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Fünfunddreißigstes Kapitel.

»Man muß sie aufheitern und hindern, sich so ausschließlich im Dunstkreis des Unglücks zu bewegen. Das ist ja rein krankhaft endlich!« äußert sich unwillig Frau Thilde.

»Jawohl, Schnackl! Zur Manie wird's, sag i und ein Unsinn ist's! Wer dankt's ihr denn z'letzt? Kein' Seel' net!«

»Ja, die Eltern ham schon recht, weißt, Onkel Toni, da muß etwas g'schehen,« meint auch Ludwig.

»Hast denn keinen Einfluß auf die Traudl in der Hinsicht?« wendet sich nun auch Carlo an den Professor. Es ist ein ganzer Familienrat. Wochenlang seit die Schwester wieder gesundet, hat keines – außer vielleicht dann und wann der Bauamtmann, längst wie früher schimpfend und mürrisch, – Zeit gefunden, sich viel um Gertrud zu kümmern. Nicht eines hatte daran gedacht, wie einsam sie lebe und daß die Faschingsatmosphäre sie nur peinlich berühren könne. Selbst Ludl war nie in den Sinn gekommen, irgend etwas herbeizulocken, das die Schwester zur Aufgabe ihres sonderbaren Außersichselbstlebens hätte bringen können. Dazu aber war Buchlehner auch nicht der Mensch. Er war immer schwerfällig gewesen und ungeschickt im Seifenblasenspiel der Welt; nun ist er alt noch dazu, wenn er auch noch so frisch und jugendlich erscheint. Endlich beschlossen die vier fidelsten Degenhardts, sich zu einem Katzenjammer-Heringsfestessen bei Traudl zum Zweck ihrer Erheiterung einzuladen.

Das ist dann ein unruhiger Aschermittwoch! Draußen lacht eine so warme Sonne, als wäre der Lenz schon da, und die noch schmutzigen Straßen, auf denen der letzte Rest bunter Papierfragmente zu sehen ist, sind überblaut von dem berühmten Münchener Himmel, der mit dem Italiens so oft verglichen wird. In wahren Strömen Wallfahrten die Menschen ins Freie. Strahlend ist auch Lise, die heute noch Ferien hat, zwischen Pastor von Mesting und Grete Mannes in die Isarauen gewandert. Die telephonisch angekündigten Gäste, die das Essen selbst für drei Uhr festgesetzt, sind heute gar nicht nach Frau Gertruds Sinn. Immer wieder sieht sie nach der Uhr und läßt endlich einen Dienstmann kommen, dem sie ein Billett zur Besorgung gibt. Sie erbleicht aus Schrecken, als der Bote dann dem eben kommenden Bauamtmann die Tür in die Hand gibt. Wenn nur der nicht etwa die Adresse –

»Dort oben ist ja ein netter Skandal bei deinem Malweib oder bei der Schneidermadam!«

»So?« Sie hatte nichts gehört.

»Das ist ja einfach scheußlich! Und das soll angeblich ein feines Haus sein!«

»Bis jetzt hat noch nie Lärm von oben irgend einen Inwohner belästigt.«

»Solche Weiber, – gar die Sonca, gehören eben nicht herein!«

»Bitte, wende dich mit deinen Ausstellungen an den Major oder vielleicht noch besser an Herrn Hubmair selbst. Übrigens bin ich überzeugt, daß du von keiner etwas weißt und, wie so oft, eben nur in den Tag hineinurteilst.«

Ihr entschiedener, fast scharfer Ton bringt ihn doch dazu, sich zu beherrschen und keinen Streit vom Zaun zu brechen. Auch Gertrud lenkt nach Möglichkeit ein.

»Eltern und Brüder haben sich heute bei mir zum Mittagsessen angesagt, – auf drei Uhr, – Onkel Toni kommt auch, willst du nicht gleichfalls –?«

»Wegen meiner ja! Ich habe die ganze werte Familie so wie so schon wieder eine Ewigkeit nicht mehr gesehen, und meine Kollegin, das Fräulein Architektin, wird ja auch da sein. Das mag ein schöner Schmarren werden, da draußen über der Isar. Das Mädel kriegt auch gar keine rechten Leut zum Bau, und man erzählt, sie hätt' schon einen Haufen Unannehmlichkeiten!«

Gertrud steht vor einem großen, antiken Schrank und entnimmt dem oberen Teil Tischtuch und Servietten, dem unteren einiges Silber.

