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Geduldig, wie eine pflichttreue Schildwache, geht der Bauamtmann wohl schon eine halbe Stunde lang vor dem Hauptportal der Frauenkirche auf und ab. Das Haar des Ältesten des Degenhardtschen Junggesellen-Trios ist in den letzten Monaten recht grau geworden; freilich ganz ohne besonderen Grund. Sozusagen schon als echte, pedantische und sehr ehrenhafte Beamtennatur zur Welt gekommen, ausgestattet mit einem gewissen Humor, der sich so merkwürdig mischt mit grundloser Verbitterung, Sentimentalität, Zornmütigkeit und einem goldenen Herzen, kommt er über seine nie tragisch gewesenen Lebensschicksale glatt hinweg. Trotzdem ist ihm nicht wie seinen zwei Brüdern Carlo und Ludwig beschicken, sich jenes Vatererbe unverwüstlicher Jugend weit über die gefürchtete Altersgrenze hinaus zu erhalten.
Die Oktobersonne brennt mit wahrer Sommerglut auf das Pflaster vor dem Dom herab, und Otto Degenhardt hat sich schon ein paar Mal, den Hut lüftend, mit dem Taschentuch die Stirne trocknen müssen. Aber des Bauamtmanns Unwille wird heute durch nichts erregt. Mag doch die Schwester ruhig in der Kirche bleiben, so lange sie will. Kann er ihr auch die überspannte Passion nicht nachfühlen, so läßt er sie doch jetzt ohne jegliche Kritik gewähren. Er ist und bleibt allerbester Laune und trägt diese, seit der Schwester Rückkehr vom Seedlander Sommeraufenthalt, wo er wochenlang ihr Gast gewesen, fast täglich nach der Steinsdorfstraße. Er hat plötzlich einen großen Respekt vor Traudl, ohne eine andere Veranlassung als die, daß ein Mann wie Dombrowsky sie zur Frau, nicht nur etwa zu frivolem Flirt begehrte. Außerordentlich, – ganz außerordentlich hatte ihm nun auf einmal Detlev, als er auf dem Gut mit diesem zusammengetroffen, gefallen. Der Herr Bauamtmann geruht auch sehr zu billigen, daß der Baron Seedland nicht nur behalten, sondern, wie noch bei Halligers Lebzeiten geplant, auch zu einem richtigen Herrensitz, in entsprechender Vergrößerung umgestalten will. Wirklich ein famoser Mann, der neue Schwager, in jeder Beziehung! Daß Otto je Vorurteile gegen ihn besessen und diese auch reichlich oft geäußert, weiß er fast nicht mehr. Schwester Hela ist ihm allerdings darin noch über. Bei der Nachricht von Gertruds Verlobung, die nur der engsten Familie mitgeteilt wurde, da man der Welt bloß die vollzogene Vermählung ankündigen will, sah Exzellenz darin nur längst von ihr heimlich Erhofftes und Ersehntes. Auch die Eckebergs hatten also zuerst in Detlev nur einen frivolen Verführer der gewiß gleichfalls leichtsinnigen Schwester zu sehen geglaubt. Jetzt, als wahrhaftiger Freier, schien ihnen der Baron doch ganz geeignet.
Carlo und Ludwig, in jener Übereinstimmung, die sich so hochgradig zwischen ihnen ausgebildet hatte, stießen zuerst im stillen Kämmerlein ein Gott sei Dank aus; später umarmten sie dann das Paar so stürmisch wie zwei ganz wilde Straßenjungen. Ludl aber sagte der Schwester dabei ins Ohr: »Der Holleber muß die Dornenkron, die er dir auf seinem Bild aufg'setzt hat, – Wenns auch zehnmal jetzt dem Baron Gschwandner g'hört, – wieder abkratzen und durch eine aus Rosen ersetzen. Traudl, paß auf, jetzt wird's anders, jetzt hast' endlich das Glück! Pack's, halt's fest, aber vergiß halt dein verrückten Ludl net ganz und gar drüber! Mir waren ja doch von jeher die besten Kameraden!«
Dann aber stieg ihm etwas Dickes in den Hals und erstickte alle seine weiteren Worte.
