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Siebenundzwanzigstes Kapitel.

Der Oktoberfest-Sonntag mit dem Rennen ist vorüber. Für manche geht dann erst die g'müatlichste, grüabigste Gaudi an. Den Samstag über und die darauffolgende Nacht hat es dermaßen geregnet, daß man befürchtete, der gesamte Hof, sämtliche Reiter und Pferde und endlich sowohl Menschen, Tiere und Buden, was immer auf der riesigen Wiese zu finden sei, müßte im Schlamm verschwinden. Aber die Sonne meinte es, sobald sie sich überhaupt nur aus dem dicken Frühnebel herausgearbeitet hatte, so gut und treu, daß man nur halb so tief wie befürchtet, in dem aufgeweichten Boden einsank. Jetzt aber ist's schon wieder um vieles besser. Die Theresienwiese, die freilich nur an ihren Rändern einige Fleckchen mit annähernd grasartiger Bewachsung aufweist, trägt eine weitläufige Budenstadt. Ein unglaubliches Leben und Gewimmel, Lärmen, Tosen und Gedudel tönt daraus. Ein einziger Hexensabbat! Matt, förmlich geisterhaft, erscheint manchmal das Bild der mächtigen, erzenen Bavaria über dem brodelnden Dunstmeer, aus dem sich tausendfältige, schrille Laute lösen.

An den Riesenkindern Hulda, Emmi und Wilhelm vorüber, die zwangsweise ihre überfetten Mißgestalten für Geld den neugierigen Blicken darbieten, schlängelt sich eine Kette von Menschen, die sich alle bei den Händen haben, zum Schottenhammel hin. Es ist schon fünf Uhr und sachte dämpfende Schatten fallen bereits ein in die sich hier entwickelnde, laute, farbige Pracht und Aufdringlichkeit. Manchmal ein halblauter Aufschrei aus Frauenmund, aber die Hände lösen sich doch nicht, wenn auch die Menge sie immer wieder durchbrechen will. Im allgemeinen macht man der Schlange, so gut es geht, Platz.

»Nur noch da hinüber – festhalten, – im Moment sind wir dort!«

»Herr Gott, Fräulein Burkstaller, Sie zerbrechen mir noch meine Handgelenke!«

»Ach was! Nicht so zimpferlich, Sie ätherischer Dichter Sie!«

»Avanti, avanti, Kinderln! Komm nur Traudl, 's is nimmer halb so schlimm, wenn wir erst dort sind!«

»Carlo, ich kann doch nicht mehr! Meinen Rock hat man mir vom Leib getreten, daß er schleift, und die Haare gehen mir auf. Au, mein Fuß, – Gott sei Dank! Frau Doktor Asmus und Ludl stoppen endlich!«

Im selben Augenblick, da Ludwig Degenhardt an den dicht gefüllten Bänken der Schottenhammelschen Wirtschaft erscheint, bahnt sich auch schon ein bewegliches Kerlchen mit affenartiger Gewandtheit einen Weg zu ihm.

»Daher, – daher, Herr Degenhardt! Hier, wenn i bitten dürft'. Alles is gut gangen. Nur ein bissel voll sind's mir halt worden, meine Leut!«

Zwei lange Holzbänke, vor eben solchen Tischen, sind von einer heiteren Gesellschaft besetzt. Der Bewegliche ist ein Friseur, der von den Degenhardtschen Herren das Unternehmen zu leiten beauftragt worden war. Dort sitzt ihr Atelierdiener mit Familie und Verwandtschaft, ein Dienstmann und dessen Braut, der Bursche eines befreundeten Hauptmanns, in Zivil gleichfalls mit von der Partie, zwei Nähmädchen der Sonca, von Ottilie angestiftet, kurz eine Menge Menschen, die alle dafür zu sorgen hatten, daß die geeignete Anzahl Plätze reserviert blieb.

