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Dreiundzwanzigstes Kapitel.

Das junge Mädchen ist keine der hungrigen, vergeblich nach unerreichbaren und allzu hoch gesteckten Zielen jagenden Künstlerinnen mehr, wie sie massenhaft fast in jeder Kunststadt, besonders in München, leben. Es fühlt sich jetzt, – freilich war das nicht immer so, – ohne jeglichen übertriebenen Ehrgeiz durchaus nicht als weiblicher Ikarus. Wenn Ottilie ihre Flügel ausspannt, so denkt sie an einen bescheidenen Taubenflug, und es kommt ihr nicht in den Sinn zur Sonne streben zu wollen. Ihr Vater war ein subalterner Beamter zu Hof in Bayern gewesen. Nach dem frühen Tode der Eltern wurde Ottilie als Zwölfjährige von einer Cousine mütterlicherseits aufgenommen, die mit ihrem Mann, einem Notar, selbst vier Kinder zu erziehen hatte. Die Waise, – nicht ganz mittellos, – zahlte ihr Kostgeld, und so konnte man sie schon behalten. Lange Zeit war niemand recht böse zu dem Kind, aber auch niemand recht gut. Eines Tages jedoch befand es sich im Besitz eines bewundernden, aufrichtigen Freundes. Das war der Zeichenlehrer Hammerl. Ein verkommenes Genie, wie er sich selbst schmerzlich ironisierend nannte. Stets war er angetan mit ausgefransten Hosen, schief getretenen Schuhen, einem schmutzigen Papierkragen auf einem Wollhemd, einer flatternden, sehr bunten Krawatte und einem Kalabreser auf den langen, aber kärglichen Resten ehemals üppigen Haarwuchses. Zum Überfluß hieß das kleine, magere Männchen, das so ganz und gar nichts von einem Eroberer an sich hatte, auch noch Alexander. Zu den süßesten Träumen seiner kurzen Nächte, – er malte in seiner freien Zeit für halb Hof und Umgebung Ladenschilder und schöne Briefbogen, – gehörte: nicht Hammerl zu heißen, sondern irgend einen herrlichen Vaternamen zu besitzen, der des stolz klingenden Alexander würdig wäre. Aber: Träume sind Schäume, und er blieb eben Alexander Hammerl, Zeichenlehrer an der Töchterschule zu Hof. Wenn während seiner Stunde sämtliche Schülerinnen unartiger wie irgend sonst waren, Radiergummi, Brotkugeln, Papier und Bleistiftreste nur so durch die Lust flogen und es geradezu zu hellem Johlen und Kreischen kam, während Herr Hammerl in gänzlicher Hilflosigkeit, oft fast tränenden Auges, an der Wand stand, arbeitete Ottilie fleißig und ruhig mit hingebendem Interesse weiter. Gar zu gern gab er sich mit ihr ab und hatte seine Herzensfreude an diesem schönen Talent. Wenn das große, sehr entwickelte Mädchen vor ihm stand, sah er mit Bewunderung zu ihm auf. Freilich wußte er, daß er nicht merken lassen durfte, was er fühlte. Deutlich empfand er nämlich, daß die jugendliche Schülerin ihm eigentlich schon jetzt überlegen war, und daß er niemals auch nur annähernd ihre Begabung besessen. Außerdem flößte ihm Ottiliens immer pompöser werdende Gestalt und ihre Körperkraft eine unendliche Hochachtung ein. Dieses Mädchen besaß, was ihm stets versagt geblieben war! Eines Morgens, als der Spektakel in der Zeichenstunde aufs höchste gestiegen und er am Rand seiner Hilflosigkeit angekommen war, sprang die Burkstaller plötzlich auf, packte die Frechste und zugleich die Rädelsführerin, – auch schon ein ganz großes Ding, – um den Leib und setzte sie mit kühnem Griff vor die Tür. Mit einer Art Wollust hatte Hammerl die Prozedur angesehen. Nicht nur imponierte ihm und war ihm wohltätig, daß gerade dieses herrliche Mädchen sich offenkundig auf seine Seite stellte, sondern bei Entfaltung von all dieser Energie und Kraftleistung war ihm seltsamerweise zumute gewesen, als vollführe er selbst das Unglaubliche. Wenn auch alles dann in nichts versank, ein Erlebnis blieb es dennoch. Auch ein innerliches! Der Vierzigjährige trieb mit dem Backfisch, dessen häßliches Gesicht er gar nicht zu bemerken schien, einen heimlichen Anbetungskultus. Diese unschädliche, harmlose Liebe war sein ganzes Glück. Das einzige, das er je erlebte. –

Im darauffolgenden Sommer entdeckte der Hausarzt an dem schon seit den Wintermonaten kränklichen Notar eine Herzstörung und riet zu einer Badekur. Allein konnte der Patient nicht gehen. Seine Älteste aber hatte einen nicht aussichtslosen Verehrer im Provisor der Mohrenapotheke gefunden und konnte sich doch nicht diese mögliche Partie so leichtsinnig durch Entfernung ihrer Persönlichkeit verscherzen. Die Schwester hatte ihr Handarbeits-Lehrerinnenexamen zu machen, und die Mutter mußte, schon wegen des Provisors, – die Leute haben ja zu böse Mäuler, – zu Haus bleiben. So blieb nur Ottilie als Begleiterin.

Ein Gewinn des für den Notar nutzlosen Badeaufenthalts war die Bekanntschaft einer lieben, gütigen, älteren Dame, die auch öfter mit ihnen Karten, Trik-Trak oder Domino spielte. Sie interessierte sich ungemein für Kunst und deshalb auch für Ottiliens ernste Bestrebungen und bestärkte sie in ihren Plänen, als sie sah, daß deren Talent ein ansehnliches war.

»Nur nicht zu hoch hinauswollen; sich nichts einbilden und keine Wunder erhoffen! Es geht auch, – ja besser, – ohne das. Freilich, so ein talentloses Malweib, das verzweifelnd nach Lorbeern greift und nicht einmal eine Wurst erhascht oder ein Stück Brot, das ist was Schreckliches! Sie aber haben Talent, – wenigstens ganz sicher für einen hübschen Platz. Einer in der allerersten Reihe braucht es nicht gleich zu sein; und Sie haben auch einen gesunden, kräftigen Körper, eine gesunde, kräftige Seele, klaren Verstand und das Herz am rechten Fleck. Sie sind auch nicht völlig mittellos und bei geschickter Einteilung werden Sie auskommen; sparen werden Sie freilich müssen, denn das Kunststudium kostet Geld. Aber so blutjung auch, wie Sie noch sind!«

Ottilie seufzte tief: »Ich bin ja erst sechzehn! Und vor einundzwanzig werde ich nicht frei! Niemals aber ließe mich die Tante freiwillig von Haus weg und obendrein noch, um Malerin zu werden!«

Der Notar, der dabei saß, nahm ihre Hand und streichelte sie zärtlich und tröstend. Er kannte ja seine engherzige Frau am besten und wußte nur zu gut, wie recht Ottilie hatte!

»Jedenfalls müssen Sie Ihre Wünsche sehr energisch, wenn auch in guter Form, Ihrer Frau Tante auszudrücken suchen, und das recht bald. Es ist jetzt an der Zeit!« meinte Frau von Bodin noch. –

An einem finsteren, stürmischen Novemberabend klopfte es heftig an Herrn Hammerls Fensterladen. Der Zeichenlehrer bewohnte ein Parterre-Eckzimmer nebst Alkoven in einem kleinen Sträßchen der Altstadt. Wenig Menschen verirrten sich dorthin, schon weil in die Gasse fast nur die mächtigen Rücken einiger Magazingebäude ragten. Der Nervöse schrak so zusammen, daß ihm ein ganz in modernem Stil gehaltenes und wirklich hübsches Schild einer Drogerie aus den Händen glitt und zu Boden fiel. Schnell wickelte er den verschlissenen Schlafrock um die hageren Glieder und öffnete klopfenden Herzens einen Fenster- und Ladenspalt. »Wer da?«