»Warst du vielleicht draußen? Hast du wirklich jemanden, – jemanden Maßgebenden darüber gesprochen?«

»Ha! Ich werd da hinausgehen! Tät mir die Zeit leid! Aber was kramst du denn eigentlich da herum? Kannst du dich denn nicht ein einziges Mal ruhig zu mir setzen mit irgend einer Näherei oder so, – was? Ich sehe nie eine Handarbeit bei dir!«

»Du kannst mir ja heute zum Beispiel eine Strickaufgabe geben, die etwa bis zum nächsten Samstag fertig sein müßte. Es tut mir leid, mich jetzt nicht, mit oder ohne Handarbeit, zu dir setzen zu können; allein, ich muß selbst den Tisch decken und dann auch noch Staub wischen, hier sowohl wie nebenan. Die Kathi hat entsetzliche Kopfschmerzen, – sie gefällt mir überhaupt gar nicht – und Grete ist mit Mesting und Lise spazieren gegangen.«

Die Türe geht auf, und das eben aus der Schule gekommene Hanserl streckt den Kopf herein, ist aber gleich wieder verschwunden. Wenn der Herr Bauamtmann da ist, fühlt es sich nie heimisch und gemütlich.

»Hanserl, Hanserl!«

Frau Halliger ruft das Kind wieder herbei, das dann mitten im sonnigen Zimmer steht, aber verschüchtert und scheu.

»Nicht wahr, Kind, du läßt die Kathi recht in Ruhe! Die ist ein bißchen krank und muß noch dazu heut so viel kochen. Du setzt dich ruhig mit dem schönen Apfel, den ich dir hingelegt, in dein Lernwinkelchen und bist recht brav und fleißig, gelt?«

»Heut wär's so schön zum Spazierengehen!«

»Ja, Hanserl, heute kann ich durchaus nicht. Hat vielleicht die Base Lust und Zeit dazu?«

»Die sind heut nach Starnberg hinaus.«

Die sind! Freilich, es handelt sich jetzt um die Mehrzahl. Die Base heiratet ja wieder! Sogar einen weit jüngeren Mann, und sie hat keine Zeit mehr übrig für die kleine Verwandte. Wie soll das erst später werden?

»So geh jetzt, mein Kind! Vielleicht findet sich doch noch jemand, der dich mitnimmt.«

»Auch so was Übertriebenes,« brummt Otto halblaut, gräbt die Hände in die Hosentaschen und sieht mürrisch zum Fenster hinaus. – –

Das Mittagessen verläuft trotzdem äußerst animiert. Die alten Degenhardts stoßen sozusagen auf ihr Wiedersehen an, indem sie naiv versichern, daß sie während der Faschingstage eigentlich keine Stunde zusammen gewesen seien.

»Ja, der Mann hat es wieder an Ecken und Enden so überaus nötig gehabt,« meint Frau Thilde und lobt im gleichen Atem die Muschelspeise, die Kathi ihr so sehr zum Dank gemacht.

»No, Schnackl, schau, – jetz sin mir dafür wieder um so vergnügter miteinand, – prost!«

Sie nickt lachend, hebt ihr Glas und droht ihm dazu mit dem Finger: »Unverbesserlich ist er eben, mein alter Uz!«

Selbst durch die Gegenwart ihres Sohnes Otto lassen sie sich durchaus nicht genieren. Dieser geruht sogar recht liebenswürdig zu sein und läßt sich von Mesting in allerlei Gespräche von allgemeinem Interesse verwickeln; freilich nie lange, ohne das Thema auf seinen Beruf und seine Persönlichkeit oder doch auf den Kreis, den er beherrscht, zu lenken. Aber dem Pastor ist das alles gleichfalls neu, und so sprudelt das Unterhaltungsbrünnlein lebhaft weiter. Sacht pfeift Ludwig durch die Zähne und beugt sich sehr nahe an das rosige Ohr seiner Tischnachbarin:

»Wissens, Fräulein Greterl, – das geht halt so lang gut, bis er spannt, daß der adelige, pikfeine Mucker da, – ja ja Mucker sind's alle, protestierens nur net so eifrig, – in meine Frau Schwester verschossen ist. Wann der Otto so was merkt, wird er gegen einen solchen armen Mann im Handumdrehen strohgrob!«

»Aber das ist ja rein sinnlos!«

»Ja, ham Sie ihn schon recht oft bei alle Sinn g'sehen? I net, i!«

»Pfui, wie abscheulich von Ihnen, Ludwig!«

»Geh, machen's noch a mal ein so lieb's Goscherl! Das seh i zu gern!«

»No, und wie geht's dann der Burkstaller, Traudl?« fragt Professor Buchlehner laut über den Tisch.

»Ich glaube gut! Gesehen habe ich sie noch gar nicht, denn sie kam erst heute mittag zurück, wie ich hörte, aus Augsburg oder so. Morgen hält sie aber wieder ihren Kurs ab.«

»Eine sonderbare Person,« wirft bissig Otto ein.

»Eine famose Person,« rufen Carlo und Ludwig wie aus einem Mund.

»Nein, nein, sie ist schon eine Fesche und eine G'schmache, die Burkstaller Otti,« lobt sie Papa Degenhardt.

»Und so energisch, so amüsant!« ergänzt seine Frau.

In aller Eile wird die Künstlerin dem Pastor geschildert. Selbst durch den I-Tupfen, den Lise dann noch aufsetzt, indem sie Ottilie einfach rasend emanzipiert und frei nennt, wird ihm keine Klarheit über die Dame; allein sie ist ihm ja so gleichgültig.

Die Gäste bleiben sehr lange. Frau Halliger wird von immer größerer Unruhe erfaßt, die freilich nur von Onkel Toni bemerkt wird.

»Was hast, Traudl? Is's wegen der Kathl? Die Spülfrau hat ja alles ganz gut g'macht und das marode Mädl hat sich niedergelegt. Das Hanserl aber war gar zu nett! Eine Freud' war's, ihm zuzuschauen, wie das winzige Tröpferl schon so zupacken kann. Teller hat's abtrocknet und so Sachen!«

Er ist aber innerlich überzeugt, daß es nicht Kathis Krankheit allein ist, die Gertrud beunruhigt, und läßt sich nicht dadurch täuschen, daß sie scheinbar interessiert an der Unterhaltung teilnimmt und manchmal forciert auflacht. Das ist ja erst recht erlogen! Das Traudl kann schon lange nicht mehr ehrlich lachen und wird's auch so bald nicht mehr lernen, wenn, – wenn's nicht, – anders kommt!

Man hat sich die Hände zum Lebewohl geschüttelt, und die Haustüre steht auf, über deren Schwelle die Degenhardts eben treten wollen. Da! Ein Schrei, – ein Fluch, – Laufen, – Schimpfen und Zetern, – eine abscheuliche Männerstimme! Alles kommt von ganz oben, denn Majors sind mit Kind und Kegel ausgerückt, um das schöne Wetter zu genießen.

»Was ist das? Um Gottes willen!«

»Aha, jetzt geht's wieder los! Vor Tisch war auch schon eine solche Gaudi! Halt ein wirklich feines Haus das,« höhnt der Bauamtmann.

Zuschlägen von Türen. Eilig springt jemand die Treppe herunter; durch den offenen Glasverschluß, gleich in Hast von der Stiege herein ins Zimmer, wohin alle wieder vor Schreck zurückgetreten sind, stürzt Ottilie Burkstaller. Keinem fällt auf, daß sie im ersten Augenblick zusammenfährt, um dann gegen ihre sonstige Art einen verworrenen, hastigen Bericht zu geben:

Am Morgen sei ein recht widerwärtiger, zudringlicher Rahmenhändler, zugleich Agent einer Unfallversicherung, bei ihr gewesen, als sie eben angekommen und vor ihren offenen Koffern beim Auspacken beschäftigt gewesen. Sie habe ihre liebe Not gehabt, ihn los zu kriegen. Wer sonst noch da wohne? Er möge eben selber sehen. Dann hätte sie zuerst nichts als höchstens besonders lebhaftes Sprechen drüben bei der Sonca gehört, aber dann sei nach einer Stunde ein Riesenskandal losgebrochen, der sich eben wieder erneuert habe. Übrigens sei gerade der Agent vor ihr her die Stiege herabgerannt. Was nur der so lange da oben gemacht habe? Sie hätte an die Türe der Sonca geklopft, aber alles sei dahinter mäuschenstill. Plötzlich sei sie selber von einer nervösen Angst übermannt worden, so daß sie einfach da herunter gerannt sei. Ottilie ist ganz blaß und fröstelnd zieht sie ihren roten Seidenschal um ihr recht bescheidenes Hauskleid. Frau Gertrud ist entschlossen schon halb die Treppe hinaufgelaufen, von Ludwig gefolgt. Sie pochen an die Türe der Schneiderin und hören von innen Weinen und Schluchzen.

»Madame Sonca, Madame Sonca, öffnen Sie doch!«

Endlich eine schwache Stimme: »Was ist?«

»Ist Ihnen etwas widerfahren? Reden Sie doch wenigstens!«

»Nein, – nein, –« Schluchzen und unterdrücktes Weinen, – »ich, – ich – bin nur – so nervös, – danke – sehr, da–«

»Lassen Sie mich es wissen, Frau Sonca, wenn ich Ihnen irgend etwas helfen kann. Ich sehe später wieder nach Ihnen,« ruft Frau Halliger noch. Aber die Schneiderin antwortet nicht mehr.

»Komm, Traudl! Du, – i glaub, da heroben hat sich eine Aschermittwochstragödie abgewickelt, im Gefolge von der Sonca ihrem Fasching. Auf der ihrem Bett wird halt einfach ein Mordskater hocken!« – –

Endlich, – endlich sind sie fort! Zuerst die Eltern mit den Brüdern, dann Mesting und Grete, die Lise auf deren Bitten hin ins Institut bringen. Diese ist und bleibt wie ausgewechselt; zärtlich gegen die Mutter, singt sie oder schwatzt wie eine Elster und hat übers ganze Gesicht lachend zu Gertrud geäußert, wie sicherlich kein Denken daran sei, – Kathi hätte das Gegenteil vermutet, – daß der Pastor sich für Grete Mannes interessiere.

»Sie passen ja auch gar kein bißchen zusammen!«

Wie sie sich ereiferte!

Onkel Toni geht auch, aber recht zögernd. Gar zu gerne hätte er einige Worte mit seinem Trauderl unter vier Augen gewechselt. Er wittert aber denselben Wunsch bei der Burkstaller und räumt dieser gutmütig das Feld. Einen langen, forschenden und beunruhigten Blick wirft er noch auf seinen Liebling, der ihn aber nicht gewahr wird, denn Gertrud ist ganz zerstreut, völlig wie geistesabwesend. Kaum kann sie erwarten, bis auch Ottilie sich verabschieden will. Diese fängt zu allem Überfluß noch an, sie über Pastor von Mesting auszufragen. »Der und ein Pfarrer! Und noch dazu vom Land! Und so elegant und weltmännisch! Wie mag er nur bloß nach Seedland gekommen sein?«

»Tut mir leid, Fräulein Burkstaller, aber das weiß ich wirklich selbst nicht!«

»Bleibt er noch länger hier?«

»Ich denke wohl, – aber, liebes Fräulein, nehmen Sie es mir nicht übel, – allein ich muß jetzt nach meinem kranken Mädchen sehen und dann – –«

»Gewiß, gewiß, – verzeihen Sie nur, gnädige Frau, daß ich Sie aufhielt, also adieu!«

