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Siebenunddreißigstes Kapitel.

Wie einen jener vielfarbenen elastischen Gummibälle wirft man sich den Degenhardtschen Namen zu. Hoch empor springt er gegen des Himmels klare, lächelnde Bläue, in die offenen Fenster der Dachstuben und in die Speicherräume, wo Dienstmädchen Wäsche aufhängen; durch schmutzige Regentraufen wieder hinabrollend, unten aufgefangen und in den eleganten Salons weitergegeben, bei Damengesellschaften oder üppigen gemischten Diners. Er kugelt im Kot jeder Gasse, liegt auf den Billards, den Spieltischen und denen der Cafés, auf den Betten der Demimonde, den Marmorplatten der eleganten Waschkommoden, hüpft auf die Gebetbücher der Frommen, die nicht oft genug zur Kirche gehen können, und kommt sowohl in die Hände des schwatzhaften Alters wie in diejenigen unbedachter und vorschneller blutjunger Kinder. Jeder, – jede – treibt gern dieses reizende Spiel, das Langeweile verhindert, lästige Gesprächspausen nie aufkommen läßt und dazu jenes angenehme Gefühl bereitet, das entsteht, wenn ein anderer Name möglichst schlecht gemacht wird und dadurch der eigene nur um so reiner und heller erglänzen kann. Gott sei Dank, daß ich nicht bin wie diese! Wie viele, viele Zöllner bevölkern doch diese runde Welt, die sich so anmutig dreht, immerzu, immerzu und dafür sorgt, daß sie jedem stets ein anderes Bild zeigen kann.

Es werden nicht nur märchenhafte, haarsträubende Gerüchte – man kann sie manchmal wirklich nur ganz leise dem Nächsten ins bereitwillig geliehene Ohr flüstern – zusammengestellt über diese Jüngste der bekannten Degenhardtschen Familie, die, welche so rätselhaft und blutjung einen rückenmarkskranken Professor da hinten, irgendwo in Norddeutschland, geheiratet habe, sondern urältester Kram wird dabei auch wieder ausgegraben. Des einstigen Verkrachens der Isarbank, deren sich nur mehr wenig Menschen so recht entsinnen, ebenso auch der pikanten hübschen Schwestern Isolde und Emmy, die nun im Ausland merkwürdige Rollen spielen, erinnert man sich mit heißestem Interesse. Kein Liebesabenteuer der Künstlerbrüder, das man je erfahren, – vom berüchtigten alten Degenhardt nicht zu reden – keine Blamage des Bauamtmanns, die er sich durch seine vorschnelle, oft böse Zunge zugezogen, keine kühne Schalkswendung aus den Werken Frau Thildes bleiben jetzt verborgen. Alles bis aufs Letzte wird ans Licht gezogen, gründlich durchgehechelt und ins Gigantische vergrößert.

Der bunte Ball verirrt sich auch zwischen die Mauern eines Mädcheninstitutes. Ganz heimlich, scheu, furchtsam und boshaft zugleich, reicht ihn eine der Schülerinnen der anderen, und er rollt – keine könnte hinterher mehr sagen, wer das Spielzeug geworfen, – endlich auch bis zu Lises Bett, worin sie eben aus einem süßen, o so süßen Traum, der durchaus nichts mit ihrem übermorgigen Examen zu tun hat, erwacht. Aber seltsam! Der Traum muß ihr die Augen noch blenden. Sie sieht nur ein winzig kleines, harmloses Kinderbällchen, so, wie es Tausende gibt und wie sie so leicht verloren werden auf Nimmerwiedersehen. Wo ist die alte, zwiespältige, kleinliche und empfindliche Lise hingekommen? Die jetzige zuckt fast leichtsinnig die Achseln. Ph, wenn die Leute nur zu schwatzen haben! Und wenn es dann so dummes Zeug ist! Mutter und Manzinger! Das ist ja lächerlich! Ja, wenn es noch Dombrowsky gewesen wäre! Aber Lise ist ihrer Mutter darin ganz sicher. Außerdem kann sie sich jetzt ihre Frühlingsstimmung nicht so verderben lassen. Diese langweilige Examensgeschichte da – jetzt hat sie eben einmal damit angefangen und muß doch auch damit ein Ende machen – reißt sie schon genügend aus ihrem Gedankenparadies, in dem sie sich Schloß um Schloß – das heißt eigentlich Pfarrhaus auf Pfarrhaus – baut. Seit gestern schwebt Lise mehr als sie geht, sie trägt auch ihr feines Näschen zu aller Verblüffung noch höher als sonst, ist aber trotz allem und allem weit netter und liebenswerter in ihrem Wesen als eine ihrer Gefährtinnen es je an ihr gewöhnt war. Das hat diese auch bestimmt, ihr die Klatschereien über ihre Angehörigen doch nicht ganz so gepfeffert, sondern recht abgeschwächt zuzutragen.

Ach, gestern! Wie Lise hundert Vorwände gefunden, um Mesting während seines Münchener Aufenthaltes immer wieder zu begegnen, so findet sie seit seiner Rückkehr nach Seedland eben so viele zu einer Korrespondenz mit ihm. Bald sehnt sie sich nach einer Blume oder etwas Erde von Vaters Grab, bald wünscht sie ein besonderes Buch aus dessen Bibliothek, das sie notwendig braucht. Sie scheut sich auch keineswegs, dann und wann zu tun, als beziehe sich ihre jeweilige Bitte etwa auf einen geheimen oder halb ausgesprochenen Wunsch der Mutter. Der Pastor fühlt sich seit seiner Heimkehr und nach dem Wiedersehen Frau Halligers – freilich hatte die so viel Ablenkung gehabt, daß er sie halbe und ganze Tage nicht hatte sprechen können – seltsam erregt. Dazu die Briefe Lises, die doch sichtlich ein Zeichen sind, daß Gertrud ihn – –. Aus dieser Stimmung und Annahme heraus beantwortet er ein kluges und doch liebenswürdig-kindliches Schreiben des jungen Mädchens, worin dieses ihm für eine Sendung dankt, die er ohne Begleitwort gelassen, ungemein warm und herzlich. Eine Wendung darin lautete: – ›Und so hoffe ich von ganzer Seele, daß es mir eines Tages vergönnt sein möge, meiner kleinen Schülerin von einstens noch viel näher treten und ihr ein – nein der beste Freund werden zu dürfen!‹ Dieses Schriftstück trägt Lise unter dem Kleid, auf ihrer noch recht flachen Brust, und es bildet nicht zum geringsten den schützenden Panzer, an dem der von den Freundinnen geschleuderte bunte Ball abprallt.

Schlau und weise zugleich, berührt das junge Mädchen der Mutter gegenüber selbst nicht andeutungsweise jene Dinge, die ihr zu Ohren gekommen. Wozu? Etwas überspannt und übertrieben, auch oft rücksichtslos gegenüber der Welt ist ja Mutter von jeher. Sie kann es nicht ändern, und sich jetzt, – gerade jetzt mit ihr schlecht stellen? Wie lange wird es noch währen, dann ist sie ihr ja ohnehin entrückt. Ganz schwach rührt sich in dem jungen Mädchen nun doch etwas wie ein Gewissen. Hatte sie nicht so gut wie versprochen, der Mutter immer zur Seite zu bleiben? Lise aber ist zumute, als wäre das vor einer endlos langen Zeit gewesen und als wäre sie nun ein anderer Mensch geworden, der nicht mehr zu verantworten brauchte, was der frühere, alte, gesagt oder getan. Und wer hätte auch gedacht, daß wie vom Himmel geschneit, ihr, der noch so Jungen – –›,weit näher treten – der beste Freund‹, – sie drückt in leidenschaftlicher Bewegung das raschelnde Papier an ihre Brust, und in ihrem, jetzt fast nie mehr blassen Gesicht verstärkt sich noch das blühende Wangenrot.

