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Vierundvierzigstes Kapitel.

Als die Exzellenzen, nachdem sie die Nichte in einer anderen Droschke geborgen, in der ihrigen sitzen, tauschen sie, wie schon öfter, gelegentlich der eben beendeten Reise ihre Meinungen über die Launenhaftigkeit Lises aus. Frau Hela findet, daß diese sich vielleicht äußerlich sehr vorteilhaft, innerlich jedoch jedenfalls zum Nachteil verändert habe. Wie sonderbar hatte sich das junge Mädchen doch während dieser Woche benommen! Eine überreiche Skala unberechenbarer Empfindungen hatte auch nach außen Ausdruck gefunden. Zuerst äußerte es über die bevorstehende Reise eine geradezu ausgelassene Freude; an deren Stelle aber trat sofort nach der Abfahrt plötzlich eine große Gedrücktheit, so daß kaum ein paar Worte aus ihm herauszubringen waren. Darauf wieder, wie durch die Pracht der Natur hervorgelockt, gab sich Lise einer jubelnden Heiterkeit hin, die viele Tage, jedoch jäh mit einem still sinnigen Wesen wechselnd, anhielt. Dann wurde sie wieder wortkarg und zeigte ein in sich gekehrtes Wesen, Teilnahmslosigkeit, einen ausgeprägten Zug der Unruhe und Pein. Im wieder bleich gewordenen Gesicht erschienen nicht selten die Lider rot geweint und des Morgens schwarze Ringe unter den Augen als Spuren schlafloser Nächte. So war das junge Mädchen nicht mehr hübsch! Seine überfeinen Züge verschwanden ganz, völlig vernichtet durch alle diese reizlose Temperament- und Farblosigkeit.

»Ich finde, mein gleich beim ersten Wiedersehen nach längerer Zeit gewonnener Eindruck bestätigt sich: Lise gleicht wirklich immer mehr ihrer launenhaften, unberechenbaren Mutter,« schreit geradezu die Frau Ministerin,, um das Rasseln der Droschke zu übertönen, ihrem Mann ins Ohr, der nicht zu widersprechen wagt. Trotz allem hat er ein freilich sehr heimliches Faible für die reizende Schwägerin. Seine Gattin kann sich gar nicht beruhigen.

»Einmal und nicht wieder! Ich danke für ein solches Anhängsel zur Erhöhung der Reisegenüsse. Schlecht erzogene Menschen waren mir stets ein Greuel. Schade, sehr schade, daß bei Lise, die voll guter Anlagen war, der Mutter Einfluß endlich so sichtlich überwiegt.«

Dabei macht Exzellenz Frau Ministerin, indem sie fast die Scheibe einstößt, mit der langen, schmalen Hand eine Bewegung, als wolle sie damit andeuten, daß sie mit der Nichte fertig sei. – –

Fröstelnd, enge in ihren Reisemantel gehüllt, sitzt indessen Lise in einem alten scheiternden Gefährt, das wackelig und langsam über das Pflaster rollt. Die Mutter würde überrascht sein durch die heutige, um einen ganzen Tag verfrühte Heimkehr der Tochter. Eingetretenen heftigen Schneefalles halber hatte der Onkel die zeitigere Rückreise gewünscht, und Lise, von ihren Verwandten nicht daran gemahnt, hatte in der Aufregung ganz vergessen eine Depesche abzusenden. Aber was tut das auch? Sie kommt ja heim! Diese behaglichen, hübschen Zimmer sind immer warm und wohnlich und stets für sie bereit. Wie sehnt sich das junge Mädchen nach ihnen, wie haßte sie zuletzt geradezu jeden Raum, jedes Bett eines Hotels! Vielleicht würde sie zu Hause auch wieder schlafen lernen! Nur eine Nacht ruhigen Schlummers, frei und erlöst von ihrer Last, ihren Kopf an der Mutter Brust bergen dürfen! Wie konnte es nur geschehen, daß sie früher, so lange, lange – niemals das Bleigewicht der Schuld empfunden, und daß es ihr erst jetzt richtig zum Bewußtsein kam, in dieser Zeit der Liebe, einer heißen, tiefen, die sie nach und nach zum Weib gemacht, ihr Augen und Ohren geöffnet hatte. Das war es! Augen und Ohren geöffnet und – das Herz!

Wie jüngst von dem Felsen, vor dem sie, von der warmen Sonne umspielt, gestanden, so fielen auch von ihrem Herzen die Eisstücke ab. Wie auf dem spröden, harten Stein das zarte Grün in winzigen Fäserchen sproßte, so glomm es auch in ihrem Gemüt auf, das eines neuen Lenzes Sonne erwärmte und erhellte. Sie schien hinein in alle Ecken und Winkel, daß nichts mehr dunkel blieb. Zuletzt aber kam auch noch der Sturm! Er fegte es durch und durch, und kein Stäubchen haftete mehr darin vom alten. So hatte Lise ein funkelnagelneues Herz und fühlte es mit hoher Freude bereit ihre herrliche Liebe zu bergen.