Langsam, fast schwerfällig nimmt Ottilie Stufe für Stufe. In ihrer Stube blickt sie dann lange mit gerunzelter Stirn auf einen mächtigen Koffer herab, der mitten im Atelier wie ein dickbäuchiges Ungeheuer breitspurig steht. Aus dem Dunkel, in dem schon alle Gegenstände zu zerfließen beginnen, hebt nur er allein sich noch ab. Plötzlich ächzt und kracht er in allen Fugen unter einem derben Fußtritt, den ihm die Malerin versetzt. – – –

Die Spülfrau soll das Hanserl nach Hause fuhren und auf dem Rückweg gleich einen Wagen mitbringen. Dann möge sie so lange bei Kathi bleiben, bis Gertrud heimkehre.

»Aber gehens doch nur ruhig, gnädig Frau, schauens, mir ist schon so viel bester. Dort aber, bei dem armen Herrn, sind Sie ja viel nötiger als wie bei mir!«

In fieberhafter Hast packt Gertrud noch eine Flasche essigsaurer Tonerde und Verbandzeug zusammen, wirft einen langen, schwarzen Mantel über, der sie in Seedland gar oft vor Sturm und Regen schützte, und zieht dessen Kapuze tief über den Kopf ins Gesicht hinein, vor das sie noch einen dunklen Schleier bindet.

Die dämmrige Stadt kleidet sich eben in ihr glänzendes nächtliches Licht-Gewand und liegt wieder so brav, still und friedlich und so unschuldig da, als hätte sie nie die kaum verrauschte, bacchantische Lust geduldet, die sich lange Zeit wild und laut in ihr entwickelt hat.

Frau Halliger schlüpft aus der Droschke und ins Haus. Sacht klopft sie; aber kein Herein tönt ihr entgegen. Eine alte Frau, die, von tiefem Schatten umgeben, am Bett des Kranken gesessen, erhebt sich geräuschlos und rückt die grün verhangene Lampe noch etwas weiter weg.

»Nein, wie gütig, gnädige Frau, daß Sie schon wieder kommen nach der anstrengenden langen Nacht! Es geht recht gut, meine ich, und eben schläft der Herr Doktor ruhig und fest.«

»Das ist ja schön. War jemand da, Frau Baum?«

»Keine Seele außer einem Baron, – – ich glaub, Gschwandner war sein Name, und dann, gnädige Frau, daß Sie es nur gleich wissen, – auch Ihr Herr Bruder Ludwig!«

Gertrud erschrickt. »Mein Gott, er ahnt doch nicht, daß ich – – –«

»Nicht die Spur! Außerdem habe ich beiden Herrn ganz keck ins G'sicht gelogen, daß der Doktor Manzinger verreist sei.«

»O, das ist gut, und ich denke, daß es wirklich bald so weit mit ihm sein wird. Die Sache ist ja tatsächlich gar nicht schlimm, ich bleibe jetzt ein wenig da, Frau Baum, und Sie können indessen ruhig Ihren Geschäften nachgehen.«

Eine Weile ist's ganz, ganz still im Zimmer, das ungemein geschmackvoll, nach letzter Mode, aber ohne Übertreibungen eingerichtet ist. Nach etwa einer Viertelstunde erwacht der Schriftsteller und schaut sich verwundert um. Gertrud legt eine Hand auf seine Stirne, mit der anderen fühlt sie seinen Puls. Er schließt aufs neue die Augen und flüstert unter tiefem, erleichtertem Aufseufzen und schwach lächelnd:

»Ah, Sie! Sie Gute, Feine, Klare!«

»Guten Abend, lieber Freund! Nun, es geht Ihnen ja famos! Keine Spur Fieber ist da. Lassen Sie mich nun einmal sehen!«

Gehorsam legt er sich hin, und sie knüpft ihm das seidene Nachthemd auf, unter dem ein kunstgerechter Verband sitzt. Gewandt öffnet sie ihm, nachdem sie sich noch aufs sorgfältigste die Hände gewaschen, die schützende Hülle und besichtigt die leichte Fleischwunde.

