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Neunundzwanzigstes Kapitel.

Major Templer, der es besonders gut hält mit Herrn Hubmair, hatte bei allen Mietern des Hauses zu einem prächtigen Kranz für die eben verschiedene, schon so lange leidend gewesene Hausfrau gesammelt. Keines hatte sie zwar gekannt oder auch nur jemals gesehen; aber via Frau Sonca war durch Fräulein Burkstaller dem Major wieder zu Ohren gekommen, wie sehr die Verstorbene alle diejenigen beneidet hatte, die unter großem Pomp und Aufwand zu Grabe getragen wurden.

»Gelt, Johann, dös versprichst mir: erschte Klaß, mit die Posaunen, eine schöne, lange Red, viele Kränz und halt ein recht ein reiches Leichenbegängnis. I meinet, i tät's noch spüren, wann zum Beispiel a rechte Masse Leit in mei'm Gottesdienst wären. Gelt, du laßt's g'hörig umeinand' kommen, wann mi der liebe Herrgott zu sich g'nommen hat!«

Der weiche, gutherzige Hubmair, der seit der Freundschaft mit der Sonca doch kein recht reines Gewissen mehr hatte, versprach unter Tränen alles zu erfüllen, was nur immer seine schwerkranke Frau wollte. Und er ließ es denn auch g'hörig umeinander kommen!

Die Beerdigung war wundervoll verlaufen, und heute beteiligten sich an dem Gottesdienst auch wirklich eine Menge Menschen. Von den Bewohnerinnen des Hubmair'schen Hauses fehlte nicht eine. Mit besonderer Genugtuung gewahrte der Hausherr darunter die in eine elegante Trauertoilette gehüllte Sonca von einer Anzahl ihrer Nähmädchen umgeben.

Gertrud Halliger wohnt dem Gottesdienst nicht nur Herrn Hubmair zu Gefallen bei. Sie sucht Mittel und Wege, möglichst die Zeit zu kürzen bis, – bis zur Stunde, da sie – Detlev von Dombrowsky erwarten soll. Jetzt ist's erst einhalb neun Uhr morgens, und für die Mittagsstunde hat er sich angekündigt. Seit fünf Uhr ist sie wach. Ganz, ganz früh war sie aufgestanden. Die grauen Herbstnebel, unter denen die noch immer wilde Isar rauschte und tobte, lagen undurchdringlich wie eine kompakte Masse vor dem Haus. Eine nasse Kälte drang durch die stets offenen Fenster ihres Schlafzimmers. Unruhig, wie gehetzt und getrieben lief Gertrud von Zimmer zu Zimmer. Die ganze Nacht hatte sie schlecht geschlafen, war nervös und erregt gewesen, und wenn der Schlummer doch gekommen, hatte er ihr nur wüste Träume gebracht.

Während die übrige Gesellschaft gestern noch länger auf der Oktober-Wiese geblieben, war sie, ihre große Müdigkeit und Abgespanntheit bekennend, mit Buchlehner bald nach Haus gefahren. Noch ist ihr nicht klar, wie sie mit ihm und Bruder Ludwig, der sie ein Stück über die Wiese begleitete, aus dem Getrubel und zur nächsten Droschke gekommen ist. Zu Haus angelangt, fand Gertrud ein Billet vor, das ein Dienstmann, wie Kathi sagte, noch spät gebracht hatte. Die bebenden Finger konnten es nicht öffnen. Umsonst suchte sich die junge Frau vor Onkel Toni zu beherrschen, der geäußert hatte, nicht eher gehen zu wollen, als bis sie sich zu Bett gelegt habe. Stillschweigend zog er dann das Taschenmesser heraus und schnitt das Briefkuvert sorgfältig auf. Stumm, als hätte er Detlevs Schrift gar nicht erkannt, reichte er es Gertrud, die sich erschöpft auf den nächsten Stuhl gesetzt hatte. Es flimmerte ihr so vor den Augen, daß sie lange brauchte, um die mit fester Hand und deutlich geschriebenen wenigen Zeilen zu entziffern.

»Morgen, – so kommt er morgen, – zur Mittagsstunde,« flüsterte Gertrud und faltete den Bogen wieder zusammen. Aber trostlos schaute sie zu Buchlehner empor; hilflos zugleich und wie Schutz suchend.

»Trauderl, – was ist mit dir? Ich gab so Angst und weiß eigentlich nicht warum und worauf! Angst um dich!«

Der alte Mann rückte sich einen Stuhl neben sie, nahm den Hut von ihrem Kopf und umfaßte dann ihre kalten Hände.

»Schau! Jetzt möcht ich ja am liebsten, daß du einfach in dein Betterl gehen, dich ruhig hinlegen und kein Wörterl reden tätst. Ich wollt gar nichts wissen, dich gar nix fragen, nur ganz still bei dir sitzen. Weißt, so wie früher, wie du noch ein kleines Mäderl warst und die dummen Masern so arg kriegt hast. Oder damals, wie du vom großen Nußbaum g'fallen warst, in den du immer wie ein Eichkatzerl g'stiegen bist. Das war schlimm! Eine furchtbare Angst hab ich g'habt um dich, weil du immer gebrochen hast und so lang nimmer zum klaren Bewußtsein kommen bist. Aber weißt, jetzt hab i fast noch mehr Angst um dich wie damals. Früher hast halt mehr Vertrauen g'habt zu mir; da hat der Onkel Toni immer alles erzählt kriegt. Trauderl! Ja, hast mich denn gar nimmer lieb?«

Ein Schütteln faßte ihren Leib. Leise aufwimmernd schlug sie die Hände vors blasse Gesicht, sank ganz im Stuhl zusammen und neigte sich dicht zu Buchlehner hin. Wild umschlang sie den väterlichen Freund.

»Ja, hilf mir, – hilf mir!«

»I weiß ja nix, – nix, – wie kann i da helfen? Aber i mein, heut wärst du zu aufgeregt, um noch viel zu sprechen.«

Gertrud sprang auf und stellte sich vors Fenster. Über die Schulter gewendet sagte sie dann leise:

»Nein, Onkel Toni! Ich gehe zugrunde, wenn ich noch eine Nacht, gerade heut, das Schwere allein tragen muß. Schon immer wollte ich dir alles, alles sagen, schon immer. Stets aber glaubte ich wieder, es sei besser, den Konflikt mit mir allein auszumachen, und,« – ihre Stimme wurde leise, so daß die letzten Worte nur einem Hauch glichen – »ich dachte, weil ich nie mehr eine Zeile von ihm empfing – es wäre ohnehin zu Ende, was ja immer nur ein Traum war!« – –

Als Buchlehner sich um Mitternacht endlich zum Gehen anschickte, war sein feines Gesicht so bleich wie das der jungen Frau. Für alles, was Gertrud ihm je ihr Leben lang an Zweifeln und Nöten anvertraut, hatte er noch stets Klarheit oder Mittel und Wege zu schaffen gewußt. Heute aber hatte er nichts zu ihr sagen können als:

»Das is net möglich! Das kann net sein! Kann einfach net sein! Wie du dir's auslegst, so hat's der sterbende Mann net gemeint. Immer hat er grad den Detlev so lieb g'habt, und der Roland war ein viel zu edel denkender, einsichtsvoller und weitsehender Mann, als daß er übers Grab naus dir in dein Leben pfuscht hätt, das du ihm und den Kindern so ganz geben hast. I' glaub's net, ganz einfach!«

Niemals war je vorher ein Wort des Erlebten über Gertruds Lippen getreten. Nun aber hatte sie dem alten, treuen Freund jede Einzelheit mit hingebender Wahrhaftigkeit erzählt, von der Stunde an, da sie Detlev von Dombrowsky auf dem Blankdorffener Bahnhof zuerst erblickt. Jede Phase der äußeren und inneren Erlebnisse. Sie meinte, nur Onkel Toni ganz allein könnte sie völlig begreifen und ihr nachspüren bis in die fernsten Ecken ihres Herzens und ihrer Seele.

