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Dreiunddreißigstes Kapitel.

Bunte, lustige Affichen und Plakate, oft künstlerisch schön, flott und pikant sind an Straßenecken und Litfaßsäulen angeschlagen, bald sauber und noch unversehrt, bald beschmiert und in Fetzen herabhängend, einzelne Teile in den weichen Straßenkot, aus Schnee und eisigem Regen gemischt, eingetreten.

Die Faschingswoche! Anfang Februar! In den Gärtnerläden duftet und leuchtet die üppige Pracht der Rivierablumen, deren die Leute oft kaum genug beschaffen können. Auch darin nimmt der Luxus stetig zu. Die immer wieder chemisch gereinigte Tirolerin, der phantastische Zigeuner, der frisch gewaschene Pierrot nebst Genossin stehen mit allem Zubehör und flankiert von großen Redoutenhüten der verwegensten Formen verlockend in den Schaufenstern der Maskengarderoben, deren einige sich dann – ist der flüchtige Rausch dieser Wochen ganz entschwunden, – wieder lediglich als biedere Schirm oder Handschuhgeschäfte entpuppen. Eine Putzmacherin der Bayerstraße, eine ›zweifenstrige‹ Ladenbesitzerin, stellt auf einer Seite ihres Schaufensters das ganze Jahr nur Trauersachen aus. Während des Faschings aber, so, als könne man zu dieser Zeit Tod und Sterben ausschalten, sind da nur die pikantesten Dominos, vom schwarzen schmelzbesetzten bis zum grünblau schillernden aus drolligem Schuppenstoff gefertigten, zu erblicken.

Auf Straßen und Trottoirs zeigen sich bereits als kleine Vorboten einzelne farbige Papierblättchen der imitierten Konfetti. Seit Wochen tönt aus jedem Gasthaus oder Café, Abend für Abend, und besonders wenn Redouten stattfinden, bis tief in die Nacht hinein die Musik all der herumziehenden oder auch fest gemieteten Banden. Sie verleidet manchem Stammgast sein Lieblingslokal, das er deshalb zeitiger und vielleicht fluchend verläßt, um höchst selten einen besseren Tausch zu machen. Im Gewühl der mittäglichen Parade muß sich Professor Buchlehner an der Tierry-Ecke förmlich mit den Armen durchrudern und ist froh, endlich glücklich die ruhige, breite Briennerstraße gewonnen zu haben. Wohl und heiter sieht er wieder aus. Er geht so dahin, ohne Ziel, nur den schönen Vormittag genießend, während eine herrliche Sonne die schmutzigen Straßen überstrahlt. Dabei aber muß er immer an sein Traudl denken. Das war einmal ein seltsames Neujahr gewesen! Seltsam und traurig. Sein Liebling war zwar schon schmerz- und fieberfrei gewesen, lag aber sehr elend und schwach in seinem Bett. Zuerst zeigte Gertrud große Aufregung, bis sie ihm die jüngsten Geschehnisse anvertraut. Dann wurde sie apathisch bis zur Versteinerung.

Hela ist mit ihrem Mann nach Paris, wo sie ihren einen Filius bei Ingo unterbringen will. Der wird eine Freude haben! Zweifelhafte Ehre das! Der Bauamtmann hatte eine Silvestergebirgstour gemacht und war nur noch am Morgen vorher zur Schwester gekommen. Buchlehner hatte selbst nach Tegernsee geschrieben, daß nur ja alle draußen bei der Gräfin bleiben sollten, denn Ruhe wäre wirklich das beste für die Patientin. Es war freilich schwer gewesen, Grete zu bestimmen, dort auszuhalten, statt die kranke Freundin zu pflegen. Sie kam auch im Gebirge zu keinem Genuß während aller dieser Tage, und To mußte es gleichfalls dort nicht gut gefallen haben. So war der Junge nur mehr einen Tag in München gewesen, bis zu seiner Rückkehr in die Kadettenanstalt, und da hatte sich Frau Gertrud so elend gefühlt, daß sie kaum die Augen aufschlagen mochte. Buchlehner aber hatte wohl bemerkt, wie To immer ums Krankenzimmer herumgestrichen war. Er hätte darauf gewettet, daß der Junge, wie er dann auf dem Stuhl neben Mutter gesessen und deren Hände geküßt hatte, ohne Zweifel im Begriff gewesen war, zu sagen: ›Verzeih, Mutter, daß ich mich so töricht benahm, – aber ich war nur von meiner Schwester aufgehetzt.‹ Das heißt, vermutlich hätte To, so wie er ist, das letztere tapfer verschwiegen. Aber gerade in diesem Augenblick war Lise eingetreten, die redlich dafür sorgte, To nicht mehr mit Mutter allein zu lassen. So wahrscheinlich ihm ja auch dünkte, daß Halliger das, was man vermuten mußte, keineswegs hatte ausdrücken wollen, eben so überzeugt war Onkel Toni, daß es dennoch ewig als Mauer oder Abgrund wirken müsse zwischen Dombrowsky und Gertrud. So empfindet er das Vorgefallene, wenn er auch im Herzen beiden Kindern, – vor allem Lise, – zürnt, doch auch wieder fast wie eine willkommene, weil endgültige Lösung des Knotens.

Wie Gertrud selbst war auch er durch Detlevs überraschende Rückkunft sozusagen völlig überrumpelt worden. Jetzt, nachdem er alles so genau erfahren, hätte Buchlehner sogar direkt eine Eheschließung zu verhindern gesucht. Er hatte aber darauf gedrungen, daß der Baron nun gleichfalls die volle Wahrheit erfahren müsse.

Welch ein Jammer, dieser Tage die körperlich und anscheinend auch seelisch so gebrochene Frau zu sehen! Welch ein Jammer, ihre schwache, zittrige Stimme zu hören, wie sie gesprochen: »Onkel Toni, sage du ihm alles. Das Erlebte in Rolands Sterbestunde und auch, – daß ich nie die Liebe meiner Kinder verlieren, – missen könnte, und – