Bauamtmann, als die Schwester sich zum Umkleiden zurückgezogen, vor sich hin. Carlo und Ludwig stießen sich lächelnd an und schüttelten dem Älteren recht plötzlich kräftig die Hände. Etwas erstaunt aufsehend erwiderte dieser bewegt mit festem Druck, dann grub er die Fäuste in die Hosentaschen und rannte, wie er war, ohne Mantel und Hut ins Feld hinaus. Wie besessen lief er auf den Stoppelfeldern herum, um spät erst mit schmutzbedeckten Beinkleidern, große Erdklumpen an den Stiefelabsätzen in den Saal schleppend, wieder zur Festversammlung zurückzukommen.

Onkel Toni begleitete das Ehepaar ein Stück Wegs in deren Wagen.

An breiten, stumpffarbigen Stoppelfeldern fahren sie vorbei, dann kommt noch grüner Eichenbestand; graubläuliche Heckengelände tauchen rasch auf und verschwinden eben so schnell wieder. Es ist, als suchten die feuchten Blicke der Frau in dem hochgeschichteten, welken Laub, das rostfarben weithin den Waldboden bedeckt, eine windverwehte Spur. Träumerisch wandern sie dann nach der Himmelsgegend, in der die Stadt sich breitet mit dem Dom, und zu Detlev steigt ein leiser Seufzer empor, den auch der alte Mann vernimmt.

»Aha, Trauderl,« meint er, mit Humor ablenkend, denn er schaut bis auf den Grund dieser ihm so lang vertrauten Seele. »Jetzt suchst dein uralten Freund! Aber sei nur ruhig, wenn'st vielleicht Angst drum haben solltest! Der dort drüben wird dir wirkst net gnommen! Dein Dom steht noch, bis du wieder – und i hoff in kurzer Frist – für eine Zeit dein Quartier bei uns, – dein neues, schönes, – aufsuchst!«

Dann läßt der Professor den Wagen halten. Das Paar löst die verschlungenen Arme nicht, als es dem greisen Getreuen die Lippen zum Abschied bietet.

Wie unter einer Decke, tief verborgen, absichtlich unterdrückt und doch so lebendig, ist ein Weh in Gertrud; und dennoch ihm zur Seite eine namenlose Seligkeit, ein heißes Hoffen auf endliche, herrliche Erfüllung, daß sie aufjubeln will wie zur eigenen Befreiung. Aber sie kann keinen lauten Ausdruck finden für die sie bedrängenden, überreichen Empfindungen. Ihr goldbrauner Kopf, von dem sie den weichen Reisehut genommen, lehnt an Detlevs Schulter, während ihre Blicke die prangende, reiche Natur trinken und sich fest saugen zu wollen scheinen an all dem fast schon wieder scheidenden Flimmer.

Detlev sieht schweigend herab auf sein Weib, dessen Haupt sich langsam jener Richtung zuwendet, in der etwa Lise und To zu vermuten sind. Ein rotgelbes, hereingeflattertes Ahornblatt liegt aufgerichtet, einer Flamme gleichend, über Gertruds weißer Stirne.

In dem Gezweig glänzen zwischen buntem Laub die weißen Altweibersommernetze, und zahllose, blanke Silberperlen zittern darauf wie Tränen. Ein munterer, kecker Wind läßt die braunen Kolben zwischen grüngelbem, hohem Schilf sich vor dem rollenden Gefährt neigen und sich in der langgestreckten Fläche des Tümpels widerspiegeln. In der Ferne, in die noch herrschende Tageshelle hinein, glimmt ein kleines Licht seltsam auf, um gleich darauf wieder durch eine leichte Nebelschicht verdeckt zu werden. –

Eine ganze Weile steht Anton Buchlehner dann noch und sieht zurück in den weißlichen Dunst, der das Gefährt verschlungen hat. Vor seinen Füßen ziehen sich die frischen Wagenspuren hin und aufhorchend vernimmt er noch fernen Peitschenknall.

Den Überzieher fest über den Frack schließend, greift der Professor tüchtig aus, um nun zu der munteren Hochzeitsgesellschaft wieder zurückzukehren. Er fühlt sich so unendlich froh und erleichtert, sein Traudl endlich geborgen zu wissen. Hatte er auch in ihren Augen noch vorhin das Durchlittene nachzittern sehen, so hatte er doch auch zugleich das Aufdämmern eines neuen Morgenrotes darin gewahrt. Sachte, ganz sachte nur, fängt es da in einem Baum neu an zu treiben, in dessen Krone frisch zu keimen und auszuschlagen. Geduld, Geduld und Sonne, viel, viel Sonne! Anton Buchlehner stützt sich dann auf das hölzerne Geländer eines prächtigen Aussichtsplatzes. Ein mattgelbes Licht, das wie in einem einzigen, breiten Streifen vom Firmament zu fließen scheint, liegt auf der Landschaft. Unten rauscht die Isar vorbei. Das steinige Ufer drüben gibt eben einen klagenden Echoruf wieder, und die scheidende Sonne malt leuchtende Reflexe auf eine besonders hervorragende Partie grotesk geformten Gesteins. In seinen charakteristischen Launen, bald sich durch hochaufgetürmte Blöcke zwängend, bald ganze Baumriesen, die sich ihm hemmend entgegenstellen wollen, fortreißend, als wären sie winziges Kinderspielzeug, so braust und rauscht toll der fröhliche Strom dahin, um gleich darauf, ganz sanft geworden, seinen Weg artig fortzusetzen. Aber fortwährend verändert er seine Zweiglinien; heute wirst er enorme Kieselbänke auf, morgen schwemmt er sie wieder hinweg, um vielleicht die Tändelei gleich aufs neue wieder zu beginnen und durch einen selbsterrichteten Wall seinen Lauf an einer ganz anderen Seite zu nehmen. –

Der alte Mann lauscht traumverloren dem fernen Rauschen des Flusses, und Klingen und Jauchzen hört er daraus.

Dort ist die Münchener Stadt gebreitet, und wie feiner flimmernder Goldstaub liegt es darüber. Ein Duft der Kraft, des Lebens, des Wachsens und Gedeihens löst sich daraus.

Ob nicht der viele, schwere Wein doch seine besondere Wirkung zurückgelassen? Der Greis hat eine Vision! Vor seinen Augen wogt ein Dunstmeer, vielleicht gebildet aus den aufsteigenden herbstlichen Abendnebeln. Das teilt sich langsam. Groß und mächtig erhebt sich ein Gewirre von Gebäuden mit ihren Giebeln, Firsten und Kaminen; aus ihrer Mitte steigt der Dom unserer lieben Frau mit seinen kupfernen Kugelhauben empor, massig und fest, wie unzerstörbar. Aus dem östlichen Turm, da, wo die Salveglocke mit ihrer rätselvoll schließenden Inschrift im Stuhl schwankt, löst sich jetzt eine weibliche Gestalt. Sie trägt die Gewänder der Himmelsmutter und die Dornenkrone auf dem bleichen Haupt. Das lächelnde Antlitz der heiligen Frau gleicht dem Gertruds, und ein Strahl göttlicher Güte und Macht bricht aus ihren leuchtenden Augen. In der einen Hand hält sie das rosenumkränzte Szepter, in der anderen aber Pinsel und Palette. Segnend schwebt sie über Münchens Dächern.

 

Ende


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