›Unsere liebe Frau‹ dachte Buchlehner erschüttert und blickte unwillkürlich auf die Fülle des goldbraunen Gelocks auf den weißen Kissen, in die er sein Trauderl gebettet; ein lockiger Kranz wölbte sich über deren Haupt. Mit Dornen gekrönt! Eine heimliche, eine stille Krone, nicht glitzernd und gleißend die Blicke aller auf sich ziehend, sondern nur von denen gesehen, die in das eigene und des Nächsten Innere blicken können.

Was für eine andere Frau vielleicht nur eine Episode geblieben wäre, die ihr Innerstes keineswegs verändert, keine tiefen, dauernden Spuren darin zurückgelassen hätte, war an sich schon zu einem schwerwiegenden Wendepunkt in Gertrud Halligers Leben geworden. Jene Stunde, da die heiße Welle neuer Empfindungen sie überflutet, ihr eine Erkenntnis gebracht hatte, gegen die es kein Verschließen gab, eröffnete eine Quelle des traurigsten Glückes, der süßesten Leiden und der erhabensten Schmerzen für sie. Keinen Tag hatte es mehr für sie gegeben, da sie nicht daran gedacht, darunter gelitten hatte. Buchlehner fühlte ihr wirklich nach, bis ins kleinste. Ihm war völlig klar, daß die Sterbestunde Rolands dem jungen Weib den Mut zum Glück genommen haben mußte. Wenn sie erwartet hatte, durch ihre Mutterschaft Trost und Stütze zu finden, war sie auch enttäuscht worden. Ganz sachte hatten ihr Leben und Schicksal aus den Händen gewunden, was sie mit aller Kraft festzuhalten bestrebt war. Buchlehner dachte, wie doch die Natur so unbegreiflich arbeite und solche Gegensätze schaffe wie diese Mutter und diese Tochter! Und sind wir es denn, die wollen und die handeln? Man meint zu schieben und man wird geschoben! Lahm und machtlos sind wir.

»Ich geh halt jetzt, Trauderl, so recht wie ein Schwächling, ein nutz- und zweckloser. Dein alter Onkel Toni weiß nichts für dich! Gar nix! I kann nur wiederholen, was i scho g'sagt hab: daß du irrst! Aber trotzdem ich mein, daß du diese Überzeugung haben und dir nehmen könntest, was du als dein Glück erkennst, denn du hast's verdient, trotzdem muß i zugeben, daß es für dich fast unmöglich ist, von dir zu werfen, was dich so zweifelnd quält, und daß du nie freudig ja sagen könntest, wenn der Detlev morgen mit einer Frag kommt und dich holen will, was er sich ebenso brav und ehrlich verdient hätte wie du auch. Auf alle Fälle aber mein ich, er sollt' halt net mit hineingezogen werden in die nutzlosen Quälereien, und du solltest ihm nix sagen von dem, was dich so elend gemacht hat und jetzt erst recht macht. Wenn du's vermeiden kannst, tust du's ja ohnehin schon net. So mein ich! Grad deshalb, weil ich mich so hineingelebt hab in das, was du mir mit deiner ganzen Ehrlichkeit so lebhaft geschildert. Und wie hast du's geschildert! Wer ist wie du, Trauderl, wer fühlt wie du, kann halt leider eigentlich immer nur recht, recht glücklich oder recht, recht unglücklich werden! Aber das sind grad immer die reichsten Menschen, so oder so. Wenn ich seh, wie du dich abzappelst und abmühst fürs Wohlergehen fremder Menschen, dann tut mir mein Herz weh, – für dich! Da suchst und suchst du weit weg, was du in deiner nächsten Näh' net findst und ohne das halt dein Leben kein Wert für dich hat!«

»Kein Mensch darf und soll doch nutzlos sein! Ich kann und weiß ja nichts, habe nie was Wirkliches gelernt! Was soll ich tun als anderen helfen, wenn ich zu sonst nichts gut bin? Meine Kinder – sind – so – so – draußen, – außerhalb, wo – ganz anders, – so weit!« Schluchzen erstickte ihre Worte.