Sehr wenig kommt sie in den letzten Wochen nach Hause, denn sie hat stramm zu arbeiten. Von den Osterferien ab würde sie dann ganz daheim bleiben und nur mehr für einzelne Stunden die Lehranstalt besuchen. So gänzlich verändert hat Lise ihre früher gefaßten Pläne und Ansichten, daß sie nun förmlich darauf herabsieht und darüber lächelt. –

Frau Halliger und Grete Mannes hätten mit Hanserl, das nun ganz im Haus lebt und nach Kinderart Schmerz und Verlust schon wieder halb verwunden hat, ein idyllisches und harmonisches Leben führen können. Aber – jener bunte Ball! So ist es für Gertrud im Grund ein jammervolles, nervenaufregendes Dasein. Anonyme Briefe fliegen ihr ins Haus; Besuch auf Besuch kommt, – während wieder andere ihrer Bekannten ostentativ ferne bleiben – und man fragt, heuchelt, tröstet und klatscht aufs neue. Nun nimmt sie längst niemanden mehr an. Für die Exzellenzen ist sie einfach Luft geworden. Gott sei Dank! Mit Bruder Otto aber hatte sie eine so tiefgehende Auseinandersetzung, daß sie die Gelegenheit ergriff, sich dabei den jahrelang, noch von ihrer Kinderzeit her, aufgespeicherten Groll von Herz und Seele zu wälzen. Der Herr Bauamtmann, der ohne Gruß, nur mit der Bemerkung eingetreten war: ›so was hab ich lang gewußt, nicht etwa nur geahnt, daß auch du endlich eines Tages eine Mordsschmutzerei über uns bringen würdest,‹ ist merkwürdig still, nachdenklich und klein geworden später abgezogen. Die beiden haben sich seither nicht mehr gesehen.

Nach und nach aber erschöpft sich endlich doch die allgemeine Aufregung, und weder die Eltern noch Carlo und Ludwig reden eine Silbe mehr über den Vorfall. Mit Buchlehner aber, der auch dabei ganz der alte, ruhig, gerecht, klar sehend und urteilend geblieben war, sprach sie sich einmal aus, dann wurde auch zwischen ihnen nie mehr der Fall erwähnt. Nicht ein Hauch des Klatsches verirrte sich in das Schwarzwaldsanatorium zu Manzinger. Völlig ohne Ahnung von dem, was Gertrud Halliger ihm auf dem Altar ihrer langjährigen Freundschaft geopfert, schrieb er ihr interessante, heitere, ja witzige Briefe und berichtete darin auch, wie er fühle, daß seine Nerven völlig gesundeten. Mangel an Zeit und Ruhe vorschützend antwortete sie ihm mit freundlichen Worten meist nur auf Karten.

Eines Tages im sonst so launischen April, der die Münchener Stadt wie mit einem Goldguß überschüttet und in der Ferne die Gebirgskette blau mit silbernen Schneeflächen erstehen läßt, kommt Gräfin Bergheim-de la Croix in ihrer Equipage in der Mittagsstunde bei Gertrud angefahren. Diese steht oben am weit geöffneten Fenster, blickt sehnsüchtig auf die fernen Berge und atmet tief die reine, frische Frühlingsluft ein. Kinder mit Leberblumen, Seidelbast und Palmkätzchen springen unten vorbei, und eine elegant gekleidete Dame trägt bereits ihren neuen Sommerhut, eine Riesenschöpfung, aus einem einzigen Blumenbeet bestehend, spazieren. Langsam fährt der Wagen auf und ab, steif wie Ölgötzen, mit undurchdringlichen Mienen thronen Kutscher und Diener auf dem Bock. Die dunkelgrüne Lackierung und die grauen Seidenpolster des Gefährtes glänzen in der Sonne mit dem silberbeschlagenen, nagelneuen Riemenzeug um die Wette. Gertrud meint bis herauf das Knistern und Knattern darin zu hören. Die Hälse der feurigen Pferde scheinen wie poliert, und ihr Zaumzeug ist vollgekaut mit weißem Schaum. Dann läutet es. Wie lästig, – ein Besuch!

