Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Die Minuten verrinnen. Unaufhaltsam rückt der Zeiger der schönen, alten Kastenuhr, die schon eine Ecke in Seedlands Eßzimmer ausgefüllt hatte, vorwärts. Noch immer befindet sich die verzweifelte Frau bei Gertrud, die sich gegenüber deren entsetzlichem Zustand vollkommen ernüchtert fühlt. Wäre nicht die Angst in ihr gewesen, nun an der rechtzeitigen Abreise verhindert zu werden, so wäre sie der aus Rand und Band gekommenen völlig kalt gegenübergestanden. Nein, sie hatte nun wirklich genug! Jetzt war sie nicht mehr fähig so tief zu empfinden für anderer Menschen Kümmernisse und Schmerzen. Energisch, mit etwas scharfer Stimme sogar, da alles gute Zureden nichts gefruchtet hatte, befiehlt sie der Schneiderin, ihr Benehmen und Eindringen entweder zu erklären oder sofort zu gehen. Wie von einem erweckenden kalten Wasserstrahl getroffen, schreckt diese empor. So fremd, so, so – sonderbar hat diese Stimme ihr geklungen. So, wie wenn sie gar nicht Frau Halliger angehören könne. Und doch, – da steht die Dame ja selbst vor ihr. Mit so seltsam kalten Augen aber, die einen Ausdruck tragen, – einen Ausdruck, – – mitleidslos, leer, ganz leer! Langsam steht die Schneiderin auf, als käme sie wirklich erst jetzt nach und nach zu völliger Besinnung, und sieht beschämt an ihrer nachlässigen Toilette herab, indem sie eifrig über ihr zerzaustes Haar streicht. Ihre blassen Lippen, das grauweiße, jetzt durch keine Mittel verjüngte und deshalb recht verblühte Gesicht überspielt ein fast blödes Lächeln namenlosester Verlegenheit.
»Ach – entschuldigen – Sie, – gnädige Frau, – ich – ich – bin ja so, – ich glaube, ich bin, – bin krank, – verzeihen Sie – die Belästigung!«
Sie bietet einen so jammervollen Anblick, daß dieser trotz allem seine Wirkung auf Frau Halliger nicht verfehlt. Sie geht rasch zu einer kleinen Etagere, ergreift ein Kristallfläschchen und hält es der Schneiderin, deren Füße so versagen, daß sie einfach auf das Sofa sinkt, unter die Nase.
»So – wird Ihnen nun etwas besser? In Gottes Namen denn,« – sie rechnet, daß, wenn die andere sich kurz faßt, immerhin noch Zeit bleibt, da ja alles bereit ist, – »reden Sie also!«
Scheu, voll Angst wie ein verprügelter Hund, wagt die sonst so kecke Frau Sonca kaum einen Blick auf Frau Halliger zu werfen. Diese macht ihr aber Mut und veranlaßt sie nochmals, das scharfe Riechsalz einzuatmen.
»Nun aber möglichst klar, kurz und bündig, – was wollen Sie, daß ich für Sie tue?«
Die Schneiderin gibt sich alle Mühe, Fassung und Ruhe zu gewinnen und ihrer Stimme Festigkeit zu geben. Sie hebt ihre Hände auf:
»Ach bitte, – nur anhören!«
»Nun also!«
Während des Sprechens gewinnt die Sonca ihre Haltung mehr und mehr zurück. Sie versteht wirklich gut zu zeichnen und zu tönen, und so ersteht, tatsächlich ohne irgend eine Beschönigung, ihre ganze Lebensgeschichte vor der immer interessierter Lauschenden. Erleichtert atmet die Erzählende auf, daß die feine, noble Hausgenossin sie nach all dem bereits Gebeichteten nicht sofort hinausweist.
»Weiter, weiter,« drängt Gertrud.
»Ich wollte also ruhig, solide und fleißig ferner meinem Beruf, der mir Freude macht, nachgehen, bis Hubmairs Trauerjahr um sei und er mich heiraten könnte. Ich habe ihn wirklich immer lieber gewonnen und sein goldtreues Herz erkannt. Da, – neulich, – just am Aschermittwoch war's und Fräulein Burkstaller soeben von ihrer Reise zurückgekommen, erscheint plötzlich ein Mensch, ein Rahmenhändler und Agent, bei mir, dessen Anblick – ich hab ihn ja sofort erkannt, obwohl er nur noch der Schatten seiner selbst ist – mir einen größeren Schrecken einjagte, als wenn der Satan in Person vor mir gestanden hätte. Ich habe Ihnen ja eben von meinem einstigen Geliebten, von dem ich das Kind hatte und dessen Bild bis dahin noch immer über meinem Bett hing, gesprochen. Also der Rahmenhändler war niemand anderes als Ladislaus Pochnitzky, mein einstiger Bräutigam, der mich und das Kind so schnöd im Stich gelassen hatte. Wie dann auch noch das Kleine gestorben, wäre ich um ein Haar aus Gram, Hunger und Elend zur Dirne geworden. Was hatte die Zeit aus dem früher so schönen Mann inzwischen gemacht? Auf den ersten Blick sieht man ihm an, daß er ein durch und durch verkommener, auch kranker und schlechter Mensch ist, – ein gefährlicher dazu. Er hat mich gleichfalls sofort erkannt, obwohl er nicht einmal meinen ihm gut bekannten Namen auf dem Schild gelesen hatte, und muß, da ich gerade besonders gut angezogen war, weil ich mit Herrn Hubmair ein Rendezvous abgemacht hatte, gleich erkannt haben, daß ich in guten Verhältnissen lebe. Er tat nun immer verliebter, kam ganz in Feuer und wurde endlich so zudringlich, daß ich ihn mir kaum vom Leib halten konnte. Nur die Neugierde, zu erfahren, wie ich finanziell wirklich stehe, lenkte ihn dann wieder etwas ab. Ich weiß gar nicht, wie ich so dumm sein konnte, ihm zu sagen, daß ich mich wieder in die Höhe gearbeitet und sogar, daß ich mich mit Herrn Hubmair verlobt hätte. Nun ging es los. Es war ganz furchtbar! Wie unter einem seltsamen Bann stand ich. Ich konnte mich seinen Forderungen gar nicht entziehen und mußte endlich einfach tun, wie er wollte und ihm an Geld geben, was ich im Haus hatte. Ich glaube, auch meine hübsche Brosche mit dem Brillanten, die ich vermisse, hat er mir gestohlen. Er fiel mich dann auch wieder aufs neue an, in einer wirklich tierischen Liebesraserei; aber dagegen gelang es mir doch aufzukommen. Sie haben ja neulich den Skandal gehört und waren noch so gut, nach mir sehen zu wollen, – also endlich, wie er mich so würgte, dachte ich, es sei mein Ende und nahm all meine Kraft zu einem letzten Schrei zusammen. Fräulein Burkstaller kam dann an meine Türe, und wir glaubten, sie hole Hilfe. Da ist Pochnitzky feige auf und davon gelaufen. Wie Sie, gnädige Frau, heraufkamen, lag ich wie völlig lahm auf meinem Bett, habe mich aber zu sehr geschämt, Ihnen oder irgend einem Menschen ein Wort zu sagen. Ein Höllenleben führe ich nun seitdem. Hubmair habe ich sagen lassen, daß ich krank sei und daß er kurze Zeit nicht kommen möge. Da hat er mir gleich einen Doktor auf den Hals geschickt, der darauf erklärte, ich hätte einfach ganz zerrüttete Nerven. Dieser Ladislaus, der Unhold, verfolgt nun den Plan, mir nach und nach, immer unter der Drohung, daß er sonst alles haarklein Herrn Hubmair mitteilen wolle, – denn er wisse genug von dem, was geschah, während ich ihn für verschollen gehalten, ja, mehr als ich etwa ahne, – abzulocken, was ich nur immer besitze. Mein Herr Bräutigam wäre ja so reich; der zahle schon und besonders, wenn ich erst dessen Frau sei, brauchte ich ja nichts weiter. Ich bebe immer vor Angst und gebe und gebe. Er kommt immer wieder und verlangt aufs neue. Gestern brachte er sogar ein Papier mit, auf dem ich die schriftliche Erklärung abgeben sollte, ihm, wenn ich erst verheiratet sei, jeden Monat zweihundert Mark zu sichern, wolle ich überhaupt darauf rechnen, daß er schweige. Auch müsse ich dann wieder seine Geliebte werden, denn ich gefalle ihm, und er sei abermals ganz verschossen in mich. Ich konnte ihn mir nur dadurch vom Leib halten, daß ich ihm alles versprach, wenn ich auch nicht unterschrieb. Zum Schluß aber, –« hier stockt plötzlich der Sonca Zunge, die so beweglich gewesen war. Ein Schauer des Entsetzens geht über ihren Leib und sie wird noch fahler. Frau Halliger streichelt ihre Hand:
»Nur ruhig bleiben, erzählen Sie weiter!«
Die Stimme der Schneiderin hatte gar keinen Klang mehr.
»Heute also kam Pochnitzky am hellen Nachmittag; damit nur meine Mädchen nichts merken sollten, ließ ich ihn rasch in mein Schlafzimmer eintreten. Zuerst benahm er sich vorsichtig und ruhig und erklärte mir nur kalt, daß er unbedingt mehr Geld haben müsse. Er hätte eben Gelegenheit ein Geschäft zu kaufen und brauche dringend eine größere Summe zur Anzahlung. Da sagte ich ihm zitternd die Wahrheit. Ich, – ich hatte ja wirklich nichts mehr, – gar nichts mehr. Er glaubte mir kein Wort. Dann verlangte er von mir, ich solle auf die scheußlichste und raffinierteste Art, so wie eine ganze Elende und Verworfene, Hubmair das Geld ablocken, indem ich ihn möglichst liebestoll mache. Zu den abscheulichsten Dingen wollte er mich zu diesem Zweck anstiften. Ich aber – wie es gekommen, weiß ich jetzt nicht mehr, – stürzte mich in rasender Wut, die mich vollkommen übermannte, auf ihn und krallte ihm meine Fingernägel ins Gesicht. Nie, nie würde ich das tun, – niemals würde ich seine Dirne und niemals eine Verbrecherin an einem braven Mann. Lieber ginge ich, bettelarm wie er mich in diesen Wochen schon gemacht, drüben in die Isar. Da hat er aber, statt mich womöglich umzubringen, wie ich fast sicher erwartet hatte, sich das Blut vom Gesicht gewaschen, vor meinem Spiegel sich Kragen und Krawatte zurecht gerückt und eiskalt gesagt:
»›Für alle Fälle, wenn du zum Beispiel nicht ins Wasser gehen solltest, teile ich jetzt vor allem Herrn Hubmair mit, wen und was er hat ehelichen wollen. Dann, – das heißt, wenn du noch leben solltest, – kannst du ja wieder weiter schneidern, wenn das so einfach, ohne alles Geld geht. Aber dafür garantiere ich dir mit meinem Wort, – von jeder Mark, die du verdienst, werde ich mir meine fünfzig Prozent zu sichern wissen. Ich prophezeie es dir, daß ich erleben werde, wie du deine Arbeit aufgeben und mit deiner Schönheit eines Tages tausendmal mehr verdienen wirst als früher mit deiner Dummheit – auch ohne Hubmair – und daß ich dann von eben dieser deiner Schönheit leben werde. Mich bekommst du nicht mehr los, du sollst meine Finger um deinen Hals spüren, immer und ewig, das schwör ich. Nicht umsonst hat man mich fünf Jahre in allerbester Gesellschaft sitzen lassen; etwas wenigstens muß ja der Mensch bei solchen Gelegenheiten doch gelernt haben, adieu!‹
»Ob ich nochmal aufgeschrieen habe, ich weiß es nicht; dann war's eine Weile Nacht um mich. Darauf wieder bin ich, wie ich war, herunter und wollte direkt zur Isar hinab. An Ihrer Türe aber überkam mich die Feigheit, eine solche Schwäche auch mit einer wahnsinnigen Angst, – da zog ich wie von Sinnen an der Glocke Ihrer Türe und stürzte herein. Was ich wollte, ich weiß es jetzt selbst nicht mehr, – aber etwas Unbestimmtes war wie ein fernes, fernes rettendes Licht vor mir aufgetaucht. Jetzt aber ist es wieder fort, – völlig weg!«
Entsetzen und Mitleid erfüllen Gertrud. Sie spürt kalte Schauer über ihren Leib rieseln.