»Ruhig, – ruhig, Trauderl! I mein, es wär nur für eine Zeit so! Die Liserl ändert sich noch; die Mäderln in dene Jahren sin gar oft so damisch und verdreht. Dein Bub aber ist doch nur räumlich von dir entfernt!«

Der Professor glaubte zwar an das letzte, obgleich er sich sagte, daß der Sohn ihr nun immer mehr entrückt werden müsse, – aber nicht ans erste. Er meinte jedoch, diesen Trost spenden zu müssen. Innerlich war er ganz überzeugt, daß Lises Charakter ein bereits so gut wie fertiger, fast unregulierbarer sei und die Tochter auf ewig von der Mutter fernhalten müsse. Es war ihm schrecklich, Gertrud in dieser Stimmung und Verfassung den tückischen Einflüsterungen einer langen, einsamen Nacht überlassen zu sollen. Am liebsten wäre er so vor dem Bett seines Patenkindes gesessen bis zum Morgen und hätte es, wie früher so oft, zur Ruhe und zum Einschlummern gebracht. – Was wird werden, – was geschehen, – wohin wird der reiche Strom dieses Lebens noch fließen, dessen Fluten so sehr durch Schicksale getrübt werden?

Langsam, als wolle eine Macht ihn immer wieder zurücktreiben, schritt der alte Mann dann durch die verödeten Gassen der Stadt. Selbst die Maximilianstraße lag wie ausgestorben im hellen elektrischen Licht und dem Schmuck der reichen Auslagefenster. Glänzenden und doch starren Augen gleich blickten sie; offen und farbig und dennoch tot. Raubt ihnen doch die stille Nacht alles Leben, das ihnen allein der laute Tag wieder schenkt. Wie plumpe Tiere kamen Buchlehner ein paar Straßenreinigungswagen entgegen, auf denen ihre Lenker zusammengeduckt schliefen. Über ihren Anblick ärgerte sich der nächtliche Wanderer. Er mochte jetzt nichts Häßliches sehen. Vor dem Portal der Vier Jahreszeiten hielt er an; kraftvoll mußte er sich überwinden nicht einzutreten und nach dem Baron zu fragen. Er meinte ihn sprechen, noch mit ihm zusammen sein zu müssen! Aber für was? Er war ja doch zum Schweigen verdammt und hätte sein Herz voll Nöte und Zweifel, die von seinem Liebling übergesprungen waren, nicht erleichtern können. Als er um die Ecke des Hotels bog und ihm die rote Laterne der American Bar entgegenleuchtete, ergriff ihn aufs neue das heftige Verlangen nach Detlev. Plötzlich hatte er die Empfindung, als müßte er dort unten in einer der gemütlichen Ecken Dombrowsky ganz sicher treffen können. Wenigstens auf die stark gewundene, kleine Treppe wollte er treten, um in das Lokal hinab zu spähen. Aber nein! Er überwand auch das. Langsam schleuderte er durch die weltverlorene, auch bei hellem Tag immer einsam gelegene Salpeterstraße zur Residenz und von da in den stillen Hofgarten, dessen Tempel ihm durch das Dunkel entgegenleuchtete. Mit leisem Geräusch ließen die Kastanien die letzten Reste ihres Blätterschmucks fallen. Es grämte den alten Mann so bitter, jetzt nicht für Gertrud handeln, ihr so gar nicht helfen zu können. Er war ein Mensch, der klar ins Leben schaute. Er wußte, daß man, um Überzeugung, Wahrheit und Gestalt von einer Sache zu gewinnen, sich nicht mit Vernünfteleien und Zweifelsucht befassen darf. Ruhig und kühl versuchte er stets die Dinge sauber abkristallisiert sich zur Anschauung zu bringen, sie verständig zu prüfen, sich das Richtige herauszupunktieren und dann das Resultat als eigenes Produkt mit Überzeugung festzuhalten, um es zu geeigneter Zeit nützlich anzuwenden. Dafür hatte der Professor eine besondere Begabung, woraus sich seine Naturphilosophie gestaltete, die aus den erlangten Begriffen eine Vernunfterkenntnis schöpfte und ihn so leicht zur Einsicht des Rechten führte. Aber jetzt, – hier, – hier verließ ihn alles. Unter den Arkaden schwankte ihm ein Betrunkener entgegen, dem er kaum mehr ausweichen konnte. Ekel erfaßte ihn wie kaum jemals vorher; und wie viele Berauschte hatte er doch gesehen! Der ›Harmlos‹ stand mit dem keuschen Lendentuch noch ohne winterlichen Bretterschutz in dem fast grünen Gebüsch. Am Palais des Prinzen Karl hätte Buchlehner beinahe den Posten angerannt und statt darauf in die Königinstraße einzubiegen, betrat er den ersten, stockfinsteren Pfad des englischen Gartens. Etwas Graues schimmerte ihm dort entgegen: eine Bank! Darauf ließ er sich nieder, denn plötzlich wollten ihn seine Beine nicht mehr tragen. Über seine durch die herbstliche Nachtluft eiskalten Wangen rollten plötzlich und ganz langsam einzelne heiße Tropfen. – – –