»Messen Sie sich gleich morgen früh. Haben Sie ganz normale Temperatur, so erlaube ich Ihnen, ein paar Stunden aufzustehen.«

»Ich kann es kaum erwarten.«

Er atmet schwer und bedrückt und legt sich völlig verstummend zurück, um nicht merken zu lassen, daß ihm die Tränen kommen. Wie eine weichliche Frau oder ein schwächliches Kind hat er jetzt immer eine Neigung zum Weinen. So ungemein nervös fühlt er sich! Gertrud setzt sich zu ihm und nimmt seine weiße, wohlgepflegte Hand mit den blanken Nägeln zwischen die ihren. Drüben, auf dem eleganten Toilettentisch, liegen eine Unmenge Instrumente, deren sich Manzinger regelmäßig zu bedienen pflegt.

»Wollen Sie noch ruhen, Kunz, oder beruhigt es Sie, sich ein wenig auszusprechen?«

»Lieber letzteres! Mir ist jetzt, als wäre der dumpfe, peinigende Druck auf meinem Kopf weg. Wenn nur die Leute jetzt nicht – –!«

»Ach was, Manzinger, lassen Sie die Leute doch! Welch ein Glück, daß ich gleich davon erfahren habe und sofort kommen konnte. Frau Baum kennt mich so gut, weil sie einstens, als sie noch unverheiratet war, in meinem Elternhaus genäht hat. Vor kurzem haben wir unsere Freundschaft erneuert durch die Vermittlung einer Bekannten. Ihre Hauswirtin weiß also, daß ich Arbeit haben will und brauche. Zudem wird sie von einer unglaublichen Angst beherrscht vor Doktor und Polizei und so war ihr erster Gedanke, als sie ihren Mieter verwundet gefunden, ans Telephon zu laufen und mich anzurufen. Nur gut, daß es noch vor Torschluß gewesen!«

»Dumm genug habe ich freilich die Sache angefangen. Meine Nerven sind eben so herunter, daß das plötzliche Geprassel eines vom Sturm herabgeschleuderten Brettes drüben an dem Baugerüst mir sofort den Revolver aus der Hand fallen ließ. So ging der Schuß fehl! Leider!«

»Was reden Sie! Sagen Sie lieber Gott sei Dank. Nun aber, lieber Freund, weg mit den krankhaften Gedanken. Jetzt werden Sie gesund! Gesunder als jemals!«

»So lange schon fühlte ich mich unendlich elend. Ich spürte deutlich, wie etwas Mächtiges, Dunkles mich unterkriegen, seine Krallen in mein Hirn schlagen wollte.«

»Sie sind eben krank! Und deshalb: heraus jetzt!! Nur reisen Sie nicht etwa nach dem weichlichen Süden! Nein, in nervenstärkende, herbe Höhenluft, zu Schnee und Eis bei vernünftiger, unübertriebener Kaltwasserbehandlung. Ich kenne im Schwarzwald, an der Lehne eines Berges, ein Sanatorium, das gerade das rechte für Sie wäre. Darf ich in Ihrem Interesse dem mir wohlbekannten Arzt ein paar Worte schreiben, weil ich doch in diesen Tagen den Arzt vertrat und mich der Kurpfuscherei anklagen muß?«

»Ob Sie dürfen?! Alles, alles danke ich ja nur Ihnen, und so tue ich auch, was immer Sie für gut halten. Wie haben Sie jetzt wieder an mir gehandelt!«

»Aber das ist doch gar nichts! Ich habe was erreicht, also gut damit! Seien Sie nur munter und froher Hoffnung voll! Morgen stehen Sie vielleicht eine Stunde auf, übermorgen etwas länger und so machen Sie vernünftig weiter, bis Sie Sonntag reisen. Sie können das dann ruhig riskieren. Ich kann wohl kaum mehr zu Ihnen kommen, denn meine treue Kathi macht mir schwere Sorgen. Mir ist der Kopf so voll und, Kunz, – auch mein Herz! Glauben Sie mir, ich habe schwer zu tragen und, wie Sie sehen, komme ich dennoch durch. Aber wirklich nur mit der Arbeit Segen!«

Er liegt still und stumm und sieht sie nur immer an. Dann schüttelt er den Kopf.

