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Vierunddreißigstes Kapitel.

Ein sinnverwirrendes Bacchanal! Durch den bläulichen Nebel des Zigarren- und Zigarettenrauches schimmern die roten Fräcke und kreidigen Westen der Musikanten, die größtenteils nur mehr mechanisch, müde zum Umfallen, viele mit halbgeschlossenen Lidern, weiter fideln und flöten. Die Kellner in ihren weißen Jacken und Schürzen machen die besten Geschäfte. Sie schreiben auf und schreiben auf und meistens wird auch wirklich überzahlt ohne lautes Widerstreben. Bei der Française geht es wild her. Viele Herren, die Zylinder schief auf den Köpfen, tanzen mit ihren Partnerinnen eine Art Cancan. Andere machen mit den Damen, deren Oberkörper nicht selten nur mit einem sehr mangelhaften Leibchen, fast mehr einem breiten Gürtel ähnlich, mit Achselträgern aus Ketten oder Band, bedeckt sind, einen kunstvollen Dreher. Verschlingungen und Umarmungen, unter welchen sich die heißen Körper so enge zusammenpressen, als wollten sie sich gar nicht mehr lösen, machen auf den nüchternen Beschauer den Eindruck von förmlichen Krampfzuständen. Ein Geheul, demjenigen ähnlich, das wilde Völker bei ihren Kriegstänzen auszustoßen pflegen, schließt jede Tour. So voll es im Tanzsaal auch ist, dennoch ist der Wintergarten mit dem plätschernden Springbrünnchen und den gedämpft farbigen Lämpchen noch fast so gefüllt wie vorher. Flüsternd, kosend – manche im Streit einer Eifersuchtsszene – sitzen die Paare beieinander, so dicht als möglich geschmiegt. Hier wird geküßt, gestreichelt und betastet, als wären sie zu zweien für sich im verschwiegenen Kämmerlein, und Amor wandelt ohne Lendentüchlein und ohne die Hand vor die Augen zu halten, durch die üppigen Säle voll erlogener Pracht, leichtsinniger Verschwendung und lüsterner Begierde. Wer aber abgehärtet genug ist, um nicht dem Ekel zu unterliegen, dessen Augen finden auch manchen Genuß. Ein wundervolles, farbenfrohes Gewimmel, ein lockendes Leuchten und Blenden!

Immer wieder tönt aufs neue das Knallen der Champagnerpfropfen aus einer der Parterrelogen, die von einem bestimmten Kreis für die Faschingszeit gemietet ist. Wie die sämtlichen Plätze des Wintergartens, so sind auch diese ein für alle Male in festen Händen. Gewöhnlich trinkt man hier eine mindere deutsche Sektmarke, reichlich teuer dazu für das, was sie vorstellt. An diesen letzten Redoutenabenden aber hat sie echtem Heidsieck Monopol weichen müssen. Die Trovata hatte so lange gespottet, sich geweigert am Trinken teilzunehmen und endlich keck und verächtlich ein volles Glas umgestoßen, bis keiner mehr das ungenießbare Zeug zu bestellen wagte, um ja nur die Interessante nicht zu verscheuchen. Donnerwetter! Einfach ein Bombenweib! Heute am Faschingsmontag, – der letzte Ball-Paré, – ist sogar Carlo mitgekommen. Nein, Ludl hatte wirklich recht mit seinem Lobgesang. Das ist tatsächlich kein alltägliches Redoutenfutter, sondern schon etwas ganz Pikes. Auch ein bissel empfindlich noch, also keineswegs schon abgebrüht. Eben hatte der Kellner an der zum Gang führenden Logentüre einen mit einer grasgrünen, glitzernden Schuppentoilette geschmückten Domino fest gepackt und ihn, der ihm wie ein Sack im Arm gelegen, mehr weggeschleift als getragen. Dazu hatte er geäußert: »Bitt' schön, grad ein Momenterl aus dem Weg gehen, die is halt fast auf jeder Redout voll.« Die prächtige Gestalt der Trovata hatte sich so dicht als möglich an die Wand gepreßt; Carlo hatte deutlich bemerken können, wie Schauer des Ekels diese herrlichen Glieder unter dem engen Gewand überliefen. – Aus und ein geht's in der Loge, wo der Sekt in Strömen fließt und in der die Unbekannte als erklärte Königin herrscht. Mindestens ein Dutzend Hände strecken sich ihr später entgegen, um sie in ihre Überkleider zu hüllen, bevor sie in corpore zu Weiß- und Bratwürsten ins Pschorr geschleppt werden soll. Nichts vermag aber auch dann sie zu bestimmen, die Maske abzulegen. Keiner ist auch so unritterlich, ihren Wunsch nicht zu achten. Fast mit kindlicher Freude bewundert sie den originellen Raum, jedes Stück der Einrichtung, steigt neugierig auf Tisch und Stühle, um die Wanddekorationen zu studieren und läßt sich, – wegen des mundverhüllenden Florschleiers unter großen Schwierigkeiten, – von beiden Seiten mit Wurststückchen füttern, gleich einem Baby. Gedrängt voll ist's heute. Eben schlägt es fünf Uhr, und schon beginnt auf den Straßen das erste Leben des kommenden Tags. Trotzdem erscheinen immer noch neue Gäste mit ihren Damen. Der letzte ist Baron Gschwandner. Er ist der einzige, auf den nicht sofort, nachdem sein Auge den Qualm der Zigarren und Zigaretten durchdrungen hat, der fesche Domino mit dem maskierten Gesicht Eindruck macht.

»No, Gschwandner, ist dir was übers Leberl krochen?«

»No, Herr Baron, Sie sehen ja ganz verstört aus, was ist denn los?«

»Aber, Sie haben ja ein G'schau wie der Teufel, dem grad eine fette arme Seel aus kommen is!«

Schwer läßt sich der Baron nieder; er ist zwar ein wenig angetrunken, aber noch klar bei Sinnen. Allein völlig nüchtern hätte er vielleicht doch nicht durch das Überbringen seiner Nachricht die allgemeine gute Stimmung gestört.

»Denkt euch nur,« er wendet sich an den ihm zunächst stehenden Degenhardt und sogleich umringt ihn ein Kreis Neugieriger, »denkt nur, – es ist ganz schrecklich, aber sicher wahr: der Kunz Manzinger soll in seiner Wohnung einen Selbstmordversuch gemacht haben! Kein Mensch weiß warum!«

Ein mächtiger Dämpfer hat sich auf die Ausstrahlung der allgemeinen fröhlichen Faschingsstimmung gelegt. In die jäh eingetretene Stille hinein klingt die Stimme der Trovata dann beinahe rauh:

»Wie kalt ist's hier, – mich fröstelt!«

Sie steht auf, geht im hinteren Teil des Raumes auf und ab und winkt einen blutjungen Menschen zu sich, der sie bereits seit Stunden wie hypnotisiert anstarrt und kaum mehr von ihrer Seite geht.

»Wenn Sie mir unauffällig eine Droschke besorgen und mir Gelegenheit verschaffen, unbemerkt hinauszugelangen, können Sie mich morgen am Odeonsplatz um zwölf Uhr vormittag antreffen. Ich werde einen grauen Pelzhut mit Veilchen tragen. Wollen Sie?«

Etwas mißtrauisch frägt er vorsichtig zurück: »Und Sie kommen bestimmt?«

»Das Wort der Trovata!«

Sie kann nicht hindern, daß ein paar heißer, noch knabenhaft weicher Lippen ihre Schultern in leidenschaftlichem Kuß berühren, dann ist der junge Bursche fort. Sie selbst nimmt wieder Platz; nicht lange aber, so erscheint er schon wieder und ruft in gut gespielter, lachender Heiterkeit den feschen Domino zu sich, der bis jetzt fest eingekeilt zwischen Baron Gschwandner und Ludwig Degenhardt gesessen, unausgesetzt betastet und geschmeichelt von deren Händen, die sie immer wieder zurückwies. Wenn sich auch jeder bemüht, noch ein Weilchen die Stimmung zu behalten, so gelingt das nach der Nachricht über Manzinger doch nicht mehr recht. Während der Baron und der Künstler schon wieder eifrig über die erschreckende Nachricht zusammen tuscheln, kann sich Trovata befreien und dem harmlos scheinenden Ruf ihres Helfers Folge leisten. Einen Augenblick kichert sie noch mit ihm und sucht sich unbefangen über einige Karikaturen an der Wand zu orientieren, ist aber dann plötzlich verschwunden. Der Kutscher empfängt an der Straßenecke von seinem Fahrgast eine zweite, ganz andere Adresse als vorher, da der Herr seiner Dame, dabei sehr scharf aufhorchend, ritterlich in den Wagen geholfen.