Gertrud ist unendlich froh, daß Fräulein Burkstaller, die sie vor der Kirchentür getroffen, sich ihr nicht anschließt. Diese hat im nebenanliegenden Kunstgewerbehaus zu tun. So wechseln sie nur einige Worte über die gestrigen auf der Oktoberwiese verbrachten Stunden, die Malerin erkundigt sich eingehend, wie es der gnädigen Frau denn heute gehe, und dann gehen sie mit freundlichem Gruß auseinander.

Wie dieser Vormittag sich hinstreckt! Bis ins Unendliche! Eine Turmuhr nach der anderen schlägt langsam die zehnte Stunde. Zum Schluß, mit den ersten Klängen sich noch in die einer anderen mischend, kommen die Zwillingsuhren Unserer lieben Frau. So voll, so dröhnend, warm und reich! Fast hätten sie Frau Halliger verführt zu ihnen hinüber zu kommen, um diese noch bleibenden Stunden im Schutz der zwei braven, uralten Kameraden zu verträumen. Aber für heute hat Gertrud genug Kirchenluft gehabt. Langsam schlendert sie über den Promenadeplatz, vorbei an den ehrwürdigen Standbildern. Um die des Geschichtsschreibers Westenrieder und des bayerischen Staatskanzlers Kreittmayer tobt eine Schar Kinder, eine flügellahme Taube jagend. Endlich hüpft diese über das niedrige Geländer auf die Straße, um sich unter dem Gelächter und dem Geschrei der wilden Horde schnurstracks an dem protzigen, höchst wichtig aussehenden Hotelportier vorbei in das offene Eingangstor des Bayerischen Hofes zu flüchten. Ein kleines Mädchen bleibt ganz allein zurück und steht den Passanten im Weg. Die schwarzen Augen sind mit Tränen gefüllt, die über die Wangen herunter laufen und auf ihnen grauschwarze Rinnsale zurücklassen. Gertrud bleibt mitleidig stehen. Die Kleine verfolgt mit trostlosem Gesichtsausdruck die anderen Kinder, wie sie mit der wiedererhaschten Taube, die es selber so gerne besessen, gehegt und gepflegt hätte, davon rennen. Das Kind kann ja nicht laufen. Es hat ein lahmes Bein und in der Hüfte sitzt ein immer wieder eiterndes Geschwür. Frau Halliger tröstet die Kleine, fragt sie aus, schenkt ihr ein Zehnpfennigstück und geht sie an die Hand nehmend mit ihr fort. Elend wackelt die Lahme neben ihr her und biegt mit in die Promenadestraße ein. In einer winzig kleinen Werkstatt, die ihr Licht ausschließlich durch die Türe gewinnt, arbeitet laut hämmernd ein schmächtiger, blasser Mann. – Binnen einer halben Stunde hat Frau Halliger wieder ein Liebeswerk eingeleitet. Sie will das arme Kind zu einem berühmten Arzt bringen und operieren lassen.