Papa Degenhardt hatte natürlich sofort eine Fete mit vielen von seinem Schnackl bereiteten Delikatessen und ungeheurem Sektüberfluß arrangiert, und Frau Thilde hatte einzig und allein bei dieser Gelegenheit ihr Wort, nun nichts mehr dichten zu wollen, gebrochen, indem sie bei Tisch ein kleines Märchen voll heimlicher, ergreifender und sinnvoller Poesie vorlas, das besonders Gertrud aufs tiefste ergriff. Verstand doch sie allein einen ganz bestimmten Hinweis darin, über den die anderen Hinweggleiten mußten. Da wußte sie, daß die klugen, noch immer wunderschönen Augen der Mutter mehr beobachtet hatten, als sie je gedacht hätte. Noch lange nachdem Frau Degenhardt geendet, hingen Gertruds umflorte Blicke an Lise, die ernst und sehr blaß am Tischende saß.
To trank ein wenig zu viel und schlief nach dem Essen eine Zeitlang so tief, daß kein Kanonenschuß ihn hätte erwecken können. Seine Mutter hatte ihn erst gelegentlich seiner Herbstferien, aber sofort nach seiner Ankunft in Seedland davon unterrichtet, daß sie einen bis jetzt durch Zufall verborgen gebliebenen, hinterlassenen Brief des Vaters gefunden. In großen Zügen gab sie dem Sohn seinen Inhalt wieder. Die Wahrheit aber erfuhr To so wenig wie irgend jemand sonst. Der Knabe war in einer Weise ergriffen gewesen, wie seine Mutter es nie erwartet hätte. Tagelang ging er darauf wie träumend umher und vergaß über all den neuen Empfindungen ganz die Unwahrscheinlichkeit, die darin liegen mußte, daß das Dokument erst jetzt von der Mutter entdeckt sein sollte. Die Sterbestunde des geliebten und verehrten Vaters lebte unauslöschlich in der Erinnerung des Heranwachsenden; jetzt aber erwachte jeder Liebesblick des Verstorbenen in neuer Kraft vor ihm. Glücklich, froh und befreit fühlte sich To, nun Onkel Detlev nach Herzenslust lieb haben zu dürfen, und wenn er nur einen einzigen Blick auf diesen warf, so wußte er auch, daß er um dieses Mannes willen von niemandem gehänselt werden würde. Ihm erschien Dombrowsky jetzt vollkommen identifiziert mit dem Andenken an den Toten, der ihn so hoch gehalten.
Im Innersten ergriffen schlich sich der Junge eines Tages in taufrühesten Sommermorgenstunden auf den Friedhof. Er legte seine Hände auf den Blumenhügel und leistete in seinem braven Herzen einen heißen Schwur. Einen Schwur der Treue dem Andenken des Mannes, dessen sterbliche Überreste man hier begraben hatte, und dem, den der Tote zu seinem Stellvertreter ernannte. Am heißesten aber galt er der Mutter und ihrem Glück. Ihr vor allem die Treue halten! In dieser weihevollen Stunde stieg in To eigentlich die erste Ahnung auf, daß die Muter einen Kreuzweg geschritten sein könnte, rauh und steinig, dessen meiste Stationen ihm, dem jungen Sohn, wohl unbekannt geblieben waren.
Als der Knabe den Gottesacker verlassen und um eine scharfe Wegeecke gebogen war, huschte eilig und scheu seine Schwester an ihm vorbei und wollte sich hinter dichtem Gebüsch verbergen. Er aber ging ihr nach und führte sie mit festem Griff auf den Pfad zurück.
»Sei nicht kindisch und töricht, Lise! Sei auch nicht zu stolz, einzugestehen, daß du geirrt hast und unrecht tatest!«
Entsetzt sah ihn Lise an. Wußte der Bruder denn, – – aber nein! Seine geröteten Augen blickten ja so sanft und mit einem Schimmer innerer Verklärung zur Friedhofpforte zurück. Hartnäckig vermied To sie anzusehen, und in Verlegenheit, aber getrieben von heißem Wollen und einer bestimmten Absicht sprach er:
»Weißt du, Lise, Mutter las mir einzelne Stellen aus dem vom Vater nachgelassenen und so spät aufgefundenen Brief vor; darin heißt es einmal: ›Irrtümer sind die Sprossen der Leiter, an der wir nach oben streben. Woraus sollten wir Wahrheit schöpfen, wenn nicht aus den Quellen des Irrtums?‹«
Die Schwester horchte wohl auf, aber ihr Gesicht erhellte sich nicht dabei. Irrtum! Vor ihr aber stand die Schuld! Tränen, die sie nicht aufkommen lassen wollte. peinigten Lise geradezu. Sie ließ sich von To, der das lange nicht mehr getan, widerstandslos küssen, dann aber riß sie sich wild los und hastete den gleichen Weg weiter, den sie bereits eingeschlagen hatte und den vorher der Bruder gegangen war.
