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Achtundzwanzigstes Kapitel.

Gleich einem umfangreichen, bunten und abwechslungsvollen Bilderbuch liegt das letzte Jahrzehnt vor Detlev von Dombrowsky. Manchmal ist ihm, als habe er vorher seine ganze Kindheit, seine Dienstzeit, ja selbst die Jahre, die darauf folgten und eigentlich alle schablonenmäßig verlaufen waren, halb geschlafen. So, als habe er vorher weder Augen noch Ohren gehabt und niemals Tausende feinfühlender Nerven besessen. Er übertreibt nicht, wenn er sagt, er habe beinahe die ganze Welt bereist. Seine ehemals nur oberflächlich, – wie fast alles, was er früher unternommen, – getriebenen geologischen und geographischen Studien hatten ihm doch genützt. Die Reisebücher Detlevs von Dombrowsky sind in weitesten Kreisen bekannt. Beinahe alle großen, deutschen Zeitungen bringen sehr vertiefte Aufsätze von ihm, die durch keine Kapazität beanstandet, sondern stets nur gelobt werden. Nie hätte sein Leben diese Richtung genommen und wäre vermutlich höchst alltäglich verlaufen, wenn ihm das Schicksal nicht von neuem Vetter Halliger zugeführt, wenn es ihm versagt hätte, Gertrud kennen zu lernen. Ob im Süden oder Norden weilend, umgeben von Frauen aller Stände, noch so schön und begehrenswert, – er fühlte kein Interesse für sie. Unauslöschlich brannte in seiner Brust eine Flamme weiter, die erste, heilige, die je darinnen aufgegangen. Unter den Lianen Indiens, in den weiten Steppen Rußlands, der öd endlosen Wüste Sahara, zwischen Eisbergen eingekeilt oder auf palastähnlichem Schiff schwankend, auf haushohen Wellen, umtost vom heftigsten Sturm, – er gedachte ihrer. Eine Eigenschaft aber, berühmt und bekannt an seinem ganzen alten Geschlecht, hatte auch er von seinen Ahnen geerbt. Die Pflichttreue! Das ausgeprägte Pflicht- und Ehrgefühl in eins verschmolzen. Und das hatte ihn einst von hinnen getrieben. Dadurch war er auch geworden, was er nun war, und – er fühlte, – kein Schlechterer! Nie hatte ihn ein Erlebnis so erschüttert, so gepackt und aus allen Fugen gerissen wie die ihm erst sehr spät zugekommene Nachricht vom Tod Rolands. Nie, mit Ausnahme jener Zeit, da er vor seiner Liebe geflohen, hatte er einen ähnlichen Kampf mit sich zu kämpfen gehabt. Der tief ehrliche Schmerz um einen seltenen Menschen, der allzufrüh schon dem Tod verfallen mußte, statt ein langes Leben genießen und wirken zu können, Paarte sich bei ihm mit dem abgrundtiefen, namenlosen Glücksgefühl, daß das Schicksal selbst die Schranken niedergerissen zwischen ihm und der geliebten Frau, daß er diese nun sein nennen könne. Aber daß es um diesen Preis hatte sein müssen! Im schmerzlichen Zwittergefühl konnte er keine Ruhe mehr finden. Zu ihr! zu ihr! Fieberhaft packte er, ordnete er alles, um die Reise nach Europa anzutreten. Rücksichtslos wollte er begonnene, wertvolle Arbeit liegen lassen. Klein und unbedeutend dünkte ihn alles bis auf seine unveränderte Liebe zu Gertrud. Aber nein! Nur jetzt nicht heimkommen, nur jetzt nicht vor sie treten und dadurch Heiliges entweihen, verzerren und zu Gertruds Trauer und Schmerzen neue Aufregung durch zwiespältige Gefühle hinzufügen! So siegte er über die eigene Schwäche und setzte seinen Weg ins Innere Japans, den er begonnen, fort. Da erreichte ihn eines Tages der erste Brief Gertruds nach dem Tod ihres Mannes. Lange, lange saß Detlev und hielt die dünnen, raschelnden Blätter in den Händen, aus denen es ihn anwehte wie Eiseskälte. Viele waren es. Genau und eingehend berichtend über alles und alles und doch – und doch! Was können die langen Jahre alles gebracht haben für die arme Frau, die einen Leidens- und Kreuzweg gegangen. Wie hätte er verlangen können, daß sie geblieben sein sollte wie und was sie einst gewesen! – Auf diesen Brief konnte er nicht so bald antworten. Dann kam das erste Weihnachtsfest nach Rolands Scheiden. Nein, er vermochte es doch nicht, sie da allein zu lassen. So schrieb er einen langen, herzlichen Brief voll Wärme und tiefen Gefühls, voll Treue und Hoffnung! Eine Karte von ihr mit einem Tannenreis, die ihm nur einen Gruß brachte, kreuzte sich mit seinen Zeilen. Dann nie wieder ein Wort, nie wieder! Nicht einmal eine kurze Bestätigung, daß Gertrud jene Blätter erhalten, die fast ein Tagebuch repräsentierten und so viel von seinem inneren und äußeren Leben erzählten. Jedes Wort darin hatte gesprochen: Ich liebe dich noch so wie einst, – ich hielt dir die Treue, ich hoffe, hoffe, hoffe! Nur mühsam bezwang sich Dombrowsky, das Ergebnis einer besonderen Bodenerforschung abzuwarten und es schriftlich in vorläufigen Notizen niederzulegen. Dann war er mit seinen seelischen Kräften, mit seiner Ruhe zu Ende. Was würde nun kommen? Was würde werden aus dem dunklen Chaos, das sich vor ihm breitete, aus dem leuchtende Punkte herausglühten? Was für eine Form würde es annehmen? Es schwankte vor ihm, glitt vorüber und hinterließ Öde und Leere; oder es entwuchsen ihm herrliche Bilder, deren Mittelpunkt stets Gertrud war. Überlegte er kühl und nüchtern, mußte er sich gestehen, daß er unendlich lange Zeit hindurch kaum irgend etwas Tieferes, Wirkliches aus dem Innenleben der geliebten Frau erfahren hatte. Waren sie doch damals nicht nur zum Schein, nicht um sich selbst zu belügen, voneinander geschieden. Beide hatten sie gefühlt, daß sie nicht die allerschwächste Brücke zueinander bauen dürften. Kaum einzelne, auf Rolands Wunsch dessen Briefen angefügte Zeilen ihrer Hand waren je zu ihm gedrungen. Er aber hatte ausschließlich an den Vetter geschrieben und höchstens zu Gertruds Geburtstag einige direkte Worte an sie gerichtet. So hatte ihm wirklich nichts geholfen, diese Liebe in so unveränderter Form zu bewahren, wie er es getan, als eine unverwüstliche Erinnerung. In jeder stillen, einsamen Stunde des Tages oder einer schlummerlosen Nacht gedachte er jener Mittagsstunde auf der Heide und meinte wieder den wilden Herzschlag zu verspüren, der ihm damals mehr wie alles andere gesagt, daß nicht nur Gertruds Seele ihm zu eigen sei, sondern auch ihr Fleisch und Blut und daß sie liebe, leide und kämpfe wie er. Felsenfest hatte sich in ihm der Glaube festgesetzt, daß keine Macht der Erde sie voneinander losreißen könne. So vermochte er nicht zu fassen, was ihm dieser Brief gebracht. Ein langer, langer, wortreicher Brief und doch so leer, so leer! Was, – was war geschehen? Warum hatte Gertrud nicht lieber ganz geschwiegen? Weshalb hatte sie ihm diesen kaltem Strahl wie eine absichtliche Ernüchterung versetzt? Er hatte ihn wirklich getroffen!

Detlev von Dombrowsky reiste zurück in die Heimat. Kein Wort hatte ihn angemeldet. Er trat unter das mächtige Tor seines Stammschlosses, ohne daß eines ihn erwartet und empfangen hätte. Aber es wurden ihm keine unangenehmen Überraschungen. Dromshoff war so gut imstande wie nur möglich, und der früher so jugendlich überschäumende Vetter, den widrige Verhältnisse fast auf Abwege getrieben hätten, weil er seinen Lieblingsberuf nicht hatte wählen können, war ein kraftstrotzender, blühender, aber gesetzter und ernst arbeitender Mann geworden, der seinem Posten gewissenhaft und geschickt vorstand. Zwei Tage nur blieb Detlev dort. Dann ging er nach Seedland. Er wollte Rolands Grab besuchen und all jene Stätten, die ihm lieb geworden waren dadurch, daß er sie einst mit Gertrud betreten. Ein fremder Mann wohnte im Souterrain und hielt mit seiner Frau das Haus im Stand. Tief ergriffen verweilte Detlev lange in jenem Raum, in dem Halliger seinen Todeskampf gekämpft. Jede Einzelheit ließ er sich vom Verwalter erzählen, der nach und nach Zutrauen zu dem so braun gebrannten aber vornehm aussehenden Herrn gefaßt hatte und sich auch erinnerte, dessen Photographieen im Zimmer des seligen gnädigen Herrn gesehen zu haben! Mit dem Finger wies er auf eine Stelle.