Leichten Schrittes, frohen Mutes war sie eines Tages über den Berg gegangen, dem Onkel und der ächzenden Tante Hela weit voraus. Im Tal stand eine alte, wundervolle Kirche, bunt und freundlich und umsponnen von dem Zauber abgeschiedenster Waldeinsamkeit. Wie die drei eintraten, schlugen ihnen Weihrauchdüfte schwer entgegen. Im Halbdunkel vor dem Hauptaltar knieeten gebeugte Gestalten auf den bereit gestellten Bänken. Ein greiser Priester ging die Reihe entlang, brach mit seinen zittrigen Fingern von der geweihten Hostie und gab jedem Gläubigen, wenn ihm danach verlangte. Stets aufs neue, rastlos, monoton und doch eindringlich und ergreifend schallte dabei des alten Mannes Stimme durch das Gotteshaus.

»Herr, ich bin nicht würdig, daß du eingehest unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund!«

Gleichgültig wandten sich Eckebergs, die sich in der Fremde nicht verpflichtet fühlten, den Gebräuchen des so spät erst angenommenen Glaubens nachzukommen, zum Gehen. Lise aber blieb wie gefesselt stehen, trotzdem sie nie eine wirkliche Gläubigkeit, dem tiefsten Innern entsprossen, besessen hatte. Sitte und Brauch, Konvenienz, das ›Es gehört sich so‹ hatten sie in Wahrheit allein in solchen Dingen geleitet. Jetzt aber fühlt sie sich plötzlich getroffen von ewigen Worten, dem Urquell der Güte und Demut entstammend. Als wäre auch sie eine der Gläubigen, so kniete Lise nieder neben einer inbrünstig betenden Bauersfrau, der die Tränen über das faltige, wie aus Holz geschnitzte Gesicht rannen. Nein, – nein, sie war nicht würdig! Nicht würdig dieser großen, heiligen Liebe, die ganz von ihr Besitz genommen hatte, die sie bessern würde. Nicht würdig fühlte sie sich dessen, der ihr der Herrlichste dünkte; mit diesem Herzen, das sie für gereinigt gehalten hatte und in das sich nun ein Schuldgefühl breit eingenistet hatte. Eine halbvergessene Schuld, deren Bedeutung und Größe sie nie bis dahin wirklich empfunden, auch nicht hatte empfinden wollen. Hoch reckt sie sich auf, scheint sich sogar noch zu vergrößern und zu vermehren. Da! Gleich daneben noch andere: Schuld der Heuchelei, der Selbstsucht, des Eigennutzes, der Grausamkeit! Ein Verbrechen des Raubes auch! Wird das nicht schwer bestraft? O, sie hatte geraubt! Der Mutter den Teil eines Schatzes entrissen, einen anderen Teil ihr listig verleidet und weggeschmeichelt, um nichts wieder dafür hineinzutun in die leeren Hände der Armgewordenen. Dann öffnete sich eine Spalte von Lises verschlossenem Herzen, das nur Egoismus kannte, und ließ, sorgfältig achtend, daß nichts anderes sich mit einschleiche, einer Liebe Raum. Aber was vor Monden gekeimt, was war es gegen das, was heute in ihr arbeitete? Ja, heute! Zu groß, zu herrlich war ja ihre Liebe zu Horst von Mesting, als daß sie Platz hätte haben können neben Sünde und Schuld.

»Herr, ich bin nicht würdig,« und gleich darauf: »Aber sprich nur ein Wort, dann wird meine Seele gesund!«

Tränen liefen über Lises Wangen durch die eiskalten Finger, die sie vor die Augen preßte. Beichte, Sühne, – gut zu machen suchen, was sie gefehlt! Aber ist es denn je wieder gut zu machen? Sie stöhnte auf, und die Bauersfrau neben ihr warf einen mitleidigen Blick auf den armen, blutjungen Hascher. Der mußte wohl Arges auf dem Gewissen haben!

Von außen tönte die scharfe, ans Befehlen gewöhnte Stimme des Ministers, der die Nichte rief. Zögernd nur erhob sie sich. Zögernd auch trat sie zur Ausgangstür. Noch immer verteilte drüben der Priester das heilige Brot, und das Christusbild über ihm, das ein breiter Sonnenstreifen hell überquerte, erhielt für Lise Horst Mestings Züge und blickte sie streng an. Darunter aber die Heilige Jungfrau glich der Mutter! Schmerzvoll blickte sie auf ihr Kind, doch zugleich traf es ein Strahl allerbarmender, allverzeihender Liebe aus ihren gütigen, klaren Augen.

Zur Mutter! Zur Mutter!

Die Tage schlichen. Qualvoll dehnten sie sich hin. Endlich, endlich wurde die Heimreise angesetzt. – –

Noch immer wackelt das loddrige Gefährt die Maximiliansstraße entlang. Wenn Mutter, die eben wieder aus Seedland zurück ist, nun gerade nicht zu Haus wäre? O, wenn es sich doch so träfe! Dann würde Lise Zeit bekommen sich zu sammeln, ruhiger zu werden. Vergeblich bemüht sie sich, einen Rest früherer Kaltblütigkeit und nüchterner Überlegung zurückzuerobern. Endlich gelingt es ihr doch so weit, daß sie sich sagt, es wäre Wohl am besten, erst ein paar Tage vergehen zu lassen, um sich der Mutter indessen mehr und mehr zu nähern und sich die entsetzliche, erniedrigende und doch einzig erlösende Beichte dadurch zu erleichtern. O – wenn Pastor Mesting jemals von dem Geschehenen erführe, – was würde er – – da hält der Wagen vor dem Haus. Mit bebenden Fingern gibt Lise dem Kutscher das Fahrgeld, schwer atmend ersteigt sie das vierte Stockwerk.