Vater und Tochter stehen Hand in Hand dann unter der Türe und sehen in ungläubigem Staunen und freudiger Überraschung der Dame nach.

Gertrud beeilt sich jetzt. Nur schnell in die Elektrische. Rascher und lauter pocht ihr das Herz. Sie muß sich ja auch noch umziehen! In diesem traurigen Kleid, das sie für den Gottesdienst wieder angelegt, soll sie der Heimgekehrte nicht wiedersehen. Gestern Abend schickte die Sonca ja das neue Gewand, das so schön ausgefallen, das will sie anziehen. Mein Gott aber, warum, wozu? Wofür ihm gefallen wollen? Um sich und ihm die neue und ewige Trennung noch schwerer zu machen, – die sein mußte, – mußte! Wie langsam der Wagen fährt! Jetzt kann sie aussteigen. Ernst steht das Maxmonument da, und aus dem grautrüben Himmel fallen langsam einzelne Tropfen. Scharf umrissen zeichnen sie sich auf den drei Granitstufen des achteckigen Trottoirs ab, von dem das Denkmal umgeben ist.

In fieberhafter Eile reißt Gertrud zu Haus das feuchte, schwarze Kleid herunter, so daß einer der Haken ihr ein feuerrotes Mal auf die rechte Schulter zeichnet. Kathi hatte die neue Toilette schon auf das Bett gebreitet. Also auch sie dachte, daß diese heute von der Herrin getragen werden müsse, zur Feier der Rückkehr eines Weltreisenden. Wenn das Haar nur nicht so widerspenstig sein wollte! Aber die feuchte Witterung löste hundert krause Löckchen davon ab und formt über der Stirne breite, natürliche Wellen. Endlich ist sie fertig. Halb zwölf! In der Zeit, die Frau Halliger vor dem Spiegel verbrachte, hatte ihr Gesicht alle Schattierungen von tiefster Blässe bis zum brennendsten Rot durchgemacht. Vor wenig Minuten waren die Handflächen glühend und trocken, jetzt sind sie eiskalt.

Gertrud hält die Wahrheit hoch über alles, auch bei gleichgültigen Dingen. Sie empfindet, daß sie keine Abstufungen erträgt. Die allergeringste Abweichung von ihrer Wesenheit beraubt sie ihrer Existenz! Aber dann, – was ist jetzt zu tun, – was ist zu sagen als Erklärung, wenn sie nicht die bittere, beunruhigende Wahrheit Detlev ins Antlitz schleudern darf?

Wie am Morgen verfolgt sie auch jetzt die Schläge der Turmuhren, die nun die Mittagsstunde ankünden. Aber bis hieher dringt keine so recht voll und laut. Sie tritt ans Fenster. Ein schwacher, warmer Regen webt einen losen, halbdurchsichtigen Schleier. Sie wendet sich wieder und wirft einen prüfenden Blick ins Zimmer. Warm und wohnlich ist es, geschmückt mit vielen Schätzen aus Rolands Besitz, die sie aus Seedland mitgenommen. Dann besieht sie sich lange im Spiegel. Er wirft ein schönes Bild zurück.