»Dort, – dort drüben haben Sie gestanden. Der Herr sieht jetzt freilich etwas anders aus, aber ich erkenne Sie doch wieder!«

»Wo sind die Bilder jetzt?« fragte Dombrowsky, und sein Herz klopfte ihm schneller.

»Ja, die hat eben die gnädige Frau mit vielen andern Erinnerungen und Andenken mit nach München genommen!«

Vor Detlev tauchte bereits sonniges Land auf. Schon vor dieser Kleinigkeit wollten seine Zweifel, seine Sorgen wieder fast zerstieben.

»Warum sind nebenan in der Bibliothek und auch hier im Studierzimmer meines Vetters so viele Bücher verstreut oder besonders geschichtet? Wer haust da und treibt hier sein Wesen?«

»Das ist der Herr Pastor, gnädiger Herr Baron! Die gnädige Frau bat ihn, wenn sie weg sei, die Bibliothek zu sichten, eine genaue Liste aufzustellen von dem Bestand und auch, soviel der Herr Pastor Lust habe, selbst darin zu studieren und zu lesen. Und der hat sehr große Lust dazu! Der ist ein Gelehrter und schreibt ganze Berge weißen Papiers voll. Das hat mir seine Haushälterin erzählt. Unser Pastor wäre ja sonst ganz recht. Nur ein bißchen zu vornehm für uns, – er ist ›von‹, von Mesting und eben, – keine Frau hat er! Wir meinen alle, er sollte, –«

»Na, was denn.«

Der Mann kam etwas in Verlegenheit, denn er hatte sich verplappert. Jetzt wollte er auch nicht hinterhältisch sein.

»Man klatscht eben so viel in so kleinen Orten, Herr Baron! Da glaubt man, – meint man eben, – Fräulein Grete vom Oberförster drüben, die da so was wie 'ne Baumeisterin werden will, die wäre, – wenn sie erst die Verrücktheit ließe, was doch auch gar nicht für ein Mädchen taugt, – ganz die richtige Frau für Pastor Mesting!«

»Ja, ist denn Fräulein Mannes überhaupt hier?«

»Na und ob! Schon lange Monate! Der Herr Oberförster ist ja so krank und da ist sie in ihr Gewissen gegangen und pflegt den alten Vater. Der Herr Pastor kommt so viel in die Försterei. Den mag der Herr Oberförster. Was hingegen der alte Herr Pastor gewesen sein soll, den hätte er gar nicht gemocht. Ich glaube, der neue spricht mit ihm eben weltliche Dinge und mit Fräulein Grete geht er spazieren. Man sieht sie oft zusammen.«

»So, so!«

Zerstreut sah Detlev um sich. Wie hier doch alles so beim alten geblieben war! Und da hatte Gertrud gelebt; nur für ihren kranken Mann und die Kinder!

Der sonst so schweigsame Hausmeister war wie umgewechselt. Er erzählte und erzählte. Seine Frau kam gar nicht recht zu Wort, und wollte sie was sagen, meinte der Baron immer, ihr Mann hätte ihm das schon berichtet. Darüber war sie ganz ärgerlich.

Wie mit Blumenkissen bedeckt lagen die Gräber des Professors und Willy Wedekamps. Die warme Herbstsonne löste aus vielen farbigen Kelchen einen wundervollen Geruch, der sich wie eine zarte Wolke der Luft mitteilte. Schwer atmete Detlev und fühlte sich schmerzlich bewegt; dann ging er hinüber ins Forsthaus. Dort neigte sich auch wieder ein Leben dem Ende! Grete, der man ihn angemeldet, stand, ihn erwartend, in der guten Stube.

»Gott sei Dank, Herr Baron, daß Sie heim kommen!«

So warm und impulsiv war der Gruß gewesen. So ganz die alte Grete! Man sah ihr zwar die harte Sorge und Pflegezeit an, aber die freudige Überraschung hatte ihr wieder so ganz das frühere blühende Wangenrot auf die feine Haut gezaubert, und die Gestalt, noch gewachsen, war so stramm und jugendfrisch wie einst. Bald nachdem Detlev bei dem Kranken eingetreten und ein paar Worte mit ihm gewechselt hatte, wobei der Oberförster ziemlich teilnahmlos geblieben war, schlummerte dieser ein, und das junge Mädchen konnte ruhig einige Zeit bei ihrem Besuch sitzen bleiben. Über das Aussehen des Leidenden war Dombrowsky sehr erschrocken. Er sprach es natürlich nicht aus.