»Jessaß, d' gnä' Fräuln!« begrüßt die überraschte Marie der Herrin zurückkehrende Tochter. Diese sieht den blonden Kopf Hanserls zwischen Tür und Angel auftauchen, sofort aber auch wieder verschwinden. Da spürt Lise schon wieder einen Stich von Reue. Darauf die gelle Stimme Gertruds von deren Zimmer her:

»Ist ja nicht möglich, sie sollte doch –«

Ein rascher, leichter Tritt, gleich darauf halten sie sich umschlungen. Erst dann sehen sich beide so recht an. Lise überläuft es heiß und kalt beim Anblick der Mutter. Dagegen wieder ruhen deren Augen lange und forschend, sehr betroffen auf ihrem Kind. Wie verändert dünkt es ihr, älter, so anders geworden als bei der Abreise vor wenigen Wochen. Gertrud will eben zu einer Frage nach Lises Befinden ansetzen, da, – plötzlich sinkt diese, alle klug überlegten Vorsätze vergessend, überwältigt und erschüttert vor ihr nieder und umklammert mit beiden Armen der Mutter Leib.

»O Mutter, Mutter, was habe ich dir genommen, was habe ich dir angetan!«

»Was ist das? Ums Himmels willen, Kind, Lise, stehe auf, sprich, was ist geschehen, wie kommst du mir heim?«

Sollte sie nun neues, doppeltes Leid erfahren durch das, was ihre junge Tochter überfallen? Wie völlig von Sinnen will ihr diese scheinen mit ihren wilden, reuigen, unverständlichen Anklagen.

»Komm, – stehe auf, Kind, lege erst ab, – so, – hier ist auch Wein, – stärke dich und dann erzähle mir in Ruhe!«

»Nicht gütig sein, Mutter, nicht so, – ich, – ich – habe dich elend gemacht!«

»Du? Mich?«

Frau Halliger findet keine Brücke zu den Worten ihrer Tochter. – – – –

Als Lise endlich dann geendet, lehnt Gertrud bleich, mit abwehrend vorgestreckten Händen, entsetzt das junge Mädchen anblickend, an der Wand. Klirrend und prasselnd geht draußen, – vielleicht in der Küche, – etwas entzwei. In leidenschaftlichem Schluchzen liegt Lise vor der Mutter und stößt immer wieder verzweifelt hervor:

»Verzeihe mir, Mutter, – vergib, o vergib.«

Dann stürzt sie aus dem Zimmer. Gertrud weiß gar nicht, daß bald darauf die Tochter wieder hereinkommt und sie dann abermals verläßt.

Sie kann sich nicht vom Fleck rühren; eine förmliche Lähmung hat sich ihrer bemächtigt. Nur ihr Geist arbeitet rastlos, ohne Erbarmen, weiter und weiter. So deutlich, als wäre es gestern gewesen, steht ihr ein Bild vergangener Tage vor Augen: die blutjunge Lise mit flammenden Wangen vor dem Kamin der Seedlander Studierstube knieend. Dort drüben der nach Wunsch der Mutter peinlichst geordnete Schreibtisch, das Heiligtum des verstorbenen Vaters! Nun verschwindet dies alles, und aus unklarem Gewirr hebt sich Häßliches hervor, das, was nun folgte: Diebstahl, Lug, Trug, jahrelange Heuchelei – der Mutter kalt aufs Herz tretend, sie spielend um einen großen Teil ihres Glückes bringend. Frau Halliger öffnet wieder die Augen, die sie wie übermüdet geschlossen hatte. Da drüben! Stand nicht Lise dort? Niemand, – nichts, lauter Luft! Aber da, – hier auf ihrem Schoß, – Papier, – Blätter, – sie schreit auf, tastet darnach und drückt sie dann ans Herz wie einen Schatz. Rolands klare Schriftzüge führen zuerst vor ihr ein Bacchanal auf. Lange kann sie nichts klar erkennen, bis endlich Zeile um Zeile, Wort für Wort für sie deutlich wird.

Den Kopf tief darauf gebeugt, liest die erschütterte Frau eine Überschrift: »Mein heißgeliebtes Weib!« Die Augen gehen ihr über, sie muß die Worte küssen. »Roland, mein Roland!« Dann ergreift sie das Blatt aufs neue. Sich zur äußersten Ruhe zwingend, liest sie, was der Verstorbene vor vielen, vielen Jahren hier für sie geschrieben. Gelb geworden und zerknüllt ist das kostbare Dokument:

»Draußen ist es so dunkel! Aber diese Finsternis zieht mich heute gerade an. Sie breitet sich vor mir wie ein schwarzes Meer ohne Grenzen, in dem man umherirren, aber nur ahnen kann, wenn Großes vorgeht. In seinen dunklen Wogen, die langsam und breit, so glatt und still wallen, regen sich Milliarden von Keimen, erwachsen Schicksale. Ein einzelner Baum wird im Finstern zum Märchen. Am hellen Tag geht man achtlos an ihm vorüber, denn er sticht in nichts ab von seinen Kameraden, die hier und dort umherstehen. Jetzt aber streckt und reckt er sich seltsam phantastisch über dem Erdboden empor.