Die schwarzen, über ihr hängenden Wolken wollten ja nicht mehr weichen. Es wollte nimmer hell und klar werden zwischen ihr und der Mutter, und die Kluft, die sich von einer zur anderen dehnte, überbrückte sich in Wahrheit nicht mehr. Keine Ahnung hatte Lise davon, wie oft die Mutter an ihrem Bett stand, wenn wieder, wie damals nach dem Geständnis, ein tiefer, gesunder Schlaf, das alleinige Vorrecht der Jugend, ihr Kind umfing. O, Mutter war ja nicht mehr froh, auch jetzt nicht von Herzen froh geworden seit jenen Stunden, und es war, als ob sie zu müde, zu gebrochen sei, um ihr endliches Glück genießen, seiner Krönung freudig entgegengehen zu können.
Wie zufällig, ganz gelegentlich nur, hatte Carlo als Tischgast eines Tages noch in München geäußert, daß sich zwischen Mesting und Ottilie Burkstaller, die oft von oben auf ein Plauderstündchen kam und von hoffnungsfroher Erwartung erfüllt schien, allen Beobachtungen nach wohl zarte, aber feste Fäden zu spinnen schienen. Klirrend fiel darauf der Ring, den Lise eben über die mit pedantischer Genauigkeit gefaltete Serviette schieben wollte, zu Boden. Durch das Bücken war glühende Röte in das zuerst fahl gewordene Gesicht des jungen Mädchens gestiegen. Als es gesegnete Mahlzeit wünschte, bebte seine Stimme. Grete Mannes sandte Lise einen mitleidsvollen Blick nach. Diese verschwand für volle zwei Tage – sie gab an, starke Halsschmerzen zu haben, –. Gertrud aber atmete tief auf, daß nun ausgesprochen war, was ihr Kind doch einmal erfahren mußte und sie ihm immer noch nicht zu wissen getan hatte. Dennoch aber blieben ihre Augen mit starrem, glanzlosem Blick auf dem Teller haften, und ihre Finger spielten nervös mit dem kleinen Obstmesserchen.
Darauf schien Lise wieder die alte, das heißt die Lise der jüngsten Zeit. Ernst, still und sehnsüchtig werbend, in einer Demut, die jetzt auch keine Furcht mehr kannte, sondern einzig und allein dem glühenden Wunsch entsprang, Liebe und Achtung der Mutter wieder zu erringen. Einer Mutter, deren Wert, deren unendliche, aufopferungsfähige Liebe mit ihren sonstigen großen Eigenschaften sie ihr Leben lang unterschätzt, oft mißachtet, nie verstanden hatte.
In dem kühlen, jedoch aller Härten und Schärfen entbehrenden Ton, den Gertrud ihrer Tochter gegenüber angenommen, hatte sie dieser vorgeschlagen, die Sommerferien über entweder mit den Großeltern ins Gebirge oder mit den Berliner Verwandten, die sie auch eingeladen hatten, an die See zu gehen. Das unvermeidliche Zusammensein mit Dombrowsky hatte sie ihr doch ersparen wollen; noch mehr aber das mit Mesting und – da auch Ottilie auf einige Wochen wieder nach Seedland zu kommen gebeten war, – auch zugleich das Schauspiel einer freilich erst so recht im Werden und Reifen begriffenen Liebe. Aber Lise schüttelte den schmalen Kopf und sagte leise, ohne den Mut zu haben, auch nur nach der Mutter Hand zu haschen:
»Nein, nein, o bitte, bitte, nein! Wenn du mich um dich dulden magst und kannst, – dann Mutter, will auch ich mit nach Seedland gehen. Es – es ist – eine Buße! Der Anfang einer weit größeren. Ich habe – habe den Entschluß gefaßt, Jurisprudenz zu studieren, wenn du mir die Erlaubnis dazu erteilst. Damit aber verbanne ich mich zugleich selbst aus deiner Nähe. Ich bin ja nicht wert, sie zu genießen, die ich entheiligt, niemals noch geschätzt habe nach Gebühr!«
Jetzt beugte sie sich doch über die bebenden, kalten Hände, die eine Bewegung gegen sie machten, um die sich selbst Anklagende am Weitersprechen zu verhindern.