»Hoffentlich werde ich noch viel und lange Gelegenheit haben, Ihnen von meinen Reisen, deren Inhalt, Erfolgen und Zweck erzählen zu können; jetzt berichten Sie mir lieber und lassen Sie mich fragen. Zuerst, – liebe Grete, – warum sagten Sie Gott sei Dank, wie Sie mich begrüßten?«

Sie fühlte seinen unruhigen, forschenden Blick. Aber was durfte sie darauf antworten? Eine rosige Welle übergoß ihr nun doch recht blasses Gesicht.

»Sie sind noch gerade so gründlich wie früher, Herr Baron! Auch so zähe! Das rutschte mir eben so heraus. Ich meinte damit, – nun ja, – daß es doch gut und schön sei, – wenn – wenn – Sie nicht mehr so herum karriolen in der weiten Welt und – und –«

Ihr schelmisches Lächeln, die Lippen dabei trotzig geschürzt, erinnerte so ganz an die Grete von damals.

»Grete, – sagen Sie doch, – liebste Grete, – werde ich, – wie ist denn nun alles bei – bei – meiner – Cousine?«

»Ich weiß ja so wenig! so blutwenig! Ich sitze hier im Wald und pflege den Vater, dessen Leiden so schwer sind. Ich kann und darf fast an nichts anderes denken; und was sagen auch Briefe? Gertrud schreibt mir ja wohl, – auch oft und viel – aber ich habe immer das Gefühl, als würde sie ganz anders zu mir sprechen. Sie wissen ja, sie ist allein. Die beiden Kinder sind weg, aber ich fürchte, Lise ist, obgleich sie der Mutter im Grund doch ganz nahe, weil ihr Institut in München selbst ist, – am weitesten von Gertrud entfernt. Diese ist einsam von Herzen! Das ist schlimmer als alles. Ich glaube, das Hanserl ist wirklich fast ihre einzige Freude!«

»Ja, der Verwalter erzählte mir diese Geschichte. Sie ist ganz bezeichnend für Gertrud Halliger!«

Unsere liebe Frau nennen sie ihre Freunde. Das wird nach und nach eine allgemeine Bezeichnung für sie. Ich begreife am besten, wenn man sie geradezu anbetet. Was ist und war sie mir nicht alles? Ich bin mit einem Architekten in Kopenhagen befreundet, der mit seiner Familie nach München zog; der erzählte mir viel von ihrem Tun und Treiben. Es ist wirklich, als wolle sie in Arbeit und Selbstaufopferung mit Gewalt vergessen! Das Hanserl ist das liebenswürdigste, heiterste Kind, das ich kenne, und ist Gertrud zum Segen geworden. Ich beneide sie fast um diesen Schatz. Ich möchte ihn am liebsten selbst besitzen!«

»So heiraten Sie doch, Grete!«

Sie kam gar nicht in Verlegenheit.

»Nein, dazu zieht mich nichts. Seit ich dort drüben, –« sie wies mit dem Zeigefinger nach der Richtung des Friedhofes – »einen schönen Jugendtraum begrub, hat sich in mir nichts mehr geregt für irgend einen Mann. Nicht etwa aus Prinzipienreiterei, künstlich unterdrückt, – sondern wirklich nicht geregt. Jetzt habe ich eine Zeit schweren Studiums hinter mir, eine Zeit ernstesten Strebens. Aber,« – Grete Mannes stand auf und reckte sich, – »ich bin doch auch etwas geworden! Keine eingetrocknete alte Jungfer! Nein, Gott sei Dank, daß ich mich dessen rühmen kann, – ein Mensch, ein rechter! Das Schwerste liegt jetzt hinter mir. Nun habe ich zunächst meinem Vater gegenüber ernste und tieftraurige Pflichten. So lange sein furchtbarer Kampf auch noch währen mag, – ich werde ihn nicht verlassen. Wer weiß, wann er endlich erlöst und drüben bei den andern Lieben gebettet sein darf?«

Der Baron nahm ihre Hand und drückte sie teilnahmsvoll. »Arme, tapfere Grete!«

»Nicht arm, aber hoffentlich nach Kräften tapfer! Hat mein Vater ausgelitten, dann gehe ich meinen Weg weiter. Denken Sie nur, ich will so kühn sein und mein im Ausland Gelerntes und Erworbenes bei uns in Deutschland zu verwenden suchen. Am liebsten möchte ich in München damit anfangen.«

»Nur zu! Sie kriegen es gewiß fertig! Gebe Ihnen das Schicksal leichte, frohe Fahrt!«

Er erhob sich.