»No,« meint Ludl mit Stolz und Genugtuung, als sich die sonderbare Gesellschaft nach erfüllter Pflicht in alle Winde verstreut und die jetzige Platz genommen hatte. »Hab ich das net fein gemacht? Eine großartige Idee, was? Aber der Carlo, – ich selbst hab's leider net g'sehen, – meint, das allerschönste war doch g'wesen, wie sich ganz zeitig alle am Eck vom Café Victoria getroffen hätten, um miteinander raus auf d' Wiesen zu fahren. Feine Manieren hätten's dabei entfaltet, sich einander vorg'stellt und solchem Sachen. Zum Schreien wär's g'wesen! No, also, – Prost Kinderln!«

In Reih und Glied steht feucht-eisig Maß an Maß gereiht auf dem Tisch. Gelb und dick quillt der Schaum zwischen Krug und Deckel heraus, und ein kräftiger Malz- und Hopfengeruch schwebt darüber, der trotz all der anderen nicht eben angenehmen Düfte dennoch erkennbar ist. Selig sitzt die kleine Mutzinger zwischen dem Hauptmann und einem Studenten der Rechte, der blutjung und sehr lustig ist. Gertrud hat ihren Platz neben Carlo und einem Künstler namens Holleber gefunden, der vor kurzer Zeit begonnen hatte sie zu malen. Im Hintergrund sieht man auf dem Bild die Frauentürme, den Vordergrund aber nimmt das Brustbild Frau Halligers ein, von deren Haar, über einem roten Kleid, ein blaues, mantelartiges Tuch fällt. Der Maler will das Bild ›Unsere liebe Frau‹ betiteln. Holleber war ungemein glücklich, in Gertrud, die er durch ihre Brüder kennen gelernt, ein so wundervolles Modell gefunden zu haben.

»Wissen's,« – hatte Ludwig Degenhardt gemeint, als der Künstler ihm seinen Wunsch vertraut hatte, »wenn Sie einen solchen Plan haben, dann tut sie's am End'. Unser Traudl hat ja ein langjähriges Verhältnis mit dem Dom!«

Ottilie beugt sich mit dem vollen Krug zu Holleber und Gertrud: »Unsere liebe Frau soll leben!«

»Unsere liebe Frau! Unsere liebe Frau!«

»Ich stehe nicht allein mit der Ansicht, meine Gnädige, daß kein anderer, sogenannter Spitzname, – und wir haben ja alle einen solchen, – besser für Sie passen würde,« – wendet sich der Künstler verbindlich zu ihr.

»Allmächtig ist sie, wie die Katholiken sich ihre Gottesmutter denken«, ruft das protestantische Fräulein Mutzinger hinein und blickt vielsagend und dankbar auf Gertrud, die es übernommen hatte, deren Vater für die Verlobung seiner Tochter mit dem Hauptmann zu gewinnen. Schon ist sie auf dem besten Weg, den starrköpfigen Alten zu erweichen.

»Gütig und hilfreich,« wirft Ludl halblaut und weich dazwischen.

»Dornengekrönt,« flüstert Kunz Manzinger, der aufgestanden war, der Freundin über die Schulter ins kleine Ohr und drückt ihr unter dem Tisch die Hand. Ihm ist wirklich noch immer, als wäre sie das kleine Mädchen von einstens, das er so sehr geliebt.

Carlo sieht den Ausdruck in der Schwester blaß gewordenem Gesicht.

»Nichts da, mit Poetisch- und etwaigem Geistreichsein, Manzinger! Und du, Traudl, brauchst kein so ernstes G'sichterl zu machen; jetzt sitzt du ja nicht Modell! Sie aber, Holleber, schaun jetzt a Mal wo anders hin. G'malt wird jetzt nicht! Prost beisammen!«

»Prosit, – prost, – prost!«

Brausend fällt die Musik, die etwas pausiert hatte, ein, Hunderte von Kehlen brüllen mehr oder minder falsch das Lied vom ›Süßen Mädl‹ mit. Frau Doktor Asmus tritt Ottilie ganz schmerzhaft auf den Fuß, so daß diese aufschreit und sich fast beklagen will.

»Aber seien Sie doch nur ruhig, Fräulein! Dort hinüber müssen Sie schauen, – sehen Sie den alten Degenhardt?«

»Bscht, – ruhig, – nur nichts merken lassen',« wispert die Malerin. Die anderen können es nicht sehen. Ritterlich legt eben Uz einem blutjungen, blühenden und unaufhörlich kichernden Mädelchen das warme Cape um die runden Schultern, nimmt neben der niedlichen Platz und scheint sie dann unter der schützenden Hülle mit einer Hand zu streicheln. Vor dem lachenden, glückseligen Ding ist ein ganzes Lager von Kleinigkeiten, – Eßwaren und Spielereien, – aufgebaut, gekrönt von einem großen Porzellanhund, in dessen Leib eine Uhr eingelassen ist. Wenn diese aufgezogen wird, wedelt das Tier beständig mit dem Schweif und streckt anhaltend die Zunge heraus. Die Kleine jubelt laut, als der liebe, nette, alte Herr wirklich das Werk aufzieht und das Tier seine Künste zeigt. Mit rascher, impulsiver Bewegung schlingt sie, überwältigt von Entzücken, einen Arm um den Nacken des Doktors und drückt, zum Gaudium der Korona, einen schallenden Kuß auf dessen Wange.