»Wenn ich mich nun durch das Dunkel, – durch ein seelisches Dunkel, – beeinflussen lasse, so tue ich es bewußt. Ich will nicht warten auf den hellen, kecken Tag, der Nüchternheit breiten wird über die Gebilde, die vor mir, zum Greifen dicht, jetzt erstehen. Ich will nicht dadurch Mut und Stimmung verlieren, für Dich, mein geliebtes Traudl, meine treue Frau und guten Kamerad, niederzulegen, was ich Dir niemals sagen könnte, Dir aber doch mitteilen muß. Es wird Dich seltsam bedünken, daß es noch etwas geben soll, was unausgesprochen bleiben müßte zwischen uns? Aber was ich Dir zu sagen habe, – ist wirklich zu zart, zu fein und zerbrechlich, es trägt einen hauchartigen Duft, den das erste lautgesprochene Wort vernichten würde. Meine Einleitung müßte am besten lauten: Vergib mir, Gertrud!

»Was mich nun stützt und hält, ist wohl einzig die Überzeugung, daß nur Irrtümer die Sprossen der Leiter bilden, an der wir nach oben streben. Wo und wie sollen wir Wahrheit schöpfen, wenn nicht aus der Quelle des Irrtums?

»Ungewiß wie das Dunkel, in das zu dieser Stunde Seedland eingehüllt ist, breitet sich vor mir die Zukunft so gut wie vor allen andern Menschen. Ich bin auch nicht etwa von schweren Ahnungen eines baldigen Todes gequält. Ganz unsicher, wann, und ob ich gerade an meinem Leiden sterben werde, schreibe ich das nieder. Mein Haus habe ich wohl gut bestellt. Würde ich auch zur Stunde abgerufen werden, könnte ich dennoch mit dem Bewußtsein scheiden, alles dazu getan zu haben, meine realen Angelegenheiten so zu ordnen, daß meinem Weib hunderterlei Mühen, Sorgen und Plackereien erspart bleiben. Du warst auch stets vernünftig genug, ruhig anzuhören, wenn ich es für gut und recht fand, Dinge mit dir zu besprechen, die ich für meinen Todesfall geklärt oder festgestellt wissen wollte. Aber es gibt ja noch anderes, nicht so Faßbares. Eben dieses Zarte, Zerbrechliche! Nimmermehr könnte ich es Dir sagen; ich weiß auch, daß das so bleiben wird, und sollte mir noch lange, lange vergönnt sein zu leben. Ich schreibe hier ›vergönnt‹ nieder. Wenn ich nicht hinzusetze ›verurteilt‹, so geschieht es, weil mir erstens im Vergleich zu anderen keine unerträgliche Überfülle körperlicher Schmerzen und dabei ein intakter Geist geblieben sind. Ich kann arbeiten und sehe noch mit vollem Bewußtsein die Schönheit der Welt, wenn auch in zunehmend beschränkterem Maß. In höherem, ausgedehnterem aber habe ich sie ja früher genügend genossen. Auch deshalb schreibe ich ›vergönnt‹, weil ich das Bewußtsein habe, Dir, trotzdem mein Dasein einen Hemmschuh für die Entwickelung Deines glücklicheren Schicksals bedeutet, dennoch nicht zu schwer Dein junges Leben zu belasten und es selbst nicht allzusehr zu verbittern durch die ungeheure Bürde, die Dir durch mein körperliches Leiden aufgeladen wird. Aber die Hauptsache, – ich erwähne sie absichtlich zuletzt, – wie soll ich wohl von Verurteilung sprechen, wenn ich mit unseren Kindern an Deiner Seite weilen darf? So kommt zu guter Letzt der Egoist heraus. Wenn aber der Tod naht, so darf ich ihm doch auch wieder nicht zürnen, ihm, dem Friedensbringer, – dem Allerlöser! Zucke nicht zusammen, mein geliebtes Weib, wenn Du lesen wirst, was nun folgt: Ich wiederhole es, vergib mir, denn ich weiß, daß ich eine Schuld habe. Sie liegt weit zurück, und zu ihrem Bewußtsein bin ich erst spät gekommen. Erst dann, als Jahre darüber hingegangen waren seit unserm Hochzeitstag, erst dann, als Detlev von Dombrowsky zu uns nach Seedland gekommen. Allmählich, langsam nur, aber dann starr und unverrückbar wie ein Fels, erstand diese Schuld vor mir, durch eine Erkenntnis, die mir erglommen war gleich einem grausam lichten Morgen, der endlich aufdämmert nach langer, dunkler Nacht. Ich war sehend geworden und blickte mit offenen Augen nach vorwärts nicht nur, – nein, auch nach rückwärts. Was dort lag, das hatten Hunderte von Tagen schon verschlungen, es gehörte der Vergangenheit an, nichts konnte mehr verwischen, was diese mit festem Griffel in die Tafel der Zeit geschrieben hatte. Aber jene Schatten, die von vergangenen in die heutigen und späteren Tage reichen, mußte ich zu bannen und nach Möglichkeit jede Schuld zu vertilgen suchen. Ich will klar und deutlich sagen, was ich meine: Ich hätte einstens das kleine, verängstigte Mädchen nimmermehr an mich reißen dürfen, das in heißem Vertrauen und einer Liebe, die nichts mit der einzigen, allmächtigen zu tun hatte, seine Zuflucht zu mir genommen. Ich hätte andere Mittel und Wege ersinnen müssen zur Befreiung dieses bangen, jungen Geschöpfes aus seinem goldenen geräuschvollen Käfig, zur Bewahrung vor dem Drohenden, ohne mich selbst dabei zu bereichern. Aber glaube mir, damals dachte ich gar nicht soweit. Es war kein kalter Egoismus, nichtswürdig in seiner Planmäßigkeit, dabei. – Ich sah, – ich hörte nur Dich, – immer nur Dich! – Blind und taub war ich für das übrige, für jegliche Regung kühler Vernunft und Überlegung, die etwa mein spät und noch kaum errungenes, herrliches Gebiet hätten beeinträchtigen können. Ich sah, ich empfand es in meinem tiefsten Herzen, daß du mich wirklich lieb hattest. Welcher Art diese Liebe war, darüber habe ich mir erst später Rechenschaft abgelegt. Ich erwähnte schon, wann die Erleuchtung über mich gekommen. So langsam, so sanft, wenn auch mit untrüglichster Sicherheit, daß sie nie auf mich gewirkt hat wie ein tödlicher Schlag. Auch nichts des Furchtbaren an Mißtrauen, Eifersucht und peinvollen Zweifeln brachte sie mit. Klar erblickte ich, wie Du und Detlev ohne Zweifel auch bereits erwacht wart, aber nur blinzelnd erst in dieses allzuhell aufflammende Licht blicken konntet. Mein geliebtes Weib, ich kann und will Dir nichts verheimlichen, – ich muß bekennen, daß es schwere, schwere Stunden für mich gegeben hat voll Zwiespalt und furchtbarster Zerrissenheit. Aber an Euch gezweifelt habe ich nie; nie Euch belauert, zu belauschen, zu überraschen gesucht. Ich wußte, daß es keine häßliche Dunkelheit geben würde zwischen uns dreien, und daß Ihr, – wenn Euch je die Kraft zu verlassen im Begriff wäre, tapfer kämpfen, ja, voreinander fliehen würdet. So, als wärt Ihr durchsichtiges Glas, konnte ich Eure stolzen, guten Herzen bluten sehen; und meines blutete mit, aus tausend Wunden. Da kam eine Nacht, die mir den Plan eingab, dem Schicksal vorzugreifen und unser aller Qual ein Ende zu machen, Euch Befreiung zu bringen. Wie ich dann dennoch die Ruhe fand zu kühler, nüchterner Überlegung, ist mir heute ganz unerklärlich. Ich kannte eben mein junges Weib und auch Detlev gut genug, um zu wissen, daß jede meiner Handlungen von Euch der Wahrheit entsprechend beurteilt würde. Es wäre mir nie gelungen, durch eigene Hand aus dem Leben zu scheiden, ohne Eure Zukunft, Euer Glück, erst recht zu zerstören. Mit dem Gift hätte ich niemals meinen Leib, vom Schleier ewigen Geheimnisses bedeckt, vernichten können. Wenn auch die Welt, vielleicht jedermann ausschließlich, mein unheilbares Leiden als Ursache dieses Selbstmordes angesehen hätte, Du, – Ihr, – wart viel zu tief in den Kern meines ureigenen Ichs eingedrungen, als daß Euch nicht mit Flammenschrift vor Augen gestanden hätte: Er ist gegangen, um dem anderen Platz zu machen, um sich zu opfern für das Glück der Frau, die er mehr geliebt wie seine Kinder und wie das eigene, doch schon halb zerschellte Leben!