»Wie? Sie wollen schon weg?«

»Ja, liebe Grete! Ich darf Ihnen hier nicht im Weg stehen und unnütz sein. Vielleicht reise ich noch heute, denn Seedland ist mir so schmerzlich!«

»O, ich begreife! Und Sie gehen direkt nach – nach München?«

»Ja!« Seine Augen flammten auf.

»Dann grüßen Sie mir unsere liebe Frau, Herr Baron! Bringen Sie ihr sozusagen einen Kranz von Rosen mit, und sagen Sie ihr, wie lieb die Gretel sie hat und wie sehr sie in Gedanken mit ihr lebt.«.

Das Dienstmädchen öffnete die Türe und ließ einen Besuch eintreten. Grete wandte sich dem Herrn zu: »Ah, Herr Pastor! Die Herren kennen sich nicht? – Pastor von Mesting – Baron Dombrowsky!«

Weder das junge Mädchen noch Mesting zeigten eine Spur von Verlegenheit. Deutlich fühlte Detlev, daß der Hausmeister und die andern falsche Schlußfolgerungen zogen.

»Ich wollte mir soeben das Vergnügen machen, Sie aufzusuchen, Herr Pastor! Dadurch, daß ich hier eine Art Heimatsrecht genieße, wäre mir das ein Bedürfnis gewesen!«

»Es wird mir eine große Ehre sein, Herr Baron! Wenn Sie das noch im Sinn haben, möchte ich, ohne unbescheiden sein zu wollen, Sie als nahen Verwandten einer von mir sehr verehrten Familie bitten, mein einfaches Mittagessen zu teilen. Ich wage das, weil die Essensstunde meine einzige freie Zeit bleiben wird. Ich muß nachher über Land. Wie ich im Herrenhaus hörte, reisen Herr Baron schon heute abend ab. So würde ich sonst gänzlich um die Freude und Ehre kommen, Ihre Bekanntschaft gründlicher machen zu dürfen, als es mir durch unsere flüchtige Begegnung bisher gegönnt ist!«

»Gern! Wann soll ich erscheinen?«

»Darf ich Herrn Baron um ein Uhr erwarten?«

Dieser verneigte sich:

»Pünktlich zur Stelle! Einstweilen empfehle ich mich den Herrschaften!« Und mit einer Verbeugung gegen den Pastor: »Ich habe die Ehre!« Dann nahm er die beiden Hände Gretes und küßte sie alle zwei: »Behalten Sie Mut und Kraft, die Ihnen ja so reich zuteil geworden. Sie können sie gebrauchen! Ich werde alles in München bestellen. Nochmals: Leben Sie wohl!«

Des jungen Mädchens Augen füllten sich mit Tränen. Die vielen Nachtwachen hatten ihre Nerven doch recht heruntergebracht.

»Wie ein Hauch aus einer anderen Welt war ja Ihr Besuch! Ich erhoffe mir für Sie so Vieles und Reiches von der Zukunft, Herr Baron!«

Unter der Türe stehend winkte sie noch mit der Hand:

»Adieu! Adieu! Glückliche Reise und kommen Sie bald wieder nach Seedland. Aber dann länger als heute!«

Stumm wohnte Pastor Mesting diesem Abschiednehmen bei. Als Grete rasch zum Vater, der halblaut gerufen hatte, hinübergelaufen war, stand der Pfarrer noch immer und sah der kraftvollen, schlanken Gestalt des Barons nach, der in der Waldlichtung verschwand und dessen Füße von goldenen und roten Blättern umspielt wurden. Des frohen farbigen Herbstes Sonne überschüttete den eilig Schreitenden mit ihrem reichsten Gold. Einen forschenden Blick sandte Mesting darauf zum Spiegel. Ja, es war schon so: Jener Mann und er selbst ähnelten sich! Beide dunkel, groß, kräftig, schlank, – beide einem edlen Stamm entsprossen. Als schritte dort drüben mit dem Fremden sein eigenes Schicksal durch den Wald, so war ihm zumute. So, als wäre nun plötzlich durch jenen eine Wende des Lebens für ihn selbst gekommen. Durch einen Fremden, ihm so sympathisch und doch ersichtlich als Gegner ihm auf den Plan gestellt. –