»Aber ich, – ich, Frau Sonca, kann da doch nicht helfen. Höchstens die Polizei –«
»Nur nicht, ums Himmels willen nicht! Was soll die? Aber,« – und ein heller Schein gleitet über das aschfahle Gesicht, – »jetzt sehe ich wieder Licht, – es liegt nur immer gleich wieder so dumpf und schwer wie ein dickes Brett auf meiner Stirne und meinen Augen.«
»So könnte ich Ihnen doch –.«
»Ja, ja, – helfen! Niemand wie Sie, gnädige Frau!«
Camilla Sonca ergreift Gertruds Hände mit ihren zitternden, kalten. »Wenn Sie nur wollten! Ich habe ja freilich keine rechte Ahnung wieso, aber ich fühle es hier, hier – und daß Sie – was sollte auch nur aus mir werden, wenn mich, was ganz sicher ist, Hubmair, nachdem er alles erfahren hat, aufgibt und ich wehr- und schutzlos dem scheußlichen Menschen gegenüber stehe. Ich sehe kein anderes Ende vor mir als eins, das ich mir selbst gäbe!«
»Beruhigen Sie sich jetzt nur, Frau Sonca, ich will nachdenken, alles in Ruhe erwägen und vielleicht nach besten Kräften einzugreifen suchen. Aber jetzt,« – nun erwacht Gertrud wieder völlig für sich selbst, »jetzt gehen Sie, – ich muß fort; fast ist's schon zu spät!«
Sie geht an ihren Schreibtisch, schließt ihn hastig auf und entnimmt ihm einen blauen Schein, den sie der Frau in die Hand drückt. Diese kann kein Wort hervorbringen. Sie nickt nur immer pagodenhaft und hascht aufs neue nach Gertruds Hand. Auch wenn sie kein Geld erhalten hätte, was sie gar nicht erhoffte, hätte sie sich gekräftigt und gestärkt gefühlt, allein schon dadurch, daß sie dieser Frau das Herz hatte ausschütten dürfen, und sie sieht, wenn auch eine vage, so doch immerhin eine Hoffnung vor sich aufsteigen. Sie schickt sich nun zum Gehen an.
»Und, – gnädige Frau, – Sie verachten –, Sie verabscheuen mich jetzt nicht?«
»Nein, nein, Madame Sonca, ich denke eben immer: wer weiß, wie es uns gegangen wäre, allein und einsam, vom Leben herumgehetzt und geworfen; und selbst in unseren Kreisen,« – sie muß der eignen Schwestern gedenken – »aber gehen Sie nun, – gehen Sie nun, – und können Sie auch allein – –?«
»Ja, ja, tausend, tausend Dank, gnädige Frau, und –«
Aber die Türe hat sich schon hinter ihr geschlossen. Auf dem Vorplatz witscht die Marie mit vor Aufregung hochrotem Kopf in die Küche hinter. Sie hat leider lange nicht so viel erhorcht als sie sich erwünscht. Erstens war sie immer durch das Hanserl gestört worden, für das sie gar nichts übrig hatte, zweitens sprach diese Verrückte da drinnen so rauh, rasch und ganz unverständlich; nun erfüllte es Marie mit Genugtuung, die Schneidermadame, die einfach auf den Stufen zusammenbricht, hinaufführen zu dürfen. Wie schade, daß die Gnädige sie gleich wieder ruft. Immer diese Hetzereien! Eine Droschke soll sie jetzt holen. Jess Maria, so eine plötzliche Reise!