»O Mutter, – Mutter, – du kannst und kannst mir ja nimmermehr vergeben!«
»Ich, ich – versuche, –«
Aber Frau Halliger konnte nichts stammeln als diese drei Worte. Die Kehle blieb ihr sonst wie zugeschnürt, und Unsichtbares richtete sich trotz all ihres Bemühens aufs neue zwischen ihnen auf. Da ging Lise langsam, gesenkten Hauptes aus dem Zimmer. –
In nimmer rastender Geduld und tiefstem Verständnis bemüht sich Detlev, Gertrud tragen zu helfen an ihren schweren Mutterschmerzen. Onkel Toni hält sich nun mehr zurück, ohne Eifersucht und Neid. Junge, kraftvolle Hände sind ja jetzt da statt der seinigen, die müde und alt, seiner Ansicht nach nur schwache Hilfe leisten könnten. Er ist recht still geworden, aber seine Augen leuchten stets heller auf, wenn er die stramme, sehnig schlanke Gestalt Detlevs, dessen energisch geschnittenen Kopf mit den dunklen, an den Schläfen aber silberweißen Haaren über sein Traudl gebeugt sieht.
Oft und oft nimmt Lise nun heimlich Besitz von jenem tiefen Sessel, in dem ihre Mutter zahllose Male bei Onkel Toni, dem treuen Freund, gesessen, als das Atelier noch nicht zu dem jetzigen, behaglichen Wohnraum umgestaltet worden war. In jenem Winkel, da einst das Traudl ihm gebeichtet, legt nun deren Kind seine quälenden Bekenntnisse ab, und Buchlehner tröstet gerade wie damals, in seiner sicheren, guten Art:
»Sei ruhig, nur ruhig, Kind, 's wird, – verlaß di drauf, es wird!«
Während der strahlenden Herbsttage, die alles, auch eine nüchterne Stadt, durch oft berauschende Farbenpracht verschönern helfen, ist Gertrud Halliger wieder sehr oft in ihren Dom gegangen. Sie meint noch immer, dort lege sich am ehesten der Sturm ihres Inneren, der nie mehr aufgehört, seit ihr Kind ihr entrückt worden. Nur dort, wohin sie schon die Kümmernisse ihrer bewegten, ersten Jugend getragen, würden ihr Gemüt, ihre Seele sich wieder der Vergebung öffnen können. Morgen wird nun Gertrud Dombrowskys Weib werden. Aber sie hat darauf verzichtet, unter dem Sternendach der geliebten, alten Kirche sein zu werden, obgleich sie ihr Herz so sehr dazu treibt, gerade vor jenem Altar, an dem sie einst Roland angetraut wurde, nun auch Detlev verbunden zu werden. Weit mehr durch den bedeutungsvollen Lebensabschnitt als durch die keineswegs lange Trennungszeit ist ihr dieser heutige Gang zu der geliebten Stätte ein Abschied.
So schreitet sie sinnend und bewegt durch das weite Kirchenschiff, und mit kosenden Blicken gleiten ihre Augen über alles ihr so wohl Bekannte. Immer wieder hat sie das Gefühl, als folge ihr schon die ganze Zeit irgend jemand; wendet sie sich aber, kann sie niemand entdecken. Sie gewahrt nur einige Betende, ein reisendes Hochzeitspaar, das recht pflicht- und programmäßig umherblickt und sich endlich sogar hinter einem Pfeiler im Halbdunkel küßt, endlich noch, rückwärts, eine alte Frau, die eine Reihe Bänke abwischt.
›Vergib, vergiß!‹ Wenn das Vergeben so leicht ginge! Der gute Wille reicht ja nicht allein dazu aus! Und doch hätte Gertrud so gerne ihr Kind ans Herz genommen!
Mit müden Tritten geht sie gegen das Chorgewölbe hin; unter dem Christus hält sie nervös inne. So unheimlich ist ihr dieses Gefühl, ständig verfolgt zu werden. Kein Zweifel! Geht sie, tönt hinter ihr ein sachter, vorsichtiger Schritt; hält sie aber inne, um sich umzublicken, kann sie keinen Menschen gewahren. Jetzt, – jetzt aber – doch! Da, dort huscht eine Gestalt zurück in die tieferen Schatten des Gewölbes, als ob es Lise gewesen wäre! Aber nein, das kann ja nicht sein! Entschlossen folgt Gertrud. Zwischen den Platten zweier Grabdenkmäler, eine Hand auf dem uralten Stein, lehnt das junge Mädchen im Hauskleid, auf dem Kopf Gretens wetterfesten Hut, der dem herrlichen sommerlichen Wetter durchaus unangemessen ist. Es scheint, als hätte es das Nächstbeste vom Nagel gerissen, was ihm im Hausflur gerade in die Hände gefallen, als es die Mutter das Haus verlassen sah. O, Lise ahnte ja schon, wohin diese gehen würde. Wie durch einen inneren Drang geleitet folgte sie so rasch als möglich. Es war keine Zeit mehr gewesen sich umzukleiden.