Ein blendend weißes Damasttuch lag auf dem mit allerlei altem Silber geschmückten und bedeckten Tisch. Das Essen, für das Mesting unmöglich noch Änderungen und Aufbesserungen hatte treffen können, war reichlich und nicht nur schmackhaft, sondern mit einem gewissen Raffinement zubereitet. Eine alte, graugekleidete Frau, mit spitzenbesetzter Leinwandschürze und weißer Haube, von der lange, gestärkte Enden herabfielen, die Finger in Zwirnhandschuhen geborgen, servierte. Jede, auch die kleinste Gewohnheit ihres Herrn schien sie zu kennen, und die Umstände, die gemacht wurden, galten jedenfalls keineswegs dem Gast; man konnte leicht merken, daß alles nach täglichem Usus verlief. Bereitwillig erzählte Detlev von seinen Reisen, von seinem früheren Leben, obgleich der Pastor nicht viel von dem seinigen berichtete. Als dieser von der kurzen und traurigen Zeit sprach, die er noch mit Frau Halliger hier in Seedland verlebt hatte, richtete er forschende Blicke auf den Gast, der jedoch ruhig und gelassen blieb; und dennoch traf den Baron etwas bei diesen Worten. Wie interessant, modern und höchst weltlich, wie auffallend hübsch auch der Pastor war! Ein Mann so recht für Frauen! Einer, der sich ohne Mühe in alle weiblichen Herzen schleichen konnte. Gebildet weit über das Mittelmaß, vielleicht auch ein heimlicher Literat, ein gewandter Weltmann! Dombrowsky konnte sich nicht vorstellen, wie Mesting hierher auf das Land gekommen war und die Welt da draußen hatte dran geben können; allein fragen mochte er nicht. Beinahe hätte er gar nichts gehört von des Pastors Auslassungen über Chamberlains Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts, so war er seinen Gedanken verfallen. Gertrud! Ob dieser Mann am Ende einen Raum in ihrem Leben hatte einnehmen können? Einem Leben, das einst ihm zu gehören schien? Ob, – ob – aber nein, nein, tausendmal nein! Das ist ja alles Unsinn! Gertrud ist so anders, und die heilige Liebe zu ihrem verstorbenen Mann, die eigentlich mehr höchste Freundschaft war, hatte sie so völlig ausgefüllt. Zum zweiten Mal hätte diese Frau keine heiße Mittagsstunde auf der Heide erlebt. Aber so lange Jahre! Und jener kalte Brief!

Detlev bezwang sich eisern. Ein paar Gläser Sekt frischten ihn auch auf; er vergaß dann völlig, einem Pastor gegenüber zu sitzen; es war wirklich so, als befände er sich in einem behaglichen Klub. So schnell verging die Zeit, daß beide überrascht waren, wie es vier Uhr schlug und die alte Frau ihrem Herrn Hut und Stock brachte als Mahnung. Die zwei Männer schieden wie Freunde, und doch fühlte jeder unbestimmt des anderen latente Gegnerschaft. – –

Aber nur fort jetzt, – nur endlich zu ihr! –

So fand sich Detlev Dombrowsky vor der verschlossenen Wohnung Gertruds, im Hubmairschen Haus der Steinsdorfstraße. Er hatte sich so hineingedacht, daß die Geliebte unbedingt zu ihrer gewöhnlichen Teestunde zu Haus sein müsse, daß er sich namenlos deprimiert fühlte, sie nicht daheim zu finden. Eine Art Zorn geradezu empfand er; dann mußte er sich freilich sagen, wie ungerecht und töricht das war. Als ob sie sein Kommen hätte ahnen können! Und war es auch wirklich recht, daß er sie so überfallen wollte?