Ein schriller Laut. Die Hausklingel! Eine Blutwelle steigt wieder in das schmale Gesicht der Harrenden, in dem die Augen brennen. Wieder zeigt es den hilflosen Ausdruck wie gestern, als Gertrud flehend zu Onkel Toni aufgesehen. Ihre eine Hand hält sie aufs Herz gepreßt, dessen Schläge sie bis in den Kopf zu spüren vermeint. Die zweite, bedeckt von den darüberfallenden Spitzen des weiten Ärmels, ist in die Falten des Kleides vergraben. Das Haupt leicht gesenkt, steht Gertrud mitten im Zimmer. Und Detlev von Dombrowsky tritt ein! –

Tausendmal, wenn ihre Phantasie sich sein plötzliches Kommen ausgemalt, hatte sie sich vorgenommen, ihm vollkommen ruhig, in eisernem Zusammennehmen gegenüber zu treten. Ihm, – der so ganz anders geworden sein mochte, sich sicher völlig von ihr weggelebt haben mußte. So wollte sie sich bemeistern und dadurch sowohl sich wie ihm das Hinübergleiten an das andere, düstere Ufer leichter machen. Aber schon dieser gestrige Brief! Wie hatte er mit einem Schlag all ihr Fühlen gewendet!

Draußen hat der Regen aufgehört: eine matte Sonne schimmert durch einen Wolkenspalt und sendet dann einen schmalen Streifen herein, der das Haar der Frau aufschimmern läßt.

So ganz anders wird es dann als sich beide gedacht.

Der große, hager gewordene Mann mit dem scharf geschnittenen Profil, das sein Gesicht oft fast hart scheinen läßt, der Mann, den in keiner Lage je seine Kaltblütigkeit und Kraft verlassen, stürzt fast wie ein gefällter Baum vor der Frau nieder, die ihm das goldene Tor seines Lebens einst gezeigt, weit, weit aufgetan, und deren Bild er unverwischbar im Herzen getragen, so lange, – lange!

Ein Lauscher würde außer einem dumpfen Ton, den ebensogut übermächtige Freude wie übermächtiger Schmerz hätte gebären können, nichts vernommen haben. Stumm, – überwältigt, – wie völlig gelähmt, sieht Gertrud totenblaß auf Detlev herab, von dem sie nur das ungelichtete, aber an den Schläfen stark ergraute Haar sehen kann. Seine Arme umklammern so heftig ihren zitternden Leib, daß sie sich kaum auf den Füßen halten kann, und ein Gemisch wonnevollen Entzückens und zugleich Schreckens erfaßt sie, wie die am Boden knieende Gestalt von Schluchzen erschüttert wird. Sie lauscht diesen rauhen, heiseren Lauten wie einem zaubrischen Märchen, wie einer Offenbarung!

Rastlos summt eine Stubenfliege, die wohl schon an behagliches Überwintern denkt, um ihren Kopf, aber sie wehrt ihr nicht. Auch diesem feinen Ton lauscht sie, als gehöre er zum Ganzen. Mechanisch streicht ihre Hand unaufhörlich über Dombrowskys Haar, und sich herabbeugend legt sie die andere auf seine Schulter. Ihre großen, leuchtenden Augen aber schweifen mit unbeschreiblichem Ausdruck weit weg. Sie sehen die Heide wieder. Zur goldenen Mittagsstunde. Bienen und Hummeln taumeln umher, Insekten schwirren, kleine Fliegen summen, – so, – so, – sie hört es ja deutlich an ihrem Ohr! Von dem Stückchen dunstigen Horizontes, das ihr durch die offene Balkontür die Wirklichkeit übermittelt, ruft ihr eine starke Stimme zu: »Sei glücklich!« Und hört sie nicht auch die Onkel Tonis, die ihr leise: »'s ist, ja net wahr, – net wahr, so hat er's nimmermehr g'meint!« zuflüstert? Anderes vernimmt sie nicht. Sie steht und lauscht, bewegt, – übervollen Herzens. Sie lauscht auch in ihr Inneres hinein; aber da hört sie jetzt nur: Ich liebe ihn, – liebe ihn, – liebe ihn!