Ängstlich, mit einem jammervollen Blick heißen Flehens, der Frau Halliger ins Herz schneidet, sieht Lise auf ihre Mutter, sagt aber kein Wort und bewegt sich nicht. Allein Gertrud weiß alles. Daher, daher ist ihr ihr Kind gefolgt, an diesen friedlichen Ort, wo die Mutter Zuflucht von früher Jugend an gesucht. So als hätte eine letzte Hoffnung Lise getrieben und gejagt; eine letzte Hoffnung glimmt auch auf in diesen todtraurigen Augen, die einen geheimnisvollen, vertieften Ausdruck tragen. Eine innere Verzweiflung bricht aus ihnen hervor. Sie sehen aus, als hätten sie zu schauen gelernt. Verschwunden ist in ihnen alle Härte, jedes Zeichen überhebender, kalter Selbständigkeit, die jegliche Stütze abwies, verächtlich und siegesgewiß: ›Ich gehe meinen Weg allein, ich brauche niemanden, auch dich nicht!‹ Vorbei, verwischt jenes Feindselige, das stets aufs neue in Lises Gesicht getreten, zu andauerndem Kampf herausfordernd, um trotzdem immer wieder in Gertrud die Hoffnung zu erwecken, es ohne Blut und Wunden allein durch ihre nimmer erlahmende, heiße Liebeskraft bekämpfen zu können.
Auf dem schlanken, weißen Hals beugt sich das junge Haupt Lises matt und blaß hinten über, und die Ränder der graurötlichen Steinplatte des einen Grabmales drücken sich fest zwischen die blonden Haare in die zarte Kopfhaut. Formlose, gespenstische Gebilde und Gestalten aus fern aufsteigenden Nebeln dringen auf Gertrud ein. Morgen, morgen wird sie ja fortgehen, wird sie Detlev gehören, ganz, für immer! Nun hört sie die alten Glocken klingen, die uralten, traulichen: ›Vergib! Vergib!‹
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Auf der niederen Kniebank hockt dann die Mutter zusammengekauert und hält ihr Kind im Schoß, als wäre es wieder ganz hilflos und klein, ihrem Herzen so nahe, wie es später nie mehr gewesen. Von den schmalen, zarten Mädchenlippen küßt sie alle Herbigkeit, Bitterkeit und jeglichen Schmerz hinweg und an ihrem Ohr flüstert sie:
»Mein Kind, mein liebes, liebes Kind!«
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Der Bauamtmann ist nicht wenig erstaunt, statt der Schwester allein, die er auf der Straße getroffen und dann begleitet hatte, nun auch die Nichte aus dem Dom kommen zu sehen. Diese mußte also zufällig zu einem anderen Portal gleichfalls eingetreten sein. Zufällig? Scharf blickt er von Lises verweintem Gesicht zu dem noch tränennassen Gertruds. Aber freilich, morgen müssen ja die beiden auseinander! Heiß will es auch ihm in die Augen steigen. Ohne alles Umherschielen, ob es ganz gewiß kein Mensch sähe, schlingt er plötzlich den Arm um den Nacken der Schwester, so daß er durch seine rücksichtslose überhastende Art ihr den Hut tief nach rückwärts stößt. Über der klaren Stirne, rund um das Antlitz Gertruds stehen wieder die schimmernden krausen Härchen kreisrund auf. Lise tastet aufs neue nach der Hand der Mutter und sieht sie in tiefer Rührung und Bewunderung an. Otto küßt die Schwester auf den Mund; jetzt aber schaut er sich doch etwas besorgt um, ob keine Zeugen dagewesen sind. Still und verlassen jedoch ist wie meistens zu dieser Stunde der jetzt so sonnige Platz vor dem Dom, nur ein Volk frecher Spatzen streitet sich schrill kreischend so wild um ein Stückchen Brot, daß all die kleinen braungrauen Leiber den zwischen den Steinen gesammelten Staub in einer Wolke aufwirbeln.
Der Bauamtmann schiebt, wie sie gehen, seine Hand unter der Schwester Arm und meint herzlich:
»Werd halt recht glücklich, Traudl, und verzeih mir auch, wenn ich dich oft nicht hab verstehen können. Weißt – ich bin halt ein Bär!«