Auf sein Klingeln hatte ihm niemand geöffnet. Wie ein Bettler, dem man den Eintritt versagt, mußte er stehen; aber mit Zärtlichkeit umfingen seine Blicke dann das Stückchen Flur vor der Türe, das blanke Messingschild, das des verstorbenen Vetters Namen trug, und den glänzenden Briefkasten an der Wand. Täglich sahen das ihre Augen, berührten es ihre Hände! Plötzlich war es ihm, als müsse er die Steinstufen, auf denen der rotgraue Läufer lag, küssen, weil sie ihr Fuß betreten hatte. Eine tiefe, eine unendliche Sehnsucht überkam ihn so mächtig, daß ihn wirklich eine leichte, körperliche Schwäche bedrohte. Wo mochte sie sein? Alles so still, – kein Laut drang aus der Wohnung! Von oben hörte man Kinderstimmen. Singen, Schelten und das Rollen irgend eines Spielzeugs. Aber hier! Alles tot und still! Wo mochte Kathl sich aufhalten und das Hanserl? Was nun beginnen? Wie könnte er die Wartezeit verbringen? Ah, – Onkel Toni! Ja, zu Buchlehner wollte er. Nur nicht etwa in irgend ein Caféhaus, – unter fremde Menschen!

In der Königinstraße war es genau wie früher, als Detlev zuletzt in München gewesen. Vor dem Haus, in dem Gertrud geboren worden und das er schon vor Jahren aufgesucht, blieb er stehen und blickte in den Vorgarten hinein. Aber, – als jetziges Besitztum ganz fremder Leute sagte ihm das alles nichts und steigerte doch zugleich seine Sehnsucht. –

Der Professor wollte gerade aus seiner Haustür treten.

»Mi trifft der Schlag! Ja, was is denn dös, Herr Baron?«

»Ja, da bin ich endlich wieder! Ich habe es nicht mehr länger ausgehalten, Onkel Toni!«

Ergriffen hielt der alte Mann den Jüngeren umschlungen. Das ›Onkel Toni‹ – sprach für ihn Bücher. Einige Wochen nur war er in London vor Jahren mit dem Baron zusammengewesen, nachdem dieser soeben Seedland verlassen hatte. Die beiden aber waren sich so nahe gekommen, als hätten sie lange Jahre miteinander verlebt. Die Augen des greisen und doch so jugendlichen Künstlers sahen noch gleich scharf wie einst.

»Aber des is ja a Fest, daß S' nur grad wieder da sind! Gott sei Dank!«

Abermals ein Gott sei Dank! Dombrowsky trat ungestüm durch die Tür des Ateliers ein und ging dann aufgeregt hin und her. Buchlehner, der Überzieher, Hut und Stock wieder weggelegt hatte, nahm eine dickbauchige Flasche aus dem Schrank und zwei alte, schöne Gläser.

»So, – dort, – bitt schön setzen, – der schäbige Stuhl da, das ist der, in dem das kleine Trauderl früher so oft g'sessen ist. Aber jetzt kommt's auch wieder manchmal! Das ist mir halt meine letzte Lebensfreud g'worden. Gestern war's erst wieder da, und da hab ich's noch fragen wollen nach Ihnen, – nein, – komm her, du Lieber! Geh, – laß mir den Onkel Toni, den d' mir vorhin so lieb g'schenkt hast! Ich kann das g'spreizte Sie zwischen uns nimmer haben! Ja also, – fragen hab ich s' wollen nach dir, – aber sie hat gleich den Kopf g'schüttelt, als ob s' halt schon rein gar nichts wüßt!«

»Nein, sie weiß nichts, gar nichts!«

»Das muß jetzt schon anders werden – wird ja auch. Du, Detlev, i glaub, i werd doch jetzt ein alter Tattel. Weißt, ich gab oft so dumme Gedanken!«

Aber er sagte dann doch nicht, was er zuerst ausdrücken wollte.

»Nein, Onkel Toni, – du kannst nur gute, – treue und kluge Gedanken haben!«

Ganz zusammengeduckt schaute Buchlehner dem jungen Freund anhaltend mit seinen scharfen Augen ins Gesicht. Dann sprang er plötzlich, als fasse er einen jähen Entschluß, auf und sagte:

»Weißt was, Detlev? Jetzt gehen wir naus auf d' Wiesen! Der Carlo und der Ludl, die zwei alten Kindsköpf, – aber sie sind ihrer Schwester von Herzen gut, – die haben s' mit nausgezaggert nebst einer ganzen Gesellschaft. Beim Schottenhammel sitzen s'! No, die werden die Guckerln aufreißen, b'sonders Trauderl!«

›Wie kann er nur, – der sonst so Feinfühlige, stets Begreifende,‹ dachte der Baron.

›Besser so, – besser,‹ – überlegte aber innerlich Buchlehner; »da is was, in dem i mi net recht aus kenn. Dös muß i heut noch erfahren und auf die Weis' bring i's vielleicht raus!‹

»Ja, gewiß, Onkel Toni, wie du willst!« –

Arm in Arm gingen sie.