»Schnell aber, Marie, es ist höchste Zeit!«
Hanserl weiß nicht, was es aus Frau Halliger machen soll. So kennt es die Gütige gar nicht. Freilich, sie hat ihm viele Küsse gegeben, indem sie ihm ans Herz gelegt, ja Fräulein Grete recht zu folgen, brav zu lernen und so wenig wie möglich mit der Marie zusammen zu sein. Sehr bald würde sie wieder zurückkommen. Aber sie ist so bleich und hat ganz sonderbare Augen, dabei eiskalte Hände und sieht fast böse aus, wie sie auf die Droschke wartet. Immer wieder ist's nicht der ersehnte Wagen, sondern irgend ein anderer rattert vorbei oder hält foppend vor dem Nebenhaus. Dann wieder ist's nur ein schetteriger Milchkarren. – Endlich, – endlich kommt der richtige. Mit: »Jessas, i hab scho g'meint, i treib gar koan nimmer auf,« erreicht die keuchende Marie das vierte Stockwerk.
»Rasch nur, – nehmen Sie jetzt den Koffer! Adieu mein Kind, grüße Tante Grete, und hier Marie, geben Sie diesen Brief Fräulein Mannes. »Diese andern beiden werfen Sie dann, – nein, ich werde sie noch selbst, – also adieu, Hanserl. Gott, Marie, passen Sie doch auf und fallen Sie nicht!«
Wirklich wäre das Mädchen beinahe gestürzt, weil sie den Herrn gar nicht bemerkt hatte, der eben die Stiege heraufkommt. Unliebsamste Überraschung, ja Schrecken malt sich dann auf Gertruds Gesicht.
»Onkel Toni!«
Auch seine Züge spiegeln ein Erschrecken wieder. Mit ihm selbst hinterher ganz unbegreiflicher Geistesgegenwart, einer plötzlichen ihm kaum bewußten Eingebung folgend, sagt der Professor:
»Kehren's um, Marie, – tragen's den Koffer wieder nauf und schicken's dann den Fiaker nur weg. Ich gab' da eine Nachricht, daß die gnädig Frau nicht z' reisen braucht, – – jetzt wenigstens!«
»Onkel – To-ni!«
»No also, komm nur,« er faßt die wie Betäubte fest beim Arm.
»Drinnen, – heraust auf der Stiegen merkt man halt doch, daß mir erst Frühjahr ham, – ist's warm und lichter auch! Ja, der April, der is halt wetterwendisch und nie ist kein Verlaß auf ihn. Hörst den Wind, Traudl, – weißt, wüscht einfach! So, so, – jetzt ist's gut! A, schau, da ist ja das liebe Hanserl! Und weinen tut's gar? Ja gelt, weil hat's Pflegemutterl hat fortgehn wollen für eine Weil? No no, – da ist's ja wieder, und es bleibt da. Nur fidel, nur gut sein jetzt, Kind! Spielst halt draußen noch ein bisserl!«
Seine anscheinend gelassene Ruhe, die Selbstverständlichkeit, mit der er sie hier gewaltsam zurückhält, empören Gertrud geradezu.
»Laß mich, es ist höchste, allerhöchste Zeit! Hier –« sie reicht ihm einen der zwei Briefe, die ihre Finger krampfhaft umschließen, – »hieraus erfährst du alles, – dort liegt noch einer für Grete, – nun leb wohl!«
Mit heiß aufwallendem Zorn sucht sie sich seinen sie festhaltenden Händen zu entziehen. Die frühere Aufregung überkommt sie wieder. Sie schreit ihm fast entgegen:
»Bin ich denn ein kleines, unmündiges Kind oder weicher Ton in euren Händen?«
»Traudl, i bitt di, sei ruhig! Hör' mi bloß jetz an. Ich geb dir mein Wort, – wenn du dann noch willst, – gleich morgen früh kannst d' zum Detlev fahren!«
»Woher willst du wissen, daß ich, – – wenn du den – den Brief noch gar nicht –«
Er macht nur mit seiner blassen, schönen Greisenhand eine kleine Bewegung.
»Wenn d' dann noch willst, also, – so, – so leg i dir nix mehr in Weg!«
»Ich, – ich habe schon depeschiert an ihn, –« murmelt Gertrud, schon halb unschlüssig, wenn auch noch nicht besiegt.
»Dös tut gar nix! I schick glei in deinem Namen ein zweites Telegramm nach, – gelt?«
Wie warm und treu ist sein Blick! Ihr ist, als könne sie kaum anders als Onkel Toni folgen. Aber nein, doch nicht! Dann sieht sie wieder nach der Uhr. Mein Gott, zehn Minuten nur mehr bis zum Zug! So ist es also richtig zu spät geworden! Zögernd erst, dann resigniert, todmüde nimmt sie Hut und Mantel ab und wirft beides achtlos auf den Boden.
»Der Marie geb i das Telegramm net. I lauf g'rad g'schwind selber nüber auf d' St. Anna-Post. Und wann's dir recht is, Traudl, kann i ja auch gleich den Brief da mitnehmen.«
Stumm reicht sie ihm ihr Antwort-Schreiben an Pastor Mesting.
Wie der Professor zurückkommt, sitzt Frau Halliger noch immer so da wie vorhin, als er gegangen. Er klopft an seine Brust.
»Sollt dir das Schreiben da, – jetz hat's wohl kein' Zweck mehr, – ung'lesen wiedergeben? Und was is mit dem an die Gretl? Soll i vielleicht glei alle zwei dort hinein, –« er weist auf den Ofen, in dem man gegen Abend ungern ein Feuer entbehrt hätte. Gleich darauf flackert es schon lustig darin auf.
»No also, Traudl, – manchmal is's halt komisch mit dem Zufall, – i bin halt einfach herkommen, weil mich die Gretl draußen auf dem Bauplatz gebeten hat, dir auszurichten, daß sie nicht vor acht Uhr heimkommen könnt! Sie hat wieder allerlei Unannehmlichkeiten g'habt, muß auch noch viel G'schäftliches mit'm Carlo verhandeln und sonst, – no, was weiß ich!«
Er sitzt dicht neben Gertrud und streichelt ihr Wangen und Hände. Sie hockt nur stumm trotzig da.
»Woher i weiß, daß d' jetzt zum Detlev hast wollen? Ja, schau, i hab' halt mein Traudl schon lang im stillen beobachtet und hab' gar oft schon Angst kriegt. I hab mir nur immer einbildet, du tät'st am End doch vielleicht z'erst dein'm Onkel Toni sagen, wenn du meinst, 's nimmer aushalten zu können. I begreif' ja so gut, daß auch die Stimmung über dich kommen muß!«
Neben ihm ein Stöhnen.
»Derf i net weiter reden?«
Sie nimmt die Hände vom Gesicht:
»Ja, rede nur, – es ist doch nun alles einerlei!«
»Ganz ruhig, ganz kühl wollen wir die Sach' betrachten, net? Nur so kommen wir zu einem Ziel. Also z'erst: Warum hast du zum Detlev wollen?«
Da springt sie wild auf:
»Warum, warum? Du fragst noch? Weil ich fast sterbe so, – weil man mich beinahe zu Tode hetzt, – weil ich eingesehen, daß es Unsinn ist, wie und was ich treibe, um mich und ihn in dem Kampf gegen uns selbst und das Schicksal aufrecht zu halten. Weil ich in die leere Luft greife, wenn ich die Hände meiner Kinder fassen will. Ich muß zu ihm, vielleicht geht es dann wieder besser, – nur ein Mal, – wenige Minuten muß ich ihn wieder haben!«
»Das is's ja! Und du, Traudl, – geh weiter, das ist ja das alte Traudl gar nimmer, – bist jetzt plötzlich der Ansicht, daß du, – du, – dem Verstorbenen nur dann und bloß damit weh tätst, – daß du nur dann ein Verbrechen begingst, wenn du dem Detlev durch Priesters Segen g'hören tätst?«
Sie senkt nicht den flammenden Blick vor seinem scharfen. In der Empörung, wie sie ihm dann begegnet, liegt noch ein erstaunlich großer Teil jener Naivität, jener rührenden Reinheit, die einst das kleine Traudl besessen:
»Onkel Toni! Das sagst du mir? So achtest du mich, so vertraust du mir, – o du! Solltest du mich wenigstens nicht besser kennen? Bist du denn auch wie alle anderen, – so wie Otto, wenn er – –!«
Ein Lächeln, fein, gütig, überlegen und mild dazu, übersonnt des alten Mannes Gesicht; dann aber ist es so tiefernst wie zuvor.