Das neue Mädchen steht hilflos da, weil die vornehme Dame lachend ihren Bescheid, daß die gnädige Frau ausgegangen sei, ignoriert und einfach das nächste beste Zimmer aufklinkt. –

Eine Viertelstunde später sitzt Frau Halliger neben der Gräfin im Wagen, die eifrig und lebhaft, oft geradezu ostentativ auf sie einspricht und den Kutscher die belebtesten Straßen und Plätze wiederholt durchfahren läßt. Der sichtliche Beweis, wie die im höchsten Ansehen stehende Gräfin Bergheim-de la Croix von all den Klatschereien über Frau Halliger denkt, verfehlt seine Wirkung keineswegs. Aber wie schnell lebt man auch heutzutage! Ein Raubmord in Sendling, die Liebschaft einer jungen Prinzessin des Königlichen Hauses mit einem bürgerlichen Offizier, eine überraschende Verlobung genügen vollkommen, den Fall Manzinger und damit Gertrud wie die andern Degenhardts alsbald wieder in den Hintergrund treten zu lassen. So verebben langsam die schmutzigen Fluten des Klatsches wie die der hochgehenden Isar im Sand ihrer zerklüfteten Ufer.

Bald aber muß sich Frau Halliger mit Bitterkeit und heißem Schmerz, den sie aber ganz in sich verschließt, sagen, daß, wenn auch vermutlich nur für eine kurze Spanne Zeit, ihr und Kunz Manzingers Name abermals zusammen in den Kot gezerrt werden würden. Gestern abend hatte ihr die Post ja eine so traurige Kunde übermittelt, die heute morgen durch den vorstehenden Arzt jenes Schwarzwald-Sanatoriums noch bestätigt wurde. Welch ein Gemisch von Empfindungen hatte sie bestürmt, als sie des Freundes kurze Zeilen erhalten:

»Du Wunder, Du Schönstes und Reinstes, lebe wohl! Ich gehe nun doch, denn die Helligkeit, die Du um mich zu breiten verstanden, ist tiefstem Dunkel gewichen. Ich bin zu feige geworden fürs Leben, das mich anekelt. Aber ich sehe ruhige, beseligende Harmonie vor mir, der ich zustrebe. Nächtens winkt mir eine geheimnisvolle Gestalt mit dunkelveilchenfarbenem Mantel. Kind, vergib mir! Dir gilt der letzte, einzige Sehnsuchtsblick, den ich der grünenden Erde noch zurückwerfe.

Dein Dichter.«

So war er doch gegangen! Mit ihm abermals ein Stück aus Gertruds Leben! Er hatte das beste Teil erwählt!

Frau Halliger, deren Nerven am Ende ihrer Spannkraft sind und um die sich Lise gar nicht kümmert, verfällt immer mehr einem Zustand unausgesetzter, heftiger Erregung. Alle Sanftmut, das ruhige Maß ihres ausgeglichenen Wesens, jegliche Langmut und Entsagungsfähigkeit scheinen von ihr gewichen. Namenlose Bitterkeit, herber Trotz, Welt- und Menschenverachtung, dann aber auch eine neu hervorbrechende, glühende, kaum mehr zu beherrschende Sehnsucht nach Detlev, nach Lebensgenuß und Liebe, ergreifen sie derart, daß sie eine andere geworden zu sein scheint. Wohin nur könnte sie fliehen, um einen Winkel zu entdecken, der ihr gestatten würde, wenigstens unbehelligt ihrer vielen Wunden zu pflegen? Wo ein Fleckchen und zugleich einen Wirkungskreis finden, in dem sie als Freie und in Hingabe an eine ernste Beschäftigung – zu vergessen, wenigstens zu verwinden suchen könnte? Wäre sie doch nie in die Heimatsstadt zurückgekommen, der sie sich ja doch im Grund entfremdet fühlt! Wäre sie auch nie wieder in den Kreis ihrer Familie getreten, dem sie innerlich nie recht angehört hatte und von dem sie sich fast völlig weggelebt hat! – Ludwig, Carlo etwa noch, – die Eltern nur bisweilen – stehen ihr ja nahe. Und doch so fern! Hat sie nicht jetzt wieder gesehen, wie sehr, wie sehr? Weit weg im Norden hätte sie bleiben sollen, in Rolands Heimat. Der geliebte Onkel Toni wäre ihr nachgezogen, – ganz bestimmt! Er hätte an ihrer Seite seines Lebens Abendröte verglimmen sehen, und Ludl – bitter schmerzlich verzieht sich ihr Gesicht, – wenn der Sehnsucht bekommen hätte, vielleicht auch noch Carlo, so gäbe es ja eine Eisenbahn, die keine Entfernungen mehr aufkommen läßt. Die Eltern waren sich immer selber genug gewesen! Die Glocken ihres Domes aber hätte Gertrud auch noch vernommen im rasselnden, klingenden, hetzenden Großstadtleben Berlins oder bis in die weite Stille Seedlands hinein. Ah, Seedland! Was liegt alles dort begraben unter dem sorgfältig gepflegten Hügel in der tiefschwarzen Moorerde! Nun schallt plötzlich gerade von dort ein heller, aus einem heißen Herzen kommender Ruf zu ihr, der sie wieder zurücklocken will in jenes Stückchen Welt voll Frieden und Harmonie, das sie einst bewohnt. Einst! Sie fröstelt, obwohl ein Strom warmen Sonnenlichts ins Zimmer fällt, in dem sie, vor sich hinbrütend, kauert, nachdem sie lange auf und nieder geschritten wie ein eingeschlossenes Tier in seinem Käfig. So süß duften die Veilchen in dem Glas vor ihr und drüben die Hyazinthen, die üppig über die Ränder der bläulichen Gläser hinausschießen. Seit gestern schon wieder ein solch großes Stück! Alles rundum treibt und sproßt und läßt sich umarmen von Wärme und goldenlichter Sonnenherrlichkeit. Nur um sie ist's dunkel, – dumpf! – Nichts, gar nichts verspürt sie an Segen und Erleichterung durch ihr Opfer, das sie dem Andenken Rolands und auch den Kindern gebracht. Nirgend eine Helligkeit!

Was soll ihr nun dieser Ruf aus Seedland, der von Mesting kommt? Er bringt ihr nichts, – gibt ihr nichts! Wieder springt sie auf und beginnt die Wanderung. Auseinandergefallen liegen drüben die Bogen auf der Schreibtischplatte, dicht bedeckt mit des Pastors fester, zügiger Handschrift. Ein ganzes Schicksal enthalten sie und das Bekenntnis seiner Liebe zu ihr. Aber was kümmert es sie viel, ob Schuld und Sühne im Leben Mestings etwa eine Rolle gespielt, ob sein stürmisches, früher so ungebärdiges Blut ihn um Haaresbreite in einen Abgrund geschleudert hätte, ob er nun in Seedland auf alle seine inneren und äußeren Erlebnisse herabsieht wie von einem hohen Turm, und ob dort alle seine Entschlüsse zu vollster Reife gelangen? Was kümmert es sie viel, daß er wirklich das geistliche Gewand ausziehen will, so bald es ihm erst gelungen wäre, sich als Schriftsteller – schon lange arbeitet er ja heimlich unter einem Pseudonym – eine Position zu schaffen? Es wundert sie einfach, wie der ihrem Herzen so fern stehende Mann sich so weit hatte hinreißen lassen können und wie er zu all diesem Fühlen gekommen war. Und dieses Selbstvertrauen, auch dieser Optimismus! Das alles dünkt ihr so fremd! Neben Mestings langem Brief liegt bereits unter Kuvert ihre kurze Antwort. Schwer genug war es gewesen, besonders in ihrer jetzigen körperlichen wie seelischen Verfassung die rechten Worte – wenige, die doch so viel ausdrücken sollten – zu finden. Aber sie glaubt es recht damit getroffen zu haben. Auch an ihre Tochter denkt sie dabei. Wenn diese mit ihrem Backfischschwarm, den sie gar nicht so sehr zu verbergen bemüht ist, eine Ahnung davon hätte, daß ihr heimlich Angebeteter den Versuch gemacht, ihr Stiefvater zu werden! Und Ottilie! Kein Zweifel, daß auch sie, – aber nein, bei ihr ist es kein ›Schwarm!‹ Die tut ihr auch leid. So ein Rasseweib, ein vollblütiges, mit reicher Seele und scharfem Verstand! Was hat der Verblendete sich nur zu ihr, Gertrud, – zu verirren brauchen. Gar nichts hatte sie doch gemerkt. Die Neckereien der Brüder und Eltern, die Andeutungen Buchlehners hatte sie immer nur belächelt. Als ob nicht alle beständig die Ansicht äußerten bei jedem und jedem, daß er in sie verliebt sein müsse? Ach was, Mesting ist nur in eine Idee verrannt. Er liebt sie ja gar nicht!