Rücken an Rücken mit Frau Halliger sitzt ein weißhaariger Alter, der, ohne viel zu reden, ein Maß nach dem anderen leert und mit vergnügten, etwas feucht blinzelnden Äugelchen gemütlich in die Runde blickt. Spielt die Musik, so singt er halblaut mit, und bricht die Menge in ein plötzliches Gejohle aus, so stimmt auch er ein. Manchmal stößt ihn Gertrud unwillkürlich mit der Hutkrempe an und entschuldigt sich dann höflich. Der Alte aber meint:

»Nur zu, – dös macht nixen! G'müatli muaß ma sein! Gengens her, Fräulerl, lehnen's Ihna nur an mein Buckel an. Der hat scho mehra ausg'halten als dös bisserl!«

Lachend probiert sie es, denn ihr Rücken, der an der lehnenlosen Bank keine Stütze findet, schmerzt sie. Der Mann schmunzelt und sagt dann über die Schulter:

»Sie, – könna Sie dös begreifen, daß so vülle Leit allerweil auf d' Bavaria aufisteigen? Da drommet is ja net amal a Wirtschaft!«

»Nein, da Ham S' recht. I geh' auch nie 'nauf,« antwortet Gertrud sehr ernsthaft und durchaus im heimischen Dialekt, während die anderen lachen und lustig mit dem Alten anstoßen. Carlo zahlt ihm sofort a Maß. Ein vernünftiges Gespräch kommt natürlich nicht zustande, und kein Mensch wäre auch in der Stimmung dazu. Die Gesellschaft, ausgenommen Fräulein Mutzinger und der Hauptmann, die dicht zueinander gerückt sind und unaufhörlich flüstern, blickt gedankenverloren in das zunehmende Dunkel, das schon ab und zu von einem Licht durchflammt wird. In der benachbarten Wirtschaft entsteht eine Rauferei, und einzelne Schutzleute suchen dort einzudringen, werden aber vom Publikum nur verhöhnt, möglichst sogar behindert. Ein schwarzer Knäuel von Menschen wälzt sich gleich darauf schreiend und schimpfend heraus.

»Macht nix,« sagt Carlo tröstend »so was muß man mit in den Kauf nehmen. Fidel ist's halt doch und auch schön. Schaut einmal da hinüber!«

Gigantisch malen sich dort Schatten an die weiße Leinwand eines mächtigen Zeltes; daneben flammt rote Glut auf, in die sich wie schwarze, sich reckende, emporleckende Zungen einige Gestalten der bewegten Menschenmenge mischen. Über den Häuptern der Gesellschaft schweben ein paar farbige, kleine Ballons, wie sie in Mengen an den Hüten und Armen befestigt umhergetragen werden. Jauchzend sucht die Tischgesellschaft die herabhängenden Schnürchen zu erreichen, aber keinem gelingt es sie zu erhaschen. Langsam, sich einander nähernd und sich wieder entfernend, fliegen die Gas-Ballons empor und verschwinden allmählich im bläulichen Schwarz des Firmaments.

»Nun, Manzinger, – bleiben Sie jetzt wieder in München?« wendet sich Carlo, fast schreiend, um eine besonders laute Orgel zu übertönen, an den Schriftsteller.

»Ja, fürs erste wohl! Ich kam im Frühling hierher, ging aber schon im Juli wieder weg. Inzwischen war ich in zweiundzwanzig Badeorten.«

»Donnerwetter,« rufen Ludwig und Holleber wie aus einem Mund.

»Gehens doch, warum denn das? Das muß ja einfach erzfad sein!« meint Carlo.

»Nicht im geringsten, Herr Degenhardt! Dabei sammle ich meine hauptsächlichsten Erfahrungen und Stoffe. Ich brauche eben die elegante Welt wie andere, zum Beispiel ganz besonders Ihr Bruder Ludwig, auch.«

»Aber ich mehr die Erwachsenen,« betont Ludl. »Sagen Sie, Manzinger, schreiben Sie immer nur noch über die Kinder? Ihr neues Buch soll ja allerdings famos sein!«

»Sie meinen ›Keime und Sprossen‹? Mich fesselt und interessiert nun eben gerade die erwachende, noch halbschlummernde Psyche. Das, was wird, – was sein kann!«

»So lang der alte Peter,« – jeder singt mit. Nebenan johlt und spielt man anderes; die Orgeln der Karusselle, die Musik aus dem Hippodrom mischen sich ganz greulich.

Frau Asmus ergeht sich Ludwig gegenüber in Lobeserhebungen seiner Schwester. »So selbstlos, gut und wohltätig ist sie. Meine Schneiderin, – die Sonca, – die neben dem Atelier Fräulein Burkstallers wohnt, erzählte mir eine Menge des Schönen und Guten von Ihrer Frau Schwester. Sie wäre gar nicht hochmütig, immer liebenswürdig und freundlich und hätte ihr sogar schon die besten Ratschläge für Kostüme gegeben. Gestern hat mir aber auch Frau Bierdimpfel, die bei uns wäscht und die auch Aufwartefrau in dem berühmten fünften Stock ist, strahlend berichtet, daß Frau Halliger ihrem fünfzehnjährigen Sohn, dem der Fuß auf dem Bau durch einen Balken abgedrückt wurde, das künstliche Bein bezahlt habe.«

Ludwig Degenhardt schweigt erst. Er hat sich daran erinnert, als Ottilie vorhin Gertrud mit: ›Unsere liebe Frau‹ anredete, wie er vor Jahren im Dom die gleiche Empfindung gehabt und ausgesprochen hatte. Er fühlte sofort, daß auch die Schwester daran dachte, und hatte gleich zu ihr hinüber geblickt. Aber ihre Blicke waren mit seltsamem Ausdruck ins Weite gerichtet. Erst jetzt antwortet der Künstler Frau Doktor Asmus.

»Darin sucht sie Ersatz für vieles. Ja, sie ist gut und hilfreich! Das Schicksal schuldet ihr aber noch eine Menge. Ich mein' wirklich, es wär' an der Zeit, die Dornen ihrer Krone in Rosen zu verwandeln. Der Teufel soll doch manchmal 's Leben holen! I weiß gar net, wie's oft geht!«

Es klingt unendlich komisch, wie Ludwig immer wieder unwillkürlich in sein drastisches Münchnerisch verfällt.

Frau Doktor Asmus, die eigentlich heimlich, hinter dem Rücken ihres Mannes, diese Exkursion auf d' Wiesen mitgemacht, hat eine kleine Schwäche für Ludwig. Sie läßt ihre niedlichen, weißen Hände vor ihm spielen, so daß manchmal ein Brillant daran aufblitzt, und rückt ein wenig näher zu ihm hin. Überall sitzen verschlungene Paare. Jedes ist fast ausschließlich mit sich selbst beschäftigt; keiner achtet mehr viel auf die anderen, und die gehobene Stimmung zeigt sich bei den einen in höchster Ausgelassenheit, bei den anderen in Melancholie. Drüben bricht Uz mit dem Mädelchen auf. Wie Schatten nur erheben sie sich kurze Zeit aus der Menge der dicht gedrängt Sitzenden, dann sind sie verschwunden. Kurze Zeit schweigt jegliche Musik.

Gertrud Halliger war wirklich für ein paar Minuten von dem munteren Treiben angesteckt worden; bisweilen hatte sie sogar hell und kurz aufgelacht und halblaut irgend eine Melodie mitgesungen. Jetzt sitzt sie still und gedankenvoll da. Wenn Hela und Otto wüßten, daß sie hier ist und noch dazu des Abends! Wenn sie sehen würden, wie der Hauptmann heimlich die kleine Mutzinger hinters Ohr küßt und der junge Rechtsstudent, der sich hier recht überflüssig fühlte, nun am Nebentisch eine junge, blühende Bürgersfrau poussiert! Und dann an Gertruds Seite Kunz Manzinger! Ein heiteres Lächeln umspielt ihre roten Lippen. Ihre kindischen Briefe an ihre kleine Freundin Lilli fallen ihr wieder ein und jene Szene im Boudoir der Mutter. Wie lange, – lange ist das her! Der Schriftsteller macht ihr durchaus nicht die Kur. Deutlich fühlt sie aber, daß er sie noch mit einem Rest jener Liebe liebt, mit der er einst das Kind umfangen. Sie ist ihm sympathischer wie andere Frauen, und er meint stets, Rätselvolles in ihr und um sie zu wittern. Kunz Manzinger aber gehört zu ihrem festen Bestand unsterblicher Erinnerungen. Wie er noch immer das Kind in ihr sieht, so erscheint er ihr gerade wie früher, so unendlich alt, und die Jahre, die zwischen ihnen liegen, verdoppeln sich. Seit jenem Wiedersehen im Hofgarten besucht er sie öfters. Sie begegnen sich auch bei den Eltern und bei Onkel Toni. Aber der findet sich nicht mehr ganz in den Dichter hinein. Weit weniger wie einst.