»Wunder über Wunder! Wo ist die Zeit, die indessen dahin gestürmt, seit ich die beiden Kinder bei den Nubiern traf und eines seltenen Glückes Nahen verspürte, durch den Glanz eines goldenen Augenpaares. Ein kleines Mädchen war da! Ein wunderholdes, ahnungsvolles: Ein Werdewunsch der Natur. Zwanzig Jahre oder mehr noch sind seitdem vergangen. Ich liebe die Frauen nicht, – nein, – diese fertigen, verbildeten, verschobenen Kunstwerke, oft schmutzbehaftet und von innen schon zerstört, – aber ich liebe unter geheimnisvollen Schauern höchster Ehrfurcht, diese eine heilige Frau, die hier an meinem Bett sitzt und die Wunden eines Elenden kühlt, – eines zerrütteten, alten Mannes!«

»Freilich, ein Greis! Ein Greis von einigen vierzig Jahren!« wirft Gertrud munter ein. »Bitte, hören Sie eiligst sowohl zu schwärmen wie zu kohlen auf, lieber Kunz!«

Dann aber fühlt sie deutlich, daß sie den Freund, ohne dabei etwa an den Tod zu denken, der ihn durchaus nicht bedroht, dennoch niemals Wiedersehen würde. Ein vollkommenes Wissen ist es, so, als könne sie in die so unberechenbare, verschleierte Zukunft blicken. Sie nimmt wieder des Dichters Hand und sagt ernst und leise:

»Ja, unsere Freundschaft ist seltsam und schön einst gekommen und seltsam und schön nach Jahren wieder erstanden. Glauben Sie mir, Kunz, auch ich werde immer daran denken; und wären zehnmal zehn Jahre vergangen, und ich wäre verdammt noch zu leben, – so würde das Traudl dennoch nicht vergessen haben, daß Sie ihm so unendlich viel Schönes in sein Kinderleben getragen und seine junge, dürstende Seele, sein sehnendes Herz getränkt, beruhigt haben!«

»Und Sie, Sie – Sie sind heute noch das Traudl. Sie werden es auch bleiben! Und das, was Ihnen zu Ihrer Krone fehlt – schon sehe ich es leuchten, ferne, ferne, auf einem Berg voll blutroter Rosen, die dort gedeihen aus kraftvollen Stämmen. Ich sehe und fühle es! Und dadurch weiß ich das, mit stiller Gewißheit: Unsere liebe Frau wird die Dornenkrone ablegen an einem neuen, aufflammenden Morgen und sich einen Rosenkranz, – auf jenem Berge gewunden, – in die Locken drücken!«

»Mein Freund – nein, o nein! Ich – kann – nimmermehr an ein solches Wunder glauben! Sie ahnen ja nicht die schwarzen Schatten, die es verdrängen!«

»Und dennoch glaube ich, glaube und – hoffe für das Traudl!«

»So wie ich es tue für Sie!«

»Sie werden nicht recht behalten!«

»Nicht immer wieder so trübe! Und nun leben Sie wohl, Kunz Manzinger, mein lieber, lieber Freund! Wollen Sie ans Traudl, an diese Stunde denken, wenn Sie sich angekränkelt und schwach fühlen? Und wollen Sie fortan gesund leben und gesund arbeiten?«

»Ich will, wenn ich kann!«

Sanft beugt sie sich über ihn und streift mit ihren Lippen seine Stirne.

»Leben Sie wohl, mein Freund!«

Er richtet sich auf, und in seinen Augen glänzen Tränen:

»Heilige! Kind du, – Ewiges, Herrliches! Kindliche Jungfrau im reifen Weib, – erfülle dich! Lebe wohl, Traudl!«

Innig küßt er ihre Hände, die sie ihm gereicht hat und die ihm dann sacht entgleiten; er sieht sie noch wie weiße Blütenblätter an dem dunkeln Kleid der Frau herabhängen. Ein liebliches Gesicht darüber, – dann Dunkel, – Öde, – Verlassenheit!


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