»Diese Schrift aber hätte vor Euch gebrannt in Ewigkeit, und nimmer wäre Euer Liebesglück gediehen über meinem Grabhügel. Ich schloß das kleine Fläschchen, das so Bedeutsames einbegriff, fort, für immer und – litt mehr denn je. Wie gut beherrschtet Ihr Euch beide, wie tapfer und stolz zugleich gingt Ihr vor! Nach und nach kam ich zum Bewußtsein, daß es doch das einzig Richtige gewesen, wie ich gehandelt. Ich sah freilich mit inneren Schmerzen Dein Weh, aber auch mit tausend Freuden Deinen Sieg, und dabei sah ich ein Gebäude Deines Trostes immer höher wachsendester gedeihen, – unsere Kinder! Deine Mutterliebe würde es sich zu erhalten, – wenn es not täte auch zu erringen wissen! Mit wehmütigen Freuden auch sah und fühlte ich, was ich Dir zu sein vermochte, und daß Dein Leben nicht etwa sonnenlos dahinglitt im Schatten herber Enttäuschungen und schmerzlicher Entsagung. Seltener wurden die Stunden, da ich in innerer Qual das Schicksal anflehte, mir den Tod und Dir dadurch Freiheit und endliches, wahres Liebesglück zu bringen. Allmählich lernte ich, trotz wiederkehrender, schmerzlichster Empfindungen bei Deinem Anblick und bei dem Gedanken an das, was Dir mangelte, – mich fügen allem, was ein Stärkerer über uns verhing. Fatum! – Resignation! Ich lernte mich sonnen in den warmen Strahlen Deiner tief freundschaftlichen Liebe, die ihren milden, steten Schein über meine Lebensstraße ergoß. Ich wußte, daß keine Wolke ihn je dauernd zu bannen vermochte. Nicht mehr wie früher griff ich mit bebender, tastender Hand vergeblich nach unerreichbaren Gestirnen, sie Dir in den Schoß zu werfen, um dann meine Ohnmacht, Dich völlig beglücken zu können, mit bitteren Tränen beweinen zu müssen.

»Die Zukunft hüllt sich in den Schleier der Hoffnung, die Vergangenheit in den der Erinnerung; völlig befreit zeigt uns nur die Gegenwart ihr Antlitz. Ich muß mich nun bemühen, ein freundliches Gesicht zu zeigen, sonst ist, was ich tue, halb. Soll doch diese Gegenwart, wenn sie einst entschwunden. Dir durch den rosigen Schleier schöner Erinnerungen nachlächeln.

»Lasse mich Dir nun aussprechen, was der Endzweck dieser Zeilen ist. Sie sollen Dir Warnung und Bitte zugleich sein. Habe ich Dich umsonst die langen Jahre, wie Du sagst, führen dürfen? Kenne ich Dich nicht völlig? Habe ich Dein ganzes Wesen und Sein nicht in mich aufgenommen? Alles glaube ich bejahen zu können. Und deshalb wage ich zu sagen: Ich kenne Dich! Weil ich Dich aber zu kennen glaube, so weiß ich auch, daß Dein zum Grübeln geneigtes Wesen, Deine übergewissenhafte Art leicht die Schranke werden können zwischen Dir und – Deinem Glück. Du wärst wohl imstande. Dich verpflichtet zu fühlen mir die Treue übers Grab hinaus zu wahren, vielleicht aus dem Gefühl heraus, damit eine – ich sage Dir eingebildete – Schuld sühnen zu wollen. Eine Schuld! Nein, – dessen, was geschah, spreche ich Dich frei! So bitte ich Dich, wenn ich sterben sollte, bedenke Dich nicht, in das aufgesprungene goldene Tor des Lebens einzutreten, es freudig zu erstürmen und Dich meiner dabei zu erinnern als des besten treuesten Freundes, den Du je besessen. Ich liebe Detlev von Dombrowsky von Herzen. Ich achte ihn hoch und schätze ihn in allen seinen trefflichen Eigenschaften, die ich wohl ergründet. Mehr noch als ich das sonst getan hätte, habe ich mich in Erkenntnis dessen, was unsichtbar entstanden, in ihn hineinzufühlen getrachtet. Für Dich, mein Traudl – für Dich! Um genau zu wissen, wer jene Hand ergreifen wolle, die ich fest, wohl allzu fest gehalten habe.

»Wann wird Dir volle Erfüllung werden können? Bisweilen denke ich, in nicht allzufernen Tagen, bald wohl, recht bald, dann aber wieder rückt das Erwartete weiter und weiter hinaus. Alt werde ich ja kaum! Es ist kein frevelhafter Wunsch, den ich hege, wenn ich hoffe, noch so zeitig gehen zu dürfen, daß Dein goldbraunes Lockenhaar keinen Silberfaden weist und Deine reine Stirne, dieses äußere Zeichen Deiner ungebrochenen Kindlichkeit wie Deines scharfen Verstandes, faltenlos geblieben sein kann.

»Mir ist, als hätte nie ein Mensch ein so reiches Leben gelebt wie ich! Nur daß ich ein Schönstes dabei rauben mußte! Aber es kommen Augenblicke, da eine Stimme, die mir aus Quellen höchster verborgener Weisheit ihre Kraft gesogen zu haben scheint, mir zuflüstert, daß nicht umsonst war, was wir alle drei, jedes in seiner Art, gelitten. Ich denke mir, daß all Deine Opfer, Deine Schmerzen zusammen geholfen haben werden, Dich höher zu tragen zu dem Gipfel, dem der edle Mensch immer zustreben wird.

»Zweck- und nutzlos kann sein, was ich hier auf diesen Blättern aufzeichne, je nachdem der Würfel meines Schicksals fällt. Vielleicht aber kommt es auch anders. Darum noch einmal: Werde als Detlevs Weib so glücklich wie nur möglich, also ohne Sorgen, Gram und Gewissensbisse, und ernte froh die goldenen Früchte Deines Lebensbaumes, die Du Dir redlich verdient. Ich weiß, daß Ihr beide meiner stets in Treue gedenken und mein Gedächtnis nicht nur von Euch selbst, sondern auch vor den Kindern, die jetzt noch klein und unverständig sind, heilig halten werdet.

»Unser ganzes Dasein ist ein Nachschleppen der Vergangenheit; täglich wächst sie hinter uns. Die Zukunft, erst riesig vor unseren Blicken ausgedehnt, wird mit jedem unserer Herzschläge kleiner. Unerbittlich mäht die Gegenwart mit scharfer Sichel die goldenen Halme unserer Hoffnung vor uns weg und wirft sie hinter sich zu den Garben, die unsere eigentliche Ernte bilden: zur Erinnerung!

»Die Zukunft, sei sie kurz oder lang vor Dir gebreitet, sei Dein! Mir gönne nur den ersten Platz in Deinem Gedenken einer Vergangenheit, die Du nie allzusehr beklagen mögest!

»Öffne weit Deine Arme, mein Weib, mein guter, treuer Kamerad, mein Traudl, und schließe das Kommende darin ein! Werde so glücklich, wie Du brav und tapfer gewesen!

Dein Roland.«

Kein Laut kommt über Gertruds weiße Lippen. Dieses Mysterium da vor ihr, gebettet in viele schwarz-weiße Blätter, überwältigt sie. Einen Herzschlag lang meint sie noch, durch ein weit offenes Tor übersonntes, blumiges Land zu schauen, dann senkt sich schwer eine dunkle, alles begrabende Wolke darauf herab. Eiseskälte bringt sie. Bis zum Herzen dringt der Frost. Kalt, kalt, und – tiefe, schwarze Nacht! –

Bestürzt blickt Grete Mannes dann bei Tisch von der Mutter auf die Tochter und verstummt sehr bald verschüchtert in ihren forciert heiteren Berichten über das Wachsen und Werden der Villa, in welcher schon die Hebefeier festlich begangen worden ist. Auch das Hanserl schaut mit seinen glänzenden Blauaugen erstaunt und bedrückt rundum. Frau Halliger zieht sich wegen heftiger Migräne gleich nach dem Essen auf ihr Zimmer zurück; Lise gibt dafür, daß sie das gleiche tut, Angegriffenheit von der Reise an.

Hanserl aber geht zu der mit einer Zeitung, in der sie gar nicht liest, versehenen Tante Grete hin, legt die Arme auf deren Schoß und fragt eindringlich:

»Krank sind's halt alle zwei, – gelt?«

Dicke Tränen, für die es doch wieder keinen rechten Grund angeben könnte, sind ihm in die Augen geschossen. Dem jungen Mädchen geht es ebenso; es bejaht die Frage der Kleinen durch Kopfnicken und ist selber gänzlich verwirrt, denn es weiß ja gar nichts. Dann aber springt Grete auf. Luft! Luft! Sie nimmt das schon wieder lachende Kind an die Hand, das sein Gesichtchen einen Augenblick zärtlich hineinschmiegt, und geht mit ihm lange spazieren. – –

Gertrud hatte an Buchlehner gleich telephoniert, daß er kommen möge, denn Lise sei unvermutet früh angelangt. Nun erwartet sie ihn, aber noch immer erscheint er nicht. Sie sitzt, – steht auf, – setzt sich wieder und tritt von Fenster zu Fenster. Unaufhörlich erreicht das halb erstickte Schluchzen Lises aus deren Zimmer ihre Ohren. Aber nichts regt sich dabei in Gertruds tief verletztem und jetzt wie verhärtetem Herzen.

Der alte Mann kommt endlich und hört. Er ist so erschüttert und angegriffen, daß Traudl trotz des eigenen Seelenzustandes schwer um ihn besorgt ist. Aber die furchtbare Erregung geht vorüber. Nun ist Buchlehner wieder ganz der Starke, Klare, Milde.

Andächtig geradezu blickt er auf die vergilbten Blätter, die sich unter der sanft glättenden Hand immer wieder in die alten Brüche legen wollen, die sie vor langem in Lises Tasche erhalten. So wie sie dann waren, wurden sie von feuchten, bebenden Mädchenfingern in eine Schatulle geworfen, deren Schlüssel mit anderen nie aus der Vorsichtigen und Mißtrauischen Aufsicht geriet. Zuerst hatte sie wohl im Bewußtsein ihrer Schuld ganz vermieden, je wieder die Papiere auch nur anzusehen. Nach und nach schwand auch das Geschehene immer mehr aus Lises Gedächtnis; tauchte es aber darin jemals auf, wurde es rasch wieder zum Schlummern gebracht. Jedoch vor längerer Zeit, in einer schlaflosen Nacht, wurde das junge Mädchen doch einmal schwer gepeinigt von der Erinnerung, und die Angst vor Entdeckung der Tat überkam es. Da stand es auf, öffnete die Schatulle und nahm die Papiere zum ersten Mal wieder in die Hand, um sie nun doch im Ofen zu verbrennen, was sie einstens nicht gewagt. Aber wie damals hielt sie etwas Zwingendes ab. Wie Feuer brannten die Blätter mit des Vaters Schriftzügen zwischen den Fingern, und des Verstorbenen Antlitz schien ihr daraus zu erstehen, mit traurigen, vorwurfsvollen Augen. Wie ein Mord wollte ihr erscheinen, was sie eben hatte beginnen wollen. Nein, nein, – weg und dann – zu vergessen suchen. Sie verschloß die Papiere wieder. So, – tot, – vorüber! Sie lebten für sie selbst dann nicht mehr auf, als die Mutter, nachdem der Baron zurückgekehrt, bei den Kindern um ihr Glück gefleht. Nein, damals war Lise sogar erleichtert, daß sie einst so gehandelt.

Mit sanftem Nachdruck legt der Professor den wie vergraben gewesenen und plötzlich entdeckten Schatz in Gertruds Hände zurück.

»Was soll ich dir nur sagen, Trauderl? Ich kann dich eben bloß bitten, jetzt der Sonn' entgegen zu gehen, ins Lichte, Helle zu schauen, dich nicht in düstere Schatten zu vergraben und in d' Finsternis zu starren. Und im Warmen, Leuchtenden lern' allmählich – das Vergeben! Die Zeit allein kann's machen; weiß ja schon, wie schwer es sein muß für dich!«

Gertrud horcht wie eine, die Erlösung aus bitterer Qual sucht, auf das, was der alte, treue Freund ihr sagt, und muß doch zugleich immer wieder nach dem Nebenzimmer hinlauschen. Da rührt sich so gar nichts mehr. Sie kann kein Wort antworten auf den Zuspruch des Professors. Getroffen bis ins Mark, verletzt in ihrem Heiligsten, in dem, was ihr immer am höchsten gestanden und dem sie das größte Opfer zu bringen bereit war, starrt sie trostlos vor sich hin.

»Und schau, mein Traudl! Was die Lisel als dummes unausgewachsenes Ding getan hat, das ist doch auch dummen, unreifen Gedanken entsprungen und – und –«

Die Stimme des Greises zittert in Erregung. Er ist innerlich unglücklich, nicht besser und eindringlicher zu des Mädchens Gunsten sprechen zu können. Ihm selber ist so schwer ums Herz, in dem Groll und heißer Zorn gegen die junge Zerstörerin leben. Aber er fährt weiter fort in feinem Werk. Er meint, er müsse das Kind für die Mutter retten können.

»Die Lisl ist ja doch auch ganz anders worden nachher, ganz anders und besser, – später. Ist sie doch auch selber, aus sich heraus, zu sich kommen. Das heißt – du – Trauderl, – mir ist überhaupt das Mädl, schon wie's da mit die Eckebergs wegg'reist ist, Vorkommen wie ein anderer Mensch!«

Die traurigen Augen Gertruds scheinen sich fast an den Lippen des Professors festzusaugen. Nun muß sie an den Eindruck denken, den ihr die Tochter heute sofort gemacht, beim ersten Blick. Nein, das war kein Kind mehr gewesen! Ein reifer Mensch hatte ihr da gegenüber gestanden.

»Die Lise hat sicher segenbringende Eindrücke empfangen gehabt, die sie so vorteilhaft verändert haben. Ich mein, daß der Umgang mit der Gretel, wenn ich von deinem Einfluß ganz abseh, und dann auch der mit Mesting, für den sie sichtlich g'schwärmt hat.«

»Mesting!« Frau Halliger springt auf, indem sie den Namen laut ausruft.

»Mesting – ja, Mesting,« wiederholt sie. Sie preßt die kalten Hände an die hämmernden Schläfen. Wie wenn eine mächtige, verbergende Wand gefallen wäre, erblickt sie plötzlich die Wahrheit. Nun weiß sie mit einem, was ihr Kind seltsam gereist, es zur Erkenntnis seiner selbst und der Tragweite dessen, was es damals getan, gebracht hatte. Am eignen Herzen hat Lise erst ermessen gelernt, was sie der Mutter zerstört und geraubt. Des Mädchens Neigung zu dem Pastor ist also so stark, so allmächtig, daß sie vollbrachte, was Gertruds heißeste Mutterliebe nie vermocht hatte: Warmes Blut hat diese Liebe dem halb leblosen Körper zugeführt, ihm eine Seele geschenkt und den Gott geweckt in der Brust! So kann ihr Kind lieben! Und da tauchen vor Frau Halliger auch schon zwei andere Gestalten auf! Horst von Mesting und Ottilie Burkstaller! Nun ist ihr, als schwände alles, was ihr Kind ihr angetan, unter einer heißen Welle namenlosen Mitleids dahin. Arme, arme Lise!

Großes Erbarmen drängt ihr ganzes Ich zurück vor dem Weh und Schmerz der Verirrten, die sich wieder zu ihr gefunden in tiefer Reue. Welch herber Enttäuschung geht Lise entgegen! Wieder lauscht Frau Halliger auf irgend ein Geräusch im Nebenzimmer, hört aber nichts. Sie hat Buchlehner fast vergessen, der geduldig wartend, blaß und niedergeschlagen dasitzt und ängstlich Gertrud beobachtet. Nun tritt diese zu ihm und faßt seine Hände: »Du bist gut, Onkel Toni, – weit besser als ich, – du lehrst mich Einsicht, Erkenntnis und – Vergebenkönnen. Hab Geduld!«

Eine furchtbare Angst erfaßt sie dann, indem sie auf die verschlossene Türe blickt, hinter der es so seltsam still geworden. Jäh springt sie auf, drückt auf die Klinke und tritt in das andere Zimmer.

In der Mitte der Stube steht der große Koffer, kleines Handgepäck daneben. Nichts ausgepackt und wieder eingeordnet. Obwohl nur halb auf dem Bett, liegt das junge Mädchen dennoch in bleischwerem Schlaf. Ein kreidiges, durch die weißen Vorhänge noch härter erscheinendes Mittagslicht lagert auf dem bleichen Gesicht, das eine auffallende Reife zeigt, fast wie die, welche der Tod zu verleihen pflegt. Aber der schmerzlich verzogene Mund ist doch noch jung, kinderjung, auch jetzt. Feucht glänzt es an den Wimpern und auf der zarten Wangenrundung. Stumm, – mit krampfhaft ineinander verschlungenen Händen steht, schwer mit sich ringend, Gertrud Halliger vor ihrer Tochter. Dann sinkt sie vor deren Bett zusammen und preßt die Finger fast schmerzlich in die Augenhöhlen, als wolle sie die vorbrechende Tränenflut zurückhalten. Die Schlafende zuckt zusammen, der blonde Kopf hebt sich ein wenig empor, und die entzündeten geschwollenen Lider öffnen sich. Allein gleich wieder liegt Lise reglos wie zuvor, nur Tropfen auf Tropfen rieselt über ihre Wangen auf das Kopfkissen. Eine ihrer Hände ist matt herabgefallen; schwer verspürt die schluchzende Mutter sie auf ihrem Haupt. In der Ecke steht, für den kommenden Tag zur Begrüßung der Tochter, ein mächtiger Strauß lichtgrüner Birkenreiser bereit, die einen herben Duft verbreiten und deren zarte Blättchen leise im Zugwind zittern. Zu der offenen Türe kommt Onkel Toni herein und macht noch rasch eine Bewegung mit dem Rockärmel nach seinen Augen. Etwas Blinkendes hängt dann daran. Er beugt sich zu Gertrud nieder und zieht sie sanft empor:

»Traudl, glaub' nur ans Helle! Alles wird noch gut!«


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