Ach! diese Sehnsucht! Diese unbezwingliche Sehnsucht nach Detlev! – Wenn diese nur nicht wäre! Er hat getreulich wie immer Wort gehalten, – Entsagung und Selbstüberwindung hat er wohl reichlich lernen und üben können, – hat ihr nicht mehr geschrieben, seit sie jene umfangreichen Schriftstücke gewechselt. Aber an Onkel Toni kommen von Zeit zu Zeit seine Berichte; so weiß sie genau, daß sie nicht ohne Nachricht bliebe, wenn in des Geliebten Leben etwas wirklich Einschneidendes geschehen würde. Wie kurz ist die Spanne Zeit in Wahrheit zwischen damals, da sie sich so grausam wieder von ihm gerissen, und heute! Ein schmallippiger, feiner Mädchenmund hatte den Urteilsspruch über ihr und Detlevs Schicksal gefällt! Es kreist wild in Gertruds erregtem Hirn. Ob nun eine Wandlung ihres eigentlichen Wesens vorgegangen ist? – Ob nun das Degenhardtsche Blut doch noch herauskommen wird? Hat sie doch zunehmend das Gefühl, als fielen Ketten, Handeisen und Kugeln, die sie gleich einer schweren Verbrecherin an den Boden gezwungen, von ihr. Sie fühlt sich von einer Kraft, einem Mut, einem zornigen, empörten Wollen, ja Müssen beherrscht, die sie nie so gekannt. Warum eigentlich hat sie nur immer und immer in schwächlicher Demut getragen, was ihr das hämische Schicksal aufgebürdet? Für den wirklich Starken dürfte es eigentlich keinen unverwindbaren Schlag geben. Immer wieder müßte er ausschnellen, sich emporraffen, mit kecker Hand dem widerwärtigen Geschick den düstern Schleier vom Haupt ziehen, ihm die Keule aus den Händen reißen. Wenn aber die Kraft nicht reicht, um geradenwegs und ehrlich zu kämpfen, dann kann man ja sein Ziel noch erschleichen, dem Schicksal meuchlings abzulocken suchen, was es nicht freiwillig geben will. Förmlich aus einem Hinterhalt hervor müßte man es zu überraschen und zu überlisten verstehen! Was hatte endlich damit ihre Mutterliebe zu tun? Wie sollte ihr dabei geschadet werden?