»G'rad weil i di noch immer für a Kind halt, dessentwegen, – dessentwegen Traudl, weiß i auch, daß du jetzt deine ganz eigenen Ansichten über eure Zusammenkunft hast. Du! Die täten fein bald anders werden! Gelt, du meinst: Nur einmal küssen, – dich bei ihm ausweinen und dein arm's Kopferl an sein' Brust legen können? Gelt, so meinst's doch?«
Sie sieht stumm vor sich hin, und ihre getrübten Augen werden wieder glänzend.
»Ja, ja, – so! Oh, es muß namenlos gut, o, so gut tun und so stark machen!«
»Nein! Schlecht tät's dir, Traudl, und schwach tät's dich auch machen! Glaub's mir, schwach! Und dann, – hältst du denn den armen Detlev für einen kompletten Engel, oder doch für einen so durch und durch transcendentalen Menschen wenigstens, rein aus Äther, Geist und Seele z'sammeng'setzt, so daß er kein Fleisch und Blut mehr hätt'? I mein wirklich, noch mehr quälen, als so wie so schon sein muß all die Jahre her, – freilich ohne deine Schuld, – dürftest du'n net!«
Buchlehner aber unterbricht sie.
»Ja, ja, du bist halt wirklich noch a Kind! Und a Patscherl a dumms noch dazu! Und du selber, – a schöne Frau in deinen, – noch so jungen Jahren, mit deinem verborgenen Temperament, das sich noch kein bisserl ausg'lebt hat! I sag dir, – glaub nur jetzt dem alten Onkel Toni: alle beide, alle beide könntet ihr nimmer widerstehen, wenn so das Große, Allgewaltige über euch käm. Nimmer so wie damals, – wie noch der Roland gelebt hat; – dann aber wär's nix wie ein kurzer Rausch g'wesen, aus dem ihr an einem Grabhügel aufwachen müßtet! Und du, Traudl, tätst jammernd die Hand ausstrecken nach deinen Kindern, die dann am End', – ja, wärt ihr anders veranlagt, halt überhaupt andere Menschen! Aber so! I kenn euch zu gut! Da stünd die Reu an Ecken und Enden da und zeiget euch nur das Witschte und das Häßliche, und alle Süßigkeit, auch aller Erfüllungssegen wär dahin. Es müßt so kommen, – auch das erste, – denn ihr seid endlich doch auch bloß Menschen und keine Götter net, obwohl i euch wirklich scho oft in stiller Bewunderung für so was Ähnlich 's g'halten hab'!«
»O Gott, o Gott!«
»Besser, daß d' jetzt so leidest, wie später und anders!«
»Leiden, – immer, – immer, – immer!«
Dem Professor will das Wasser in die Augen treten. Er zwingt sich jedoch zu einer zuversichtlichen Heiterkeit, die er auf sie zu übertragen sucht.
»Was hast nur für dumme Sorgen, wegen die Kinder? Die sollten dich net lieb haben? Geh', dös sind ja ganz dumme Sachen, an die du selber net glaubst. In die nächsten Tag' dampft dann dein Bub an, für seine Ferien, und dein Mäderl, dein g'scheit's und jetzt so lieb's, – wird als Siegerin heimkommen. Die macht natürlich ein jedes Examen summa cum laude. Jetzt denk aber a mal, wenn die zwei am End gar ihr Mutterl net g'funden hätten? Das hätt' dann dene zwei arme Kerl einen schönen Eindruck machen müssen!«
Lise, – To! Ihre Kinder! Was war aus ihr geworden? Sie selbst hatte sich innerlich ja in diesen Stunden von ihnen entfernt; und auch sie tragen des herrlichen Mannes Namen, der rein und makellos bleiben muß und den sie beinahe in Gefahr gebracht hätte. Nicht niedrige, gemeine Klatschsucht wie jüngst würde ihn aber dann heruntergezogen haben, so daß er hinterher nur um so heller hätte erstehen können, sondern sie, – sie selbst hätte wirklich –. Da schüttelt es die junge Frau wie im Frost, und ein Grauen jagt ihr den Rücken hinab. O, die Kinder! Nein, sie gehören ihr, ganz, ganz, das andere muß sie auf ewig völlig darüber vergessen!
»Mein Gutes, – schau, – wenn zum Beispiel du und der Detlev zu mir kommen und sagen tätet: ›Onkel Toni, mir ham uns alles anders gedacht als es ist und sind zur Einsicht kommen, daß wir vergessen wollen, was Geheimnisvolles und Dunkles über unserer Liebe hängt. Wir wollen uns jetzt dagegen auflehnen und wollen endlich trotzdem unser Glück probieren‹ – und du, Traudl, tätst dann auch noch, bei aller Lieb, deinen Kindern gegenüber dein Recht vertreten wollen, – ja schau, – i tät dann kein' Silben dagegen sagen, denn es wär euer Sach' ganz allein, zu versuchen, ob ihr mit dene vielen Schatten fertig werden könntet oder net. Aber so, – nein, nur keine Jesuiterei net, keine Umschreibungen! Du weißt ja, wie ich's mein, und daß ich gewiß der letzte bin, der den Ursprung aller moralischen Verbindungen immer am Altar sucht. So, –« er steht auf, und Gertrud will es bedünken, als mache es ihm fast Mühe, sich zu erheben – »i mein, i geh' jetz am g'scheitsten, denn es is spät worden. Du aber solltest dein Kofferl noch auspacken und wegräumen, bis die Gretel heimkommt. Oder willst d' jetzt doch noch reisen, – morgen früh zum Beispiel? Oder wegen deine Kinder vielleicht doch erst a bisserl später? Der alte Buchlehner legt dir kein Stein mehr in den Weg!«
Sie schüttelt nur stumm den Kopf. Draußen jauchzt Hanserl, das sich mit einem Kegelspiel auf dem Gang vergnügt. Längst liegen die Straßen in grellem Lichtschein. Ein kecker, ungestümer Wind durchbraust sie, und drüben grollt die Isar. Es ist, als weigere sie sich, immer noch mehr Schneewasser aus den Bergen aufzunehmen, auf denen die harte, weiße Decke dahinzuschmelzen beginnt.
»Also leb halt wohl, Trauderl! Jetzt hast natürli einen Mordszorn auf dein' patscheten Onkel Toni?«
Es liegt tiefe Besorgnis in seinen Worten, und der alte Mann sieht ganz angegriffen aus. Erst jetzt blickt ihm Gertrud wieder voll in die Augen.
»Nein, – nein, – du hast recht, ja gewiß, – du mein treuer, treuer Eckart du!«
Sie schlingt ihre Arme um seinen Nacken und drückt ihr Gesicht tief zwischen die Falten seines Überziehers, den er abzulegen vergessen hatte, hinein.
»Onkel Toni, – schwer ist es, so namenlos schwer, aber – ich habe ja die Kinder, von denen ich jetzt ungerechterweise geneigt bin, allzu viel zu verlangen. Ihnen will ich leben, – nur ihnen!«