»Nun, und was macht die Kunst, Onkel Toni?«

»O, weißt, 's geht schon noch, – schon noch damit!«

Jetzt, auf der Straße, war es fast, als befänden sich beide mit ihren Gedanken weit, weit weg.

»Was hältst du denn überhaupt von der Münchener Kunst? Man greift sie doch recht an!«

Der Baron sagte es fast mechanisch; er fühlte eben, daß er etwas sprechen müsse. Aber in seinem Kopf ging es wie ein Rad: ich soll sie sehen, – bald, – gleich, – unter Wildfremden, bei anderen –

Buchlehner wurde nun lebhafter.

»Ach was! Dummheiten! Kerng'sund ist unsere heimatliche Kunst im Grund und sehr lebens- und entwicklungsfähig dazu. Ich war viel und lang wieder im letzten Frühjahr sowohl wie im Herbst in unseren modernen Ausstellungen. Jessas! Kerng'sund sind wir, das bin ich mir wieder recht bewußt worden, wie ich zum Beispiel im sogenannten Himbeersaal g'wesen bin. Weißt, man sagt so, weil er eine Tapete hat von so damischer Farb'. Schau: eine ganze G'sellschaft von holländischen Manieristen, Symbolisten, Pointillisten und Nebulisten war dort vertreten. Mir ist über all die Isten wirkst beinah schlecht worden. I bin bald wieder g'gangen, rein nur damit i mir net völlig den ersten Eindruck von den Unsrigen verderben hätt' lassen. Ich alter Kerl kann die Jungen doch noch würdigen und verstehen. I lern auch mein Sach davon. Aber lang brauch i das nimmer. Weißt, i steck's Malen auf, so bald mein großes Bild ›der letzte Gang‹ fertig ist. Dann zeichen und radier ich noch ein bisserl, halt so zum Vergnügen!«

In der Ludwigstraße nahmen sie eine Droschke, um die überfüllten, elektrischen Wagen zu meiden. Lind und sommerlich umfächelte sie die Luft. –

»D' Wiesen!« Ohrenzerreißend das Gedudel und Geschrei, fürchterlich das Gewimmel und Gewühle. Kaum gelang es den beiden durchzudringen und bis zum Schottenhammel zu kommen. Endlich hatten sie doch ihr Ziel erreicht. »Da komm her, Detlev! Da steht sowas wie ein Podium. Von da aus wollen wir ein bisserl rekognoszieren. Horch einmal, im Moment ist d' Musik gar net so übel!«

»Es liegt eine Krone im tiefen Rhein –«

Detlev schlug das Herz wie noch nie im Leben, auch wenn er der größten Gefahr ins Gesicht geblickt hatte. Hell flammte soeben eine neue elektrische Kugel auf. Beide Männer starrten geblendet in die wogende, schwarze Masse, aus der das wilde Gelärme kam. Jäh zuckte Detlev zusammen. Dort drüben! Sekundenlang eine Vision! Ein Antlitz mit großen Kinderaugen – ein Traum!

»Ich, – ich, – kann nicht so, – nicht jetzt!« –

Waren es Worte gewesen oder ein Stöhnen? Verblüfft wendet sich Buchlehner dem Freund zu. Aber seine suchenden Augen können nur mehr dicht neben sich in dem ungeheuren Gedränge eine Bewegung erkennen.

Vor dem lustig bevölkerten Tisch, vor all denen, die da lachen und guter Dinge sind, vor Gertrud Halliger, die wie gebannt ins Weite starrt, steht nun einer! Aber nur einer!

»Traudl!«

»Onkel – – Toni, – –« wie erstarrt lastet sie dann auf dem Rücken des stumm und rastlos weiter trinkenden alten Mannes, der hinter ihr sitzt und der nur gutmütig meint:

»Aha, dö hat's! Macht nixen! Werd scho wieder! Jawohl, 's is halt guat unser Bier! Mir sein ja a nur oanmal im Jahr heraus auf der Wiesen!«

Die ganze Gesellschaft ist im Augenblick vollkommen in Anspruch genommen durch die Jongleurkünste des Studenten; nur Carlo bemerkt das sichtliche Übelbefinden der Schwester. Sanft streicht Buchlehner das Haar aus der Stirne der halb Ohnmächtigen.

»Also so ist's, – so steht's –!«


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