In zitternder Erregung, brennende Röte auf den Wangen, ein Funkeln in den unsteten Augen, stellt sich Gertrud vor den großen Spiegel, der ihr Bild so klar zurückwirft. Sie und ›Unsere liebe Frau!‹ Welch ein Hohn! Diesen Namen, ganze Hymnen darauf, wie oft hatte sie all das aus mehr als einem Mund, in dieser Zeitperiode herumspukender Symbolik, in allen Tonarten variiert, hören müssen. Nein, nein! Sie stampft mit den Füßen, ballt ihre Hände zu festen, runden Fäusten und ruft ihrem Spiegelbild zu:

»Ich will nicht mehr! Will, will, will nicht mehr. Nicht mehr mein Ich betäuben, es endlich völlig ersticken, bloß in wartenden, sehnenden, mutlosen Gefühlen der Leiden, und dazu als Ersatz Wildfremden Gutes tun, die es doch nur mit Borniertheit und mit verständnisloser Undankbarkeit hinnehmen wie etwas Natürliches, dafür Haß, Neid oder Zynismus zurückgebend. Bin ich nicht noch jung, soll ich denn nimmermehr ein Recht an das Leben haben, besitze ich kein Herz? Noch rasch genießen und erhaschen, was ferne leuchtet, es erfassen, ehe es erlischt!«

Und sie kommt sich vor, als wäre sie noch immer Gertrud Degenhardt, – hätte nie einen andern Namen getragen. Sie preßt die Hände aufs Herz und lauscht dann begierig. Über ihr, bei Majors, feiern sie der Ältesten Geburtstag, und eine jugendliche Gesellschaft dreht sich selig im Kreis nach Altmeister Strauß's unverwüstlichen Walzerweisen. Wie es sie da packt mit einem Mal, – wie eine Macht, – eine ganz unbezwingliche! Etwas Dionysisches erfaßt sie. Tanz, Tanz! – Ha, wäre es noch Fasching! Heimlich würde sie von einem Ort zum andern rennen, wo immer es buntes Gewühl, Musik und fröhliche Menschen gäbe und dann tanzen, – tanzen, tanzen. – Wo – wo nur, – wann hatte sie Ähnliches gefühlt? Sie kann und kann es im Augenblick nicht finden und doch erinnert sie sich, wie einstens, irgend wann, ihr die Erfüllung des gleichen Wunsches wie heilende Medizin, wie kühlende Salbe gewesen. Nun taucht auch zwischen ländlichen Gestalten eines Burschen Gesicht vor ihr auf, – trübflackernde Laternen, draußen scheidender Sonnenglanz, aufleuchtendes Herbstlaub! Ja, nun hat sie es! Damals, – wie lange, lange ist es! Wie schön war es gewesen in Sardennen, da jener flotte Tänzer sich so rastlos mit ihr gedreht und – und – was wollte sie doch vorhin? Wie auf eine fremde Erscheinung starrt sie zu dem jungen Weib hin, das mit wirrem Haar, in exstatischem Zustand einer bacchantischen Lust mit erhobenen Armen, die Füße zum Tanze bereit, im Spiegel vor ihr steht. Ist das sie?

Ja, ja, sie! Aber nicht mehr die alte! Es schaudert ihr in selbstquälerischem Wahn. Oh, das ist eine, die endlich doch so hat werden müssen, durch die, von denen sie das Leben erhalten, durch den Einfluß der Umgebung, in der sie groß geworden. War das etwa schon der Beginn der Straße, die Isolde und Emmy beschritten? So würde sie sich ja wohl endlich noch gar in eine Frau verwandeln, wie sie naturgemäß erstehen müsse aus der Degenhardtschen Familie! Immer mehr steigert sich Gertrud in die unsinnigsten Phantastereien hinein, immer mehr zieht sie sich selbst dabei herunter; und doch lebt in ihr keine Sehnsucht so heiß, wie die nach ihren Kindern, die, ihnen alles sein zu dürfen. Von oben kommt Welle auf Welle der schmeichelnden Musik, und es ist, als treibe Gertrud jeder Ton erst recht dazu, auszuführen, was sie vor hat. Mit Gewalt schüttelt sie das Denken an die Kinder ab und gibt sich nur den Gedanken ihrer Liebe hin, der vertriebenen, Verbannten.