»Traudl, paß einmal darauf auf! Schau, ich bin ein recht alter Mann und versteh mancherlei nimmer so ganz; wenigstens kommt mir alle Augenblick irgend was rein verrückt und hellicht blödsinnig vor, was andere geistreich, tief und gedankenreich finden. Und doch mein i, i ging mit der Zeit. Aber schau, der Manzinger! Wenn er dir nur immer gut tut, in deiner jetzigen Gemüts- und Nervenverfassung! Du weißt schon, wie ich's mein, und daß ich mein Trauderl kenn; also nicht wegen dem, daß er dich verehrt, – ich kann dir's halt net so sagen. G'sund, frisch und heiter müßt's um dich hergehen!«

Seit Bruder Franz tot ist, fühlt Onkel Toni sich oft recht einsam. Noch immer bewohnt er das alte Logis in der Königinstraße, das jetzt so groß und weitläufig ist. Wenn Gertrud bei ihm weilt, dann könnte sie sich wirklich vorstellen, daß zwei Jahrzehnte nur als Traum verrauscht seien. –

An Onkel Toni muß Gertrud auch immer denken, wenn Manzinger wie soeben dicht an ihrem Ohr, – man hatte die Plätze etwas gewechselt, – seine Paradoxen entwickelt und phantastische Bilder seiner oft wirklich krausen Gedanken entwirft.

Unruhig rückt sie auf der Bank hin und her und späht immer öfter und schärfer in die Menge. Wenn Onkel Toni doch nur käme! Er hat es ja versprochen! Den Schottenhammel weiß er auch; so wäre es unmöglich, sich zu verfehlen. Ist er erst da, muß er sich zwischen sie und Manzinger setzen, und sie würde ihren Arm fest in den seinen schließen. Sie sehnt sich so sehr darnach, das Gewirr von Gefühlen und Stimmungen abzuklären. Bei dem Gedanken, daß sie sich dem väterlichen Freund anvertrauen könne, glaubt sie schon ein Vorgefühl dessen zu haben, was dann kommen müsse. Ruhig, gesund würde sie werden! Jeder Tag müßte dann blank und klar vom Himmel fallen können als neue Offenbarung. Keiner würde mehr sein wie das abgenutzte Bild eines Guckkastens. Klarheit, Sicherheit, Friede! Enger zieht sie den schwarzen Herbstpaletot um ihre Gestalt. Sie fröstelt. Die bunte Papierlaterne über ihrem Kopf fängt Feuer und rasch reißen Carlo und Holleber sie herunter. Mit Augen, als verrichte er die tragischste Tat, tritt Manzinger das glimmende, übelriechende Papier mit dem Absatz fest in den nassen Boden. Über die Köpfe der Menge hin reicht man gefällig volle und leere Krüge weiter. Eitel Eintracht und Heiterkeit herrschen. Ein gelber Dunst lagert über den Zelten und Buden, sich mischend mit dem bläulichen der Zigarren und Zigaretten; immer tiefer senkt er sich herab. Neben der Hauptschenke steht eine Art Podium, worauf ein Volkssänger später heitere Vorträge halten soll. Von beiden Seiten strömt das Licht in heller Flut dorthin. Die ganze Gesellschaft ist im Augenblick abgelenkt durch den Studenten, der mit auffallender Gewandtheit Jongleur-Kunststücke zum besten gibt.

Gertrud aber sieht ihn nicht, – sieht nur eines! Mit starren Augen blickt sie nach dem hellen Fleck, kaum ein Dutzend Schritte von ihr entfernt. Scharf zeichnen sich zwei. Männergestalten auf dem Podium ab. Die schmale, kleinere Professor Buchlehners und daneben eine große, stattliche!

›Es liegt eine Krone im tiefen Rhein,‹ – ein voller und schöner Tenor singt mit frischer Stimme hinter Frau Halliger das Lied. Dann geht die Musik, ein Potpourri, in eine andere Melodie über. Frau Gertruds Hände verkrampfen sich in die rohe Holzbank, deren Splitter fast in ihre Haut dringen. Wie ein Strom umrauscht es sie.


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