»Ich, ich, Herr Hammerl, – die Ottilie, – bitte schnell lassen Sie mich herein!«

Die vom Sturm wie zerfetzten und mühsam hervorgestoßenen Worte warfen den Zeichenlehrer fast nieder. Die Ottilie! Herr des Himmels! Und jetzt, zu dieser späten Stunde, – mindestens halb elf Uhr, – da muß – muß, – da, – endlich hatte er den Schlüssel gefunden Lehrer war starr. So etwas! So etwas von Energie und Tatkraft! Jawohl! Jawohl! So, wie sie eben damals auch war, als sie jenes freche Geschöpf zur Klassentür hinausgeschmissen. Eine Walküre, eine, – eine, – es fiel ihm absolut kein weiterer Vergleich ein. – Jedenfalls das echte Germanenweib! Ach, so eine Frau sein eigen nennen, in heißer Liebe ein herrliches Geschlecht mit ihr zeugen können, – das – das – Es wurde Herrn Alexander Hammerl nicht mehr recht klar, was das Geschlecht alles zu vollbringen haben würde, denn Fräulein Ottilie streckte ihm mit bittendem Blick ohne alle Prüderie ihre großen, aber wohlgeformten Füße in abscheulichen und völlig durchnäßten Schnürstiefeln hin. Während er die feuchten Riemen zu lösen versuchte und trotz des mangelhaften Lichtes das Stück eines prall sitzenden, bunten Strumpfes über der runden Wade erspähte, wurde es ihm flimmrig vor seinen, immer angegriffenen Augen. Schweißperlen traten auf seine Stirne, und in dem erdfahl gewordenen Gesicht zuckten flinke Schatten auf und ab, – kamen und gingen. Jetzt oder nie, – jetzt oder nie, – tönte es vor seinen Ohren, schrill, gebieterisch, – verlockend! Und da benahm sich Herr Alexander Hammerl zum ersten Mal in seinem Leben frech und unpassend und beging eine große taktlose Niedrigkeit. Freilich sah er das alles erst sehr viel später mit folternder Reue ein. Jetzt umklammerte er nur sinnlos diese festen, kraftstrotzenden Beine und drückte auf die runden Streifen des bunten Gewebes einen heißen Kuß um den anderen. Aber seltsam! Ottilie Burkstaller sprang weder erschrocken noch entrüstet auf, noch wehrte sie sich gegen diese Zärtlichkeiten. Ganz still, ohne sich zu rühren, zuerst im Bann einer Überraschung, dann in dem eines unbeschreiblich wohligen Gefühles blieb sie sitzen. Die Augen schließend genoß sie förmlich diese tastenden Lippen und Hände und deren schmeichelnde Liebkosungen. Nie hatte sie, außer in frühester Kindheit durch ihre Eltern, irgend welche Zärtlichkeiten kennen gelernt. Aber ein dumpfes, drängendes Sehnen nach solchen lebte stets in ihr. Außer ihrem Pflegevater konnte sie keinem Liebe entgegenbringen oder solche von jemandem empfangen. Die Cousinen waren ihr so fremd und unsympathisch wie die Vettern, die längst aus dem Haus waren. Der Reinlichkeit halber wurde weder Hund noch Vogel gehalten. Nicht einmal Blumen durfte sie pflegen. In der Schule hatte sie nur eine Freundin gehabt, die aber letztes Jahr gestorben war. Einsam also, ganz einsam!

Noch keine siebzehn war sie alt, aber der voll entwickelte Körper schon in blühender Reife. Ottilie kannte sowohl Träume voll inbrünstigen, unklaren Verlangens wie solche voll fremder, grundloser Schmerzen und jammervoller, wilder Sehnsucht nach Unbekanntem.

Das junge Mädchen sah in der dämmrigen Ecke nicht die komische Figur und das grimassenschneidende Gesicht, das sich in ihrem Schoß barg. Diesen, ihren ersten Verehrer, den ersten Mann, der sich ihr, – dem Weib, nicht dem unreifen Kind, – nahte, konnten ihre Blicke nicht kritisch umfangen. Sie fühlte nur den Mann, den liebenden, Zärtlichkeiten spendenden und solche begehrenden. Ihre heiße, ungezügelte, nur geknechtete und unterdrückte, aber nie erzogene, sanft geleitete Natur wollte schon stürmisch zum Durchbruch kommen. Da, – ein plötzliches Geräusch! Heller Schein übergoß die Gruppe. Der grüne Teilschirm, durch ein Messingkettchen an der Porzellanglocke befestigt, war zu Boden gefallen. Fest und gelassen stand die treue Lichtspenderin auf ihrem eisernen Fuß und warf jetzt eine mächtige, breite Scheibe auf die Tischplatte, worauf das halbfertige wieder vom Boden aufgehobene Schild des Drogenhändlers mit seinen frischen Farben protzte. Die beiden fuhren zusammen und sprangen zugleich in die Höhe. Der weltvergessene Zauber war gebrochen. Wie der kleine Zeichenlehrer zum ersten Mal im Leben eine Frechheit begangen hatte, so war er jetzt auch zum ersten Mal im Leben geistesgegenwärtig und gewandt wie vielleicht kaum der erfahrenste Lebemann in dieser Situation gewesen wäre. Hammerl wischte sich erst abgewendet die Perlen von der Stirn, machte darauf einen Scherz über die übel aussehenden Stiefel Ottiliens und bot ihr nochmals Tee an. Das junge Mädchen brauchte viel länger wie er, um sich in diesen plötzlichen Umschwung hineinzufinden. Als der Lichtschein auf das elende Männchen gefallen, war sie plötzlich von Eiseskälte, einer Art Ekel und darauf von unbändigem Verlangen lachen zu dürfen ergriffen worden. Jetzt trat aber auch noch ein unklares Dankbarkeitsgefühl gegen Hammerl hinzu. Ihr war, als hätte er sie vor irgend etwas, – irgend etwas Schrecklichem, nicht mehr gut zu Machendem, – bewahrt.

Der Lehrer fand ein Fläschchen Rum, – das Geschenk eines Schülers, – und braute mit nervöser Geschäftigkeit eine Art Teegrog. Dazu aßen sie krampfhaft von dem Kuchen, den der Flüchtling sich als Reisevorrat mitgenommen hatte. Plötzlich merkten sie dann, daß sie ganz ruhig und vergnüglich beisammen saßen. Der viele Grog mochte das Seinige beigetragen haben, sie zuerst in eine ausgelassene Heiterkeit, dann in eine äußerst sentimentale Stimmung zu versetzen. Der Zeichenlehrer erleichterte sein Herz, indem er der jugendlichen Schülerin nicht nur seine Lebensgeschichte erzählte, sondern ihr auch die lange heimlich gehegte Liebe zu ihr unverfroren enthüllte. Hingegen vertraute Ottilie ihm wieder, – indem sie sein Geständnis wie etwas Natürliches hinnahm, – an, daß sie entweder eine ganz große Künstlerin werden wolle oder sich umbringen würde. Über der Entwicklung all der geeignetsten Arten, sich möglichst rasch und schmerzlos zu töten und endlich durch einen sanften Schlummer, in den sie beide verfielen, hätte das junge Mädchen beinahe den Zug verpaßt. Als es genau so vor Kälte klappernd wie sein Beschützer und im gleichen Gefühl körperlichen Katers, dem der moralische vorderhand noch fehlte, auf dem Bahnhof neben dem Lehrer stand, um Abschied zu nehmen, wurde es ihm nicht minder schwer und Weh ums Herz wie diesem.

»Also, – geliebtes Mädchen, – wie gesagt, – ein Freund, – ewig, – ewig, –« stammelte der Betrübte.

»Ja, Herr Hamm –aber sie tat ihm das nicht mehr an; jetzt nannte sie ihn Alexander. »Ja, Herr Alexander, ich denke daran, gerade wie ich heute nacht auch gleich an Sie gedacht als meinen einzigen Retter. Und Ihr Geld schicke ich Ihnen so bald als möglich. Gelt, Sie trauen mir schon, selbst ohne Schuldschein!«

Das blasse, schluchzende Männchen wurde vom rücksichtslosen Schaffner jeglicher Erwiderung enthoben. »Achtung, – einsteigen, – zurückgehen, – zum Kuckuck gehen Sie doch zurück!« Ein geller Pfiff und schwerfällig wie ein Riesentier, setzte sich der Zug in Bewegung. In der übelriechenden Rauchschleppe, die sich, durch die Nebelluft noch herunter gedrückt, breit in die Bahnhofshalle legte, blieb Hammerl stehen. Er winkte aufs Geratewohl mit dem Taschentuch und bohrte seine Augen in die graugelbe, wogende, sich in Fetzen teilende Masse. Er konnte nichts mehr erspähen von der Geliebten, – seinem Traum, seinem Glück! Und das ging nun von ihm, zog in unbekannte Fernen! Er fühlte, alles würde jetzt vorbei und zerronnen sein und nichts ihm bleiben als das ewige Gedenken. »Ewig, ewig,« murmelte er und schlich betrübt nach Haus.


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