Eine sehnige Hand berührt in heftiger, plötzlicher Bewegung ihren Arm. Wie durch einen Nebel steht sie Detlev vor sich. Er führt sie zu dem Diwan, der frei im Zimmer steht.

»So habe ich dich endlich, – endlich – Traudl, du meine Geliebte!«

Viel, viel mehr und anderes sagt er, rasch und überhastet, mit einer seltsam fremden Stimme, die ihm die Erregung verleiht.

Aber Gertrud faßt nicht den Sinn seiner Worte. Nur den süßen Klang vernimmt sie. Ihr Kopf liegt an seinem Herzen gebettet. Nun fürchtet sie sich nicht mehr; fühlt keine Vereinsamung, keinen Schmerz. Wo sind ihre Sorgen, ihr Kummer, ihre entsetzlichen Zweifel geblieben, die sie so gequält? Wie hat sie sich nur je so schwere Gedanken machen können über ein Eingebildetes, über Ausgeburten ihrer Phantasie? Rolands letzter Blick war ja einzig Liebe und Dankbarkeit gewesen und sicherlich hätte er nur Gutes und Ermutigendes zu ihr gesprochen, wäre es ihm noch vergönnt geblieben. Und die Sorgen wegen der Kinder? So wie sich eben alles gestaltet, ist es doch natürlich, daß To in der Ferne weilen muß. Lise aber, – Onkel Toni hat sicherlich recht, – würde sich sicher völlig ändern. Wie ein lästiges, beklemmendes Kleid fällt alles Schwere und Drückende plötzlich von Gertrud herab. Leicht und fessellos, gehoben, getragen von weißen Schwingen, schwebt sie nun hinein, empor, in ein aufsteigendes, neues Morgenrot kommender Tage.

Sie hatten sich noch nicht geküßt. Langsam hebt Gertrud mit geschlossenen Augen, deren tiefdunkle Wimpern feucht sind, den Kopf zu Detlev empor, der erdenvergessen in dieses Antlitz blickt, das ihm noch viel schöner und lieblicher dünkt, als er es in der Erinnerung gehabt. Seine bärtigen Lippen begegnen den blühenden, roten in leiser, schmeichelnder Berührung, fast in einer scheuen Zärtlichkeit ruhen sie aufeinander und fühlen gegenseitig ein zitterndes Beben. Sie wollen sich nicht mehr trennen. Küsse sind es jetzt, mit denen sie einander die Seele austrinken wollen, so, als könnten sie sich dadurch ganz und auf ewig besitzen.

»So lange – lange –murmelt Detlev, dem ist, als verlöre er im nächsten Augenblick die Besinnung.

Gertrud aber flüstert: »Bei dir, dein! Jetzt habe ich keine Angst mehr.«

Nach und nach erst gelangen sie zur Aussprache. Jenen ausführlichen Brief des Geliebten hatte sie niemals erhalten. Wie es hatte sein können, darüber denken sie jetzt nicht nach. So scheint jegliches Mißverstehen nun gelöst.

Drunten jauchzt die Isar hell auf, über die Gefälle stürzend. Als wäre es eine Fülle blondlockiger Haare, so türmt sich der bernsteinfarbige Schaum. Hochauf bäumt sich, damit gekrönt, die Wilde. Sie wirft eine Flut des trüben, dann und wann fast bunt aussehenden, rauschenden Wassers an die zerklüfteten, zerrissenen Ufer. Schmutzig-weiße Schaumflocken hängen gleich verlorenem Gefieder an Ecken und Kanten, und tausend flinke, blanke Perlen rollen umher, platzen und zerstieben.


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