Wie die wackelnde, etwas irrfahrende Droschke durch die ganz still daliegende Barerstraße rasselt, beugt sich Trovata an der Ecke des Hauses, in dem Manzinger wohnt, aus dem Fenster. Nur als mattweißer Fleck blinkt ihr, der Maske nun entledigtes, heißes, feuchtes Gesicht durch die Dämmerung. Im Erdgeschoß, hinter einem bläulichen Rouleau, sieht sie schwachen Lichtschein und glaubt auch flüchtig einen weiblichen Schatten zu erkennen. Windverwehte Tropfen zwischen fetzigen Schneeflocken treffen scharf wie feine, eiserne Spitzen den weißen Hals der Dame, die des Wetters und der Kälte nicht achtend, mit halbherabgerutschtem Mantel gleich darauf vor einem unscheinbaren Hause der Augustenstraße steht und ihrem zierlichen Beutelchen das Fahrgeld entnimmt. Der Kutscher, der inzwischen mit seinen plumpen Füßen auf der schimmernden Schleppe herumtrampelt, drückt dieser Riesenspuren des glitschrigen Straßenkotes auf. – – –

*

Der liebeglühende Jüngling hat auf dem Odeonsplatz umsonst auf eine junonisch gewachsene Dame mit grauem, veilchengeschmücktem Pelzhut gewartet. Tief enttäuscht trottelt er endlich nach Haus, um seinen übereleganten Anzug und die drückenden, spitzen Stiefel mit einer bequemeren und für das Treiben des nachmittäglichen Faschingsdienstags passenderen Toilette zu vertauschen. Der Hauch eines ihn nur allzu erregenden Duftes weht ihm in seinem Zimmer entgegen. Er entströmt einem Billet. Der junge Mensch reißt es auf. In schräger, großer Schrift nur wenige Zeilen:

»Total verschlafen, – tut mir riesig leid, – muß soeben abreisen. Gruß Trovata.«

Weinen hätte er können! – – –

Ludwig Degenhardt erhält mit gleicher Post auch ein Briefchen. In einer ihm völlig fremden, sehr modernen Handschrift, bestellte darin die Trovata die beiden Brüder Punkt dreieinhalb Uhr – es sei ja eben so schönes Wetter – auf den Zentralbahnhof. Sie wolle den Nachmittag im Freien zubringen, am Abend indessen mit den zwei Berühmtheiten allerlei Lokale, wo's lustig und originell hergehe, abklappern. Auch wieder: grauer Pelzhut mit Veilchen.

Eine Stunde lang machen die Brüder den Bahnhof unsicher, bis sie endlich eingesehen haben, daß sie aufgesessen sind. Dann pilgern sie stillschweigend nach der Steinsdorfstraße in der Hoffnung, dort wenigstens die lustige Grete zu treffen.

Inzwischen erregt die Erscheinung der Geheimnisvollen die größte Aufmerksamkeit der männlichen wie weiblichen Gäste des Café Luitpold. Noch ist es früh und das Lokal nicht überfüllt. Ein vorzüglich gearbeitetes, seidenraschelndes Kleid aus perlgrauem Tuch sitzt prall an dem königlichen Leib der Dame. Der Ausschnitt des Kostüms wie die Arme sind durch ein lose fallendes, kurzes, weißes Spitzenjäckchen bedeckt. Doppelt reizvoll lugt darunter die Haut hervor. Auf dem roten Haar ruht ein mächtiger, grauer Filz, von dem schneeige Straußenfedern herabnicken. Vor dem Gesicht aber liegt die schwarze Sammetmaske, heute durch einen weißen Schleier verlängert. Neidisch verhüllt sie gerade das, was jeder und jede just am meisten zu sehen begehrt. Ruhig und gelassen gleitet Trovata geradezu majestätisch, fast einem mächtigen Schwan gleich, durch den noch fast leeren Mittelgang, der später die Stätte des allertollsten Treibens werden soll, und kehrt wieder zurück. Durch die entstellenden Schlitze der Larve funkeln die Augen der Schönen und lugen nach einem völlig unbesetzten Tisch aus.

Wie aber ihre Blicke auf einen eleganten Herrn fallen, der in seinem, vom besten Schneider stammenden, bis zum Hals zugeknöpften schwarzen Rock vortrefflich aussieht, entschließt sie sich doch anders. Wegen seiner prägnanten Züge, besonders um Nase und Mund, wird er von ihr für einen Schauspieler gehalten. Ein leichtes Rot der Verlegenheit steigt in des Fremden hohe, kluge Stirne und läßt die maskierte Dame ahnen, daß er wohl bald die Flucht ergreifen würde. Mit gewinnendster Liebenswürdigkeit und gewähltester Sprache bittet sie ihn an seinem Tisch Platz nehmen zu dürfen. Er bejaht höflich und befindet sich zu seinem eigenen Erstaunen bald darauf in einem anregenden Gespräch mit ihr. Es ist nicht karnevalistisch genug, um so recht zu dem Lokal, das die Dame so ungeniert besucht, zu passen, läßt aber auch auf nichts anderes schließen als auf die Tatsache, daß sich hier unbedingt ein weibliches Mitglied der allerersten Gesellschaft bewege, das sich vielleicht einen Maskenscherz erlaubt. Entsetzt darüber, wie weit der Zeiger der Uhr inzwischen schon gerückt, und auch zunehmend unangenehm berührt durch die anwachsende, laute Tollheit drollig kostümierter Gestalten, springt Horst von Mesting auf. Nun wird es ihm doch wirklich unheimlich hier, und er getraut sich nicht länger dazubleiben; und doch, wie gern hätte er es getan, obwohl ihm einesteils diese Art der Unterhaltung doch nur ein Notbehelf bedeutet, um die Stunden hinzubringen, in denen er nicht mit Frau Halliger zusammen sein kann, die nach Aussage Kathls plötzlich hat verreisen müssen.

»O, wie furchtbar schade, daß Sie gehen,« klagt schmollend die Trovata, die ihm gegenüber das allgemein übliche karnevalistische Du seltsamerweise nicht in Anwendung bringen will. Ihr ist plötzlich alle Laune, alle Abenteuerlust und Faschingsstimmung vergangen. Sie fühlt, – mit dem Augenblick, da dieser Fremde das Lokal verlassen hat, wird sich ihr das blödsinnige Treiben auf die Nerven legen.

»Ich muß wirklich gehen, liebenswürdige Unbekannte!«

»So kennen Sie also keine Pflichten gegen schöne Frauen? Oder doch, und Sie erfüllen damit gewissenhaft ältere, früher übernommene und gehen gerade deshalb?«

»Was fragen Sie darnach, verehrte –«

»Ich heiße Trovata,« fällt sie schnell ein.

»Oh, ein reizvoller Name!«

Allein seine Gedanken weilen jetzt bereits so ausschließlich bei Gertrud, daß er ganz zerstreut und kühl wird. Die Dame aber wird dadurch nur noch erregter. Gewiß ist sie gewöhnt, alle ihre Wünsche sofort erfüllt zu sehen. Sein ganzes Aussehen und Benehmen machen ihr sichtlich einen tiefen Eindruck.

»Bitte, bitte, sagen Sie mir, wer Sie sind und wo Sie leben, denn Sie sind ohne Zweifel hier fremd!«

Sie spricht hastig, und ihre Stimme klingt leidenschaftlich. Rasch blickt er sich in dem Gedränge, das ihn dicht gegen die wirklich hübsche Frau preßt, um, ob jemand ihrer sonderlich achte; aber in der staub- und raucherfüllten Luft wogt nur ein buntes, wirres Chaos ruhelos auf und ab, und die seltsamsten Laute ringen sich daraus los. Nun verbeugt sich Mesting galant vor seiner Gefährtin und nimmt ihre Hand; er küßt sie aber nicht etwa, sondern bringt seine Lippen nur dicht an ihre Fingerspitzen:

»Erlaube mich vorzustellen: ich heiße Trovato und wohne in Wolkenkuckucksheim, Nebelgasse Nummer zehntausend. Ich danke Ihnen, meine schönste Dame Trovata, gar sehr für diese reizende Stunde!« –

Sie steht allein und seufzt tief auf; dann macht sie eine rasche Schulterbewegung, schüttelt heftig den Kopf, als wolle sie etwas von sich abwerfen, wendet sich dann mit ein paar Schritten einer Gesellschaft von Herren zu – ohne Zweifel Offiziere in Zivil – und lacht und tollt, daß sie alsbald jeden in den Strudel ihrer Laune mit fort reißt.

Eine Stunde vor Mitternacht, als Prinz Karneval bereits in den letzten Zügen liegt, sucht Ludwig Degenhardt nach einem öden Privat-Maskenball beim Minister, der ihm den Faschingschluß gründlich verpfuscht hatte, im Luitpold doch noch ein bisserl Betrieb zu kosten. Plötzlich gewahrt er einen rothaarigen Kopf, eine königliche Gestalt neben einem älteren Herrn. Er will nach und versucht sich durch die Menge zu arbeiten.

»Bitte, nicht gar so treten und drängen, mein Herr!«

»No, Degenhardt, ist dir eine durchgangen, weilst gar so wütig bist?«

Verschwunden! Dahin! Unter dem Schellengeklingel all der Narren haben diese buntschillernden, oft so unsauberen und doch so verführerischen Wellen nun auch sie davon getragen! An welches Ufer werden sie die Trovata spülen?


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