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Vierundzwanzigstes Kapitel.

Wenn in Ottilie Burkstallers Leben nun auch eine Periode gewisser Ruhe und zufriedener Behaglichkeit angebrochen ist, so haben doch viele verzweigte, oft recht steinige Pfade steil dazu hinaufgeführt. Der Zeitraum von zehn Jahren zwischen ihrer Flucht und dem heutigen Tag liegt keineswegs als heiterer Traum hinter ihr, und die sämtlichen Fäden, die sie mit den Menschen und den Ereignissen jener Zeit verbunden, sind zerrissen. Zu viel Schweres schließen all diese Jahre ein und zu viel Herzblut haben sie getrunken, als daß sie leicht und traumhaft hinter Nebeln hätten verschwinden können. Ottiliens Schicksal war gar kein so besonders schweres und merkwürdiges gewesen, sie aber hatte recht darunter gelitten. Die äußeren Erlebnisse wurden bei ihr fast alle zu innerlichen und hakten sich in ihr fest und wurden zu Hunderten von Erinnerungen, die alle sagten: »Hier sind wir!«

Frau von Bodin hatte Ottilie damals nicht nur gütig bei sich aufgenommen, sondern auch für sie und ihre Befreiung gekämpft. Es war das kein leichtes Stück gewesen, sobald es sich darum gehandelt, gegen Frau Notar Sellinger aufzutreten. Als die Verzagenden bereits die Waffen gestreckt hatten, beschämt und unglücklich so besiegt zu werden, kam es doch noch anders. Eines Tages lag ein großer mit: ›Sellinger, Notar‹ unterschriebener Bogen vor Ottilie; dieser brachte ihr, obwohl sie noch lange keinen gesetzlichen Anspruch darauf hatte, die ersehnte Freiheit, unbeschränkte Verfügung über ihr kleines Vermögen und damit auch über ihr junges Leben. So Großes hatte der Onkel bei seiner Gattin erreicht. Bald darauf starb er dann. So erlosch beinahe jegliches Gedenken Ottiliens an die Heimat. Zu den Verwandten, von denen sie nach der Flucht nur mehr als Ausgestoßene behandelt worden war, und die sich vorgenommen hatten, der Undankbaren, dieser geborenen Straßendirne, das Leben, wenn irgend möglich, erst recht zu versauern und zu erschweren, hatte sie keine Beziehungen mehr. Nur mit Herrn Alexander Hammerl korrespondierte sie. Fast genau drei Jahre nach jener denkwürdigen Flucht, in denen er immer nur davon geträumt sich eine Kunstreise nach München zu leisten, erlag er plötzlich einer Lungenentzündung. Bei der Nachricht seines Hinscheidens, die ihr nur verspätet und zufällig geworden, empfand sie Ähnliches wie beim Tod des Notars. Waren die beiden doch die einzigen Menschen gewesen außer ihrer Wohltäterin, die ein Stückchen ihres einsamen, jungen Herzens besessen hatten. Allein ein klein wenig erleichtert fühlte sie sich doch auch bei dem Gedanken, daß Alexander Hammerl nun nicht mehr unter den Lebenden weilte. Etwas lag in jenem Erlebnis, das ihr nicht wie so vieles andere endlich mit der Zeit lediglich als luftiger Streich erscheinen wollte. Etwas! Es hatte sich in ihr fest gesetzt, sich hineingefressen. Immer wollte es ihr bitter auf der Zunge werden, dachte sie an jene Nacht und wie der Lampenschirm gefallen war gerade als – – –! Tief seufzte sie auf, wie befreit.

Das Leben ging weiter, Jahr auf Jahr! Noch immer lebte Ottilie in Pasing draußen bei der alten Dame und fuhr nach München herein zu ihren Studien. Dann, – als sich der Vorort längst zu einer kleinen Villen-Stadt ausgewachsen, arbeitete sie, – die talentvollste seiner Schülerinnen, im Atelier eines sehr bekannten Künstlers, der sein Heim da draußen aufgeschlagen. Er war mehr als zufrieden mit der Burkstaller. Diese aber nicht mit sich, wenn auch aus andern Gründen. Sie konnte arbeiten so viel sie wollte, das heiße, pulsierende Leben in ihrem kraftvollen Körper ließ sich doch nicht damit beschwichtigen und unterdrücken. Das hemmte sie und wurde ihr oft zur Qual. So unschön ihr Gesicht auch war, so sehr sie sich dessen oft mit tausend Schmerzen bewußt wurde, so zog sie dennoch die Männer bis zu einem gewissen Grad an. Ihre große Lebhaftigkeit, ihr Geist, ihr Talent, ihr selten schöner Leib und nicht zum wenigsten die heiße, unbewußte Sinnlichkeit, die ihm innewohnte und die er ausatmete, machten, daß nur wenig Männer, die besonders kühl und nüchtern angelegt, sie unbeachtet ließen. Wenn sich auch noch nichts Ernsthaftes in ihrem Herzen und ihrer Seele gerührt hatte, wenn niemals eine wahre tiefe Liebe darin eingezogen war, das Verlangen, das Drängen nach körperlichem Ausleben herrschte darin nicht minder stark wie es nur immer in einem jungen, kräftigen Mann leben kann. Ottilie kämpfte redlich damit, suchte es zu verwinden und ging tapfer allen Versuchungen aus dem Weg. In stillen Stunden aber, wenn sie auf ihr vergangenes und ihr zukünftiges Leben blickte, sagte sie sich: Wozu quäle ich mich? Warum mache ich mich fast krank? Jedenfalls hysterisch, – vielleicht noch eines Tages verrückt? Jedenfalls arbeitsunfähig oder doch geringwertiger und unlustiger? Wem hebe ich auf, was doch nur Idee ist? Als ob überhaupt jemals ein Mann käme, der ein wenig bemitteltes, und noch dazu grundhäßliches Malweib zur Frau begehrt? Und ob ich ihn dann lieben würde? Nein, ich will nicht mehr! Will nicht mehr!

Sie stampfte mit den Füßen und riß sich die Kleider vom Leib. Wie die Türkinnen verhüllte sie sich dann ihr Gesicht völlig mit einem Tuch, so daß nur mehr die Augen hervorblitzten, stellte sich vor den großen Ankleidespiegel und schwelgte mit wollüstigen Schmerzen im Bild ihrer eigenen Schönheit. Ja! Das war schön! Ihr Leib strahlte in der Pracht ebenmäßigster Linien. Die Haut leuchtete tadellos klar, in samtener Weichheit leicht gelblich getönt. Schmeichelnd glitten ihre langen, gut geformten Hände über die hoch gewölbte, feste Brust herunter zu den wohlgerundeten Hüften. Stellung auf Stellung nahm sie ein, reckte und streckte sich und eine Freude, die fast etwas Übersinnliches hatte, ergriff sie über ihren heimlichen Schatz. »Narziß«, murmelte sie. Aber nein! Der spiegelte ja nur sein Antlitz im klaren Wasser und entzückte sich darüber. Sie aber, – ihr Gesicht, – zornige Tränen traten ihr in die Augen. So grausam, so töricht auch kann die Natur sein. Statt ein Volles, Ganzes zu bilden, indem sie dem vollendeten Körper auch das schöne Gesicht gibt, versagt sie ihm das. So bleibt es immer ein Stückwerk. Lieber doch umgekehrt! Wäre es so! Den Kopf sieht jeder, der ist für alle! Ihn kann man nicht verhüllen für die Welt, kaum etwas verbessern und verschönen. Aber den Körper! Mag er auch mangelhaft gebaut sein! Ein gut sitzendes Korsett, eine geschickte Schneiderin mit Geschmack, feines Schuhwerk dazu, – der Mensch ist fertig, der bekleidete! Den nackten aber, wer sieht ihn? Und selbst wenn das einmal der Fall ist, vielleicht in der Schwimmschule seitens einiger Geschlechtsgenossinnen, wer hat das Auge dafür, – den rechten Blick? Dann kam ihr der lebhafte Wunsch, sich selbst, den eigenen Akt, mit Zuhilfenahme des Spiegels zu malen. Aber sie verwarf das wieder wie so viel anderes, was sie sich vornahm. Manche besondere Versuchungen traten an sie heran; solche auch, die sie nie für möglich gehalten. Allmählich entwickelte sich in ihr dadurch eine Geringschätzung der Männer, zu welchen es sie doch auch wieder so sehr hinzog. In der Dämmerstunde eines früh, fast plötzlich einfallenden Spätherbstabends mußte sie förmlich vor ihrem Lehrer flüchten. In einer jener Stimmungen, die herbeifliegen und sich festsetzen, ohne daß man sie gerufen, hatte er sie begehrt. In ihr drängte sich ihm alles entgegen, und das Blut stieg ihr heiß zu Kopf; und doch stürzte sie davon, keuchend, wildschlagenden Herzens. Sie suchte mehr, viel mehr sich selbst als ihm zu entkommen. Daran, daß er verheiratet und ihr Lehrer war, dachte sie dabei nicht einmal. Nur weg, nur fort, – das, – das, – durfte nicht sein! Drüben aber, denn Frau von Bodins Haus lag dem des Künstlers fast gegenüber, warf sie sich in einem elementaren Ausbruch laut weinend aufs Bett.

Von diesen Leiden ihres Schützlings hatte die gute Dame, die sonst so trefflich und mütterlich für ihn sorgte, keine Ahnung. Sie zog den von Ottilie gezollten Tribut töchterlicher Liebe und herzlicher Dankbarkeit freudig ein, verlebte durch ihn einen warmen, angeregten Lebensabend und war froh zu sehen, wie ihre Saat Ernte brachte und Ottilie sich entwickelte. Ängstlich wachte sie darüber, daß das Mädchen gesund bleibe und auch darüber, daß es ja nichts von seinen Zinsen verbrauche, damit diese zu dem kleinen Vermögen geschlagen werden konnten. Sie gab Ottilie großmütig alles, was diese benötigte, und außerdem ein monatliches Taschengeld, über das sie frei verfügen konnte.

Eine größere Spanne Zeit hindurch hatte die junge Künstlerin voll glühenden Ehrgeizes eine besonders hohe Meinung von ihrem Können und ein mächtiges Sehnen nach dem Gipfel des Ruhmes erfaßt. Wie und warum es eigentlich geschehen, weiß sie heute noch nicht. Aber eines Tages, ohne besonderen Anlaß, fand sie sich plötzlich herabgestürzt, völlig zerschmettert am kalten Erdboden. Wie sonderbar mußte sie geträumt haben! Und nun dieses Erwachen! Sie hatte gar nichts Wirkliches und Tatsächliches erlebt, was ihr etwa hätte die Augen öffnen können. Es war eben nur Eines zum Anderen getreten. Kleines, ganz Unbedeutendes zum Größeren und Wichtigen. Sie war zu klug, auch zu ehrlich gegen sich selbst, als daß sie sich der eigenen Einsicht hätte verschließen können. Monatelang war sie darauf ständig am Verzweifeln. Sie sah blaß und elend aus und wurde magerer. Ihr jetziger Münchener Lehrer, der eigentlich keine Schülerinnen haben wollte und bei ihr nur eine Ausnahme machte, redete sie eines Morgens darauf an: »Jawohl, Fräulein Burkstaller, blaß, elend und dünn, auch am Körper! Ist sehr schad' um den! Wie ich vermute, – Hab' ja freilich nicht die Ehre,« – er lachte etwas zynisch, – »ein Prachtstück! Ich glaube wirklich, weder ich noch Sie haben jemals schon nach einem solchen Akt arbeiten dürfen!«

Sie war rot und blaß geworden. Mager und elend! An ihrem Gesicht lag ja nichts. Aber ihr Leib! Nein den – nur nicht! Und sie begann darauf mehr zu achten, ihn zu pflegen, zu massieren, zu salben. Sie trank mehr Bier, fette Milch, schluckte Somatose und Sanatogen und turnte. Diese rationelle Behandlung des Körpers aber hob auch ihren Seelenzustand. Sie blickte wieder fröhlicher aus den Augen und mutiger in die Zukunft. Dann, – ein Wunder, – kam ihre erste Liebe! Sie zählte gerade vierundzwanzig Jahre und fühlte die eigene, volle, reife Blüte. Wie beseligend, einen Genossen, einen wertvollen Freund gefunden zu haben! Ein Maler war er. Brünett und schlank; ein intelligenter Blame mit tief dunkeln Augen, wenig älter wie sie. Gelegentlich eines großen, aber privaten Maskenballes hatte sie den Künstler kennen gelernt. Er sah, wie sie in der Garderobe einen verzweifelten Kampf mit ihren Gummischuhen kämpfte, die nicht herunter wollten. Galant half der Maler. Diese prachtvolle Gestalt in dem schwarzen, glitzrigen und tief dekolletierten Kleid war ihm gleich aufgefallen. Sie waren beide noch zeitig daran und die hell erleuchteten Gemächer noch nicht übervoll. Schnell hatte sich das Paar angefreundet, und die Stunden flogen nur so dahin in lustigen und witzigen Gesprächen. Endlich hatten er und sie sich genügend versichert, was für eine Sorte von Mensch jedes vor sich habe, und waren sich bald so nahe gekommen, wie es unter anderen Umständen jedenfalls erst nach und nach und viel später geschehen wäre. Der junge Vlame benahm sich aber trotz der Maskenfreiheit durchaus korrekt und fein und nahm die Gefährtin dadurch erst recht für sich ein.

Beinahe kindlich vergnügt aßen und tranken sie zusammen, und wenn das Gedränge nicht gar zu stark war, tanzten sie auch von Zeit zu Zeit miteinander unter großem Genuß. Der Morgen graute, wie Herr Lankdendever Ottilie am Haus einer Freundin, bei der sie wohnte, aus der Droschke half. Im Schutz des alten Vehikels hatte er aber zuletzt doch, ohne daß sie sich gesträubt hätte, einen glühenden Kuß auf den kühlen, weichen Nacken gedrückt, von dessen Haut ihm ein eigentümlich erregender, natürlicher Geruch entgegenstieg. Selbst nicht für den kleinsten Augenblick hatte die Malerin ihre Maske gelüftet, obwohl sie nicht wenig von Gaston bestürmt worden war. Mit auffallender Offenherzigkeit hatte Ottilie viele seiner Fragen, sogar bis zu kleinen Einzelheiten beantwortet, ihren Namen aber ängstlich verschwiegen. Ein ebenso fröhlicher Abend gelang durch ein großes Masken-Künstlerfest nach weiteren acht Tagen. Nein, noch schöner war's dabei geworden, und das Paar blieb unzertrennlich bis zum grauenden Morgen. In Ottilie indessen waren nicht bloß die Sinne erregt. Es zog sie auch anderes, Liebes, Gutes und Schönes zu dem jungen und sichtlich sehr verliebten Mann, der einen recht unverdorbenen Eindruck auf sie machte. In kürzester Frist lag sein ganzes Leben klar und offen vor ihr wie der Blick seiner Augen. Wenn nur, – aber nein! Ihr häßliches Gesicht durfte er nimmermehr sehen! Eine weitere Gelegenheit mit ihm maskiert zu verkehren, würde nicht kommen; so mußte nun der Schluß gemacht werden mit Faschings-Ende! Wenn der Künstler ihr eines Tages begegnete, würde er sie niemals erkennen, und das wäre gut so. Er bettelte und bedrängte sie, ihm doch den Sonntag zu einem Ausflug zu schenken und sich ihm also sozusagen in Zivil ohne Larve zu zeigen. Aber nein! Niemals!!

Ottilie wußte selbst nicht, warum sie in der Folge trotz aller Vorsätze ganz anders handelte, als sie beabsichtigt hatte. Jene Ballnacht war eben zu herrlich gewesen, und sie waren sich dabei seelisch so nahe gekommen. Deutlich fühlte das Mädchen, daß auch in ihm die Liebe aufgeglommen, und es war wirklich nicht gelogen, wenn Gaston Lankdendever davon sprach, daß ein Stück seines Lebens zerbräche, wenn sie ginge auf Nimmerwiedersehen. Gut! Sie wollte ihn völlig heilen von allen Einbildungen, von falschen Vorstellungen, die er sich über sie machte. Ihre Stimme zitterte, als sie sagte, sie wolle seinem Wunsch willfahren und wenigstens Sonntag, – wenn auch nicht früh und etwa zu einem Ausflug, so doch in der Dämmerung, – zu ihm in sein Atelier in der Gabelsbergerstraße kommen. Sie wisse aber, dann sei alles, alles aus, denn sie habe ein zu häßliches Gesicht. Gaston, hocherfreut, antwortete ihr, indem er sie in einer lauschigen Ecke heiß auf Wangen und Nacken küßte.

Tags darauf kam sie, wie sie versprochen hatte. Sie trug ein dunkelrotes Kleid unter dem Mantel und hatte nicht einmal einen pikanten, halbverhüllenden Schleier vorgebunden. Mit gesenktem Kopf, herabhängenden Armen, wie ergeben in ein unabänderliches Schicksal, stand sie vor ihm. Ein letzter, hellgelber Streifen des scheidenden Lichts fiel durch die halboffene Ateliertür auf sie. Wie eine Schlange lag eine dicke losgelöste Strähne ihres Haares auf der Schulter und schimmerte rötlich. –

Aber es war nicht aus! Der Maler nahm mit seiner Rechten ihre eine Hand und mit der anderen hob er ihr Haupt beim Kinn in die Höhe. Lange, lange blickten sie sich in die Augen. Die ihrigen hatten sich langsam mit Tränen gefüllt. Dann sagte er innig und seine Stimme hatte einen freudigen Klang:

»Du bist nicht häßlich, und ich habe dich lieb!«

Es begann eine herrliche Zeit. So oft Ottilie irgend konnte, besuchte sie Gaston, der einer sehr vermögenden alten Antwerpener Kaufmannsfamilie entstammte. Trotzdem blieb das Verhältnis die ersten Wochen ebenso rein und poetisch wie in jener Dämmerstunde, in der sie sich wirklich nur seelisch gehört hatten. Lankdendever war ein echter, großer Künstler, dessen Bilder besonders in seiner Heimat längst ihren festen Markt hatten. Ottilie fühlte sofort die große Kluft zwischen seinem und ihrem künstlerischen Können. Er aber tröstete sie, lobte sie nach Kräften und versicherte ihr, daß sie ein sehr bedeutendes Talent habe, durch das sie jedenfalls über die Masse erhoben werde. Er glaube auch an ihre Entwicklungsfähigkeit, und daß sie noch unendlich viel lernen und in sich aufnehmen werde. Sie grämte sich auch nicht. Mehr wie alle Vorstellungen ihrer gütigen Wohltäterin halfen ihr Gastons Beispiel, sein Zutrauen, seine Liebe und Offenherzigkeit. Und – sie liebte ja! Nach und nach wurde es ihr beinahe allzuschwer sich zu beherrschen, wenn sie stundenlang allein bei ihm war und er sie mit seinen Küssen überschüttete. Sie dachte gar nicht an Heirat, nicht einmal an Verlobung. Immer öfter, immer länger, – jedoch durchaus mit dem kühl prüfenden Blick des Künstlers, glitten Gastons Augen über ihre Gestalt. Ihren Nacken, ihre Arme und Hände hatte sie ihm bereitwillig, ja innerlich stolz, zu Studienzwecken geliehen. Trotz ihres Sträubens und Entsetzens hatte er sogar ihren Kopf, den er interessant fand, in einer bestimmten Beleuchtung gemalt und gerade damit ein Meisterstück geliefert. Erst sachte, aber ausdauernd, dann immer dringender fing er an sie zu quälen. Ihren Leib sollte sie ihm leihen! Er fühle, wie ihm das weiter helfen, auf Höhen seiner Kunst führen würde. Da begriff sie, daß diese ihn mächtiger beherrschte als die Liebe, und daß er dabei auch die Überzeugung hegte, nur kühlen Blutes und mit freien Sinnen ein großes Werk durch ihren Körper schaffen zu können. Wie hochgehende Wogen sich unverhofft besänftigen, so wurde auch sie nun plötzlich ruhig. Ganz kühl und sachlich.

Eines Morgens statt zu ihrem Professor zu gehen und selbst zu arbeiten, trat sie bei dem Geliebten ein. Sie wußte, daß nur um diese Stunde das Licht herrschte, das er haben wollte und mußte. Ein heiliger Feuereifer, ein schöner, freudiger Stolz beherrschte sie, dem Geliebten so Großes sein zu können. Lankdendever arbeitete schon an seinem Kinderreigen, der ihr so unendlich gefiel, ließ aber nun rücksichtslos alles im Stich, nahm sich kaum Zeit, Pinsel und Palette abzulegen, und ging wortlos auf sie zu. Er sah, wie ihre Augen glänzten und wie kleine Flämmchen drinnen sprühten und hüpften. Ohne daß sie sich angekündigt hatte oder jetzt ein Wort sprach, wußte er sofort, warum sie gekommen. Mit einer Kopfbeugung und heißem Dankesblick wies er mit der Hand nicht etwa auf den Wandschirm, hinter dem sich die Modelle zu entkleiden pflegten, sondern auf die zu seinem Schlafzimmer führende Tür. Noch nie hatte sie einen Fuß über diese Schwelle gesetzt. Weit öffnete er den Eingang des eleganten Raumes. Erst zauderte sie, dann aber trat sie entschlossen ein.

Lange hatte er schon eine große gespannte Leinwand und Kohle zum Entwurf hergerichtet; nichts rührte sich aber. Dann rief er halblaut an der Türe ihren Namen, endlich öffnete er. Dicht vor ihm stand das junge Mädchen, völlig nackt; die verschränkten Arme vor dem Gesicht.

»Komm, – komme!« flüsterte er.

Sie folgte ihm, noch immer mit bedecktem Antlitz, so daß sie einmal taumelte bei einem Fehltritt. Als er sie aber stützend berührte, ging ein Schauer durch den herrlichen Leib, und der Maler, an den nun doch mit Macht die Versuchung herantrat, wich leichenblaß zurück. Mit dem Augenblick, da Ottilie auf dem Podest stand, wurde sie fast jäh von dem Schamgefühl verlassen, das sie bis jetzt beinahe wie einen körperlichen Schmerz empfunden. Sie geriet in eine seltsame Stimmung, als wäre sie plötzlich eine ganz andere. Noch immer aber schien der Künstler mit sich kämpfen zu müssen. Diese Schönheit da vor ihm, – der Geliebten zu eigen – wollte ihn verwirren. Sie bemerkte nun den Ausdruck seiner Augen und hob in abwehrendem Flehen, wie beschwörend, die Hände gegen ihn. Da trat er wieder zurück von ihr und fuhr mit den Fingern gegen die Stirn, als wolle er die dahinter kreisenden, wilden Gedanken verscheuchen. Er ermannte sich:

»Ottilie, wie soll ich dir danken? Du schenkst mir Großes! Es soll mir aber heilig bleiben!«

»Ich schenke es der Kunst,« murmelte sie und nahm, plötzlich wieder verlegen, in unbewußter Tändelei einen Gummiball in die Hand, den eines der Kindermodelle dagelassen. Entzückt schrie er da auf:

»So, – so, – gerade so, – bleibe, – um Gottes willen bleibe so!« – – –

*

Die Kugelspielerin war fertig. Seit gestern hing das Gemälde in der Ausstellung am Königsplatz.

An jenem Abend, nachdem Lankdendever sein Bild beendigt, feierten sie ein Fest. Es war sehr schwer für Ottilie gewesen, diesesmal eine Ausrede zu finden, um in der Stadt bleiben zu können. Die Pflegemutter war auch besonders mürrisch, weil sie ihre Gicht wieder spürte.

In jener Nacht gewann Gaston das junge Mädchen ganz. Mit jeder Faser ihres Seins, ihres Fühlens und Denkens strebte sie selbst ihm zu. – Immer kühner wurden sie in der Folge im Bewerkstelligen von Zusammenkünften. Wenn der Künstler Ottilie aber bei Bekannten traf oder auch draußen in Pasing ihre Pflegemutter besuchte, verriet sich keines. Noch ehe der Morgen gegraut, hatte er ihr nach jenen ersten herrlichen Stunden in heißem Enthusiasmus seine Hand angeboten. Sie aber wünschte gerade noch ein bißchen Heimlichkeit, und außerdem wollte ihr jetzt die obligate Verlobung unsinnig erscheinen.

»Wenn du nicht anders willst, dann erst im Herbst,« meinte er.

So trennten sie sich Ende Juli guter Dinge und voll Hoffnung, wenn ihnen die Herzen auch schwer genug dabei waren. Fast jeden Tag schrieb er ihr und sie ihm, und wie das Pseudo-Mutterchen fragte, wurde Ottilie rot und bekannte endlich, daß sie glaube, Lankdendever hätte sie sehr lieb. Allmählich wurden seine Briefe seltener, dann auch kürzer und kühler; endlich kam einer, in dem er sehr klagte, daß seine Familie, die ungemein stolz sei, sich auf das energischste gegen seine Heirat stelle, und daß sein Vater gerade besonders schlechter Laune sei, da er bei Spekulationen eine Menge Geld verloren habe und er, – der Sohn, – also einstens keineswegs mehr ein reicher Erbe sein werde. Ottilie antwortete mit einem langen Brief, des Inhaltes, daß er gewiß seine Eltern noch umzustimmen vermöge und daß es doch wahrlich nicht viel ausmache, ob er eines Tages ein mächtiger Kapitalist werde oder nicht. Er sei ja jetzt schon so berühmt, verdiene viel Geld, und sie selbst könne doch auch durch ihr Schaffen die Einnahmen etwas vergrößern. Sie kam sich vor wie eine Ertrinkende und klammerte sich an jedes liebe Wort. Frau von Bodin aber schüttelte den Kopf und sah mit Sorge auf das immer aufgeregter werdende und elender aussehende Mädchen.

»Kind! Kind! Willst du denn nicht sehen, was in seinen Zeilen steht, und nicht hören, was daraus klingt?«

Endlich aber mußte Ottilie es glauben. Gaston Lankdendever hatte also wirklich nicht den Mut, irgend etwas auf sich zu nehmen, – zum Beispiel vielleicht einst kein ganz so üppiges Leben führen zu können, wie er es gewohnt, und so weiter – aus Liebe zu ihr! Nein! Niemals konnte er sie wirklich geliebt haben! Nicht so wie sie ihn! Wie er sich wandte und drehte in seinen Briefen! Zunächst vermochte sie nicht ihm irgend eine Antwort zu geben; dann kam ein weiteres Schreiben von ihm, weit schöner und rührender noch, mit einem eingeschriebenen Paket. Das enthielt einen prächtigen Schmuck von Rubinen und Brillanten und viele Meter weicher elfenbeinfarbiger, chinesischer Seide. Sie möge seine Geschenke tragen und dabei ohne Groll an ihn denken, der ihr ewig dankbar sein würde für all das, was sie ihm geschenkt. Sie schickte ihm das Ganze zurück. Hatte er ihr zuerst wehe genug getan, so war das der Todesstoß ihrer Liebe gewesen. Kein Wort gönnte sie ihm. Nach einem Vierteljahr kam eine Ansichtskarte aus Madeira, auf welcher nur ›ewig‹ stand. Sie zerriß das bunte Papier in Fetzen und schleuderte diese unter schrill- und mißtönendem Lachen in den Bach. So hätte sie sich selbst in lauter einzelne Stücke zerreißen mögen. Ganz vernichten!

In den kommenden Wochen aber konnte sie nicht mehr viel an sich selbst denken. Frau von Bodin erkrankte, und wenn sie sich auch endlich etwas erholte, so bedurfte sie doch einer unausgesetzten und umfassenden Pflege. Ottilie tat mit dem ihr angeborenen Geschick, was in ihren Kräften stand. Was sie nun dem Mütterchen Gutes erwies, wurde wieder zum Segen für sie selbst. Weit leichter kam sie dadurch über das Bitterste ihres Lebens hinweg. Vor dem Schrecklichsten blieb sie ja bewahrt. Mit Grauen dachte sie an all das, was hätte kommen können, und mit Dankbarkeit an das Geschick, das ihr dieses erspart hatte. Wenn sie Mutter geworden wäre? Ein Kälteschauer überlief sie. Allein lag nicht auch so ihr Leben zerbrochen vor ihr? Sie hatte nicht einmal mehr die Kraft, sich zu bücken und die ihr gebliebenen Scherben aufzulesen. Umsonst verbrachte sie weinend gar viele Stunden. Umsonst schleuderte sie bei einsamen, späten Spaziergängen die wildesten Anklagen gegen Gott und die Menschen hinaus in die Nacht, in diese friedlich und still gebreitete Welt. Während die Leidende in ihrem Bett, durch künstliche Mittel eingeschläfert, von ihren ausgestandenen Qualen endlich ausruhte und der mattweiße Schein des kleinen Nachtlämpchens seinen Kreis warf, war das wachende junge Mädchen versucht die alte Frau aufzurütteln, zu wecken, um alles Schwere und Schreckliche im wahren Umfang und in feiner rechten Gestalt vor ihr ausbreiten und aufdecken zu können. –

Tag um Tag versank. Als es sich ungefähr jährte, daß die berühmte Kugelspielerin Lankdendevers fertig und auch alsbald verkauft worden war, starb Frau von Bodin in Ottiliens Armen. Das junge Mädchen, dem es vorkam, als sei ihr beschieden, niemals Freund oder Freundin, keinen geliebten Menschen behalten zu dürfen, hätte sich am liebsten an Stelle der Siebzigjährigen hinlegen mögen. Auf dem verklärten Antlitz stand ja so deutlich geschrieben, welch glücklichen Frieden der Tod zu bringen vermag.

Es dauerte lange, bis Ottilie sich erholte. Dann aber wurde sie fast blühender wie je. Ihre arg vernachlässigte Kunst nahm sie wieder auf und ging abermals zu ihrem letzten Lehrer und Gönner, mit der Bitte, aufs neue bei ihm arbeiten zu dürfen. Gnädig gewährte er es. Während des verflossenen Jahres waren in allen Schaufenstern der Kunsthandlungen zahllose Reproduktionen der Kugelspielerin zu sehen gewesen. Mit innerlichem Abscheu, Entsetzen und großem Herzweh hatte Ottilie zuerst die Augen davon abgewendet. Jetzt kann sie ihre Blicke fast gleichgültig darauf ruhen lasten.

Während vieler Monate emsigen Strebens, – sie hatte auch Schülerinnen erworben, – wohnte sie in Schwabing. Dann zog es sie aber mächtig nach der Stadt, besonders nach der geliebten Isar. So entdeckte sie das hübsche Atelier und das behagliche Zimmer im Haus Herrn Hubmairs, und wurde Abmieterin des Majors.

Wenn sie an ihrem Fenster steht und von der Höhe herabblickt, so ist ihr manchmal, als schwebe sie mit ihren siebenundzwanzig Jahren so hoch über dem ganzen Leben, wie sie nun oberhalb des Getriebes der Stadt wohnt.

Wenn sie auch, – da Verwandte Frau von Bodins in reicher Anzahl da waren – nur Unbedeutendes von dieser hatte erben können, so hatten sich ihre Zinsen doch etwas vermehrt und sie hat, ihren Verdienst mit eingerechnet, gut zu leben. Mit Schmerz, Trauer und tiefster Dankbarkeit denkt sie an die Verstorbene. Ottilie hat es wirklich gut getroffen in Herrn Hubmairs Haus. Am behaglichsten ist es ihr aber erst darin, seit im Frühling Frau Professor Halliger ins Haus gezogen ist. In einer ihr befreundeten Familie hatten sie sich getroffen und dort die gegenseitige Bekanntschaft als Hausgenossinnen gemacht. Ottilie hatte sofort das Gefühl gehabt, als hätte sie ein großes, wertvolles Geschenk empfangen.


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