»Detlev, Detlev, lasse mich bei dir ausruhen! Du, du kannst ja nicht zu mir kommen, aber ich, ich kann zu dir – – o du!«

Es will sie wie eine Lähmung überkommen. Einen Augenblick kauert sie sich ganz zusammen, im äußersten Winkel ihrer Chaiselongue. Dann aber steht sie plötzlich wieder auf, streicht sich über ihr heißes Gesicht, das einen entschlossenen Ausdruck trägt, reckt sich hoch auf und geht festen Schrittes zur Tür. Mit metallharter Stimme befiehlt sie dem neuen Mädchen, mit dem es ihr recht schwer wird, fertig zu werden, – den englischen Handkoffer aus der Speicherkammer zu holen. Darauf studiert sie das Kursbuch, packt mit ruhiger Überlegung ein Kleid und etwas Wäsche ein, bringt dann selbst eine Depesche weg und schreibt, zurückgekommen, endlich noch zwei kurze Briefe. Einen an Buchlehner, den zweiten an Grete Mannes. Bei der wäre das Hanserl wie der ganze Haushalt in guten Händen! Gilt es doch auch nur für eine kurze, ganz kurze Zeit, denn sie kommt ja bald wieder! Die Hände schlägt da Gertrud vors Gesicht und stößt heiß heraus:

»Nur ein Mal, eine einzige Stunde Detlev wiedersehen und vergessen dürfen!«

Von der Treppe hastet jemand herunter. In den letzten Tagen ist es oft sehr unruhig bei der Sonca, aber niemand weiß, was eigentlich dort geschehen. Oder ist es gar niemand von oben? Wenn nun Grete zurückkäme so früh und unerwartet, – wie unangenehm!

Da, – die Hausklingel! Endlos tönt sie und so schrill. Eilig schiebt Frau Halliger den braunen Lederkoffer, dessen Toiletteneinrichtung die Neue noch blitzblank geputzt hatte, über die Schwelle des Schlafzimmers. Rasch will Gertrud dem Mädchen sagen, daß sie für niemanden zu sprechen sei, allein es ist zu spät. Marie hatte schon geöffnet und, diese fast umwerfend, stürzt eine farbige Gestalt, von Haaren und Stoffen umflattert, vor Frau Gertruds Füße. Ein Glück, daß Hanserl so brav hinten in seiner Stube bei den Schularbeiten sitzt. Das Dienstmädchen steht und starrt wie gebannt aus die ihr nur durch Hausklatsch bekannte Sonca. Wimmernd und weinend umspannt diese die Kniee Frau Halligers und stößt dabei kaum verständliche Beschwörungen aus, welchen nur zu entnehmen ist, daß man die Verzweifelnde um Gottes willen anhören möge. Die Küchenuhr schlägt laut vier Uhr. Nur mehr zwei Stunden, denkt Gertrud unglücklich und will sich von der Schneiderin befreien.

»Was wollen Sie denn nur, Frau Sonca, ich, – ich, – kann jetzt nicht, – ich muß sofort verreisen!«

Die Sonca rutscht ihr über das blanke Parkett des Vorplatzes auf den Knieen nach.

»Jetzt werd's guat,« murmelt Marie und macht Augen, als säße sie auf dem Juchhe während eines ungeheuer spannenden Schauspiels.

»Um Jesu willen, – helfen, – bitte, bitte!«

Ungeduldig reißt sich Gertrud los; sie fürchtet sich fast. Es ist, als ob die Frau wahnsinnig geworden wäre.

»Stehen Sie doch nur endlich auf und spielen Sie hier keine solche Komödie!«

Aber an eine Komödie kann sie schon kaum selbst mehr glauben; ihr Blick fällt auf die mit gespannter, aber deshalb nicht minder blödsinniger Miene dastehende Marie. Mit rascher Bewegung zieht nun Frau Halliger die wirklich ganz entstellt aussehende, am ganzen Körper zitternde Hausgenossin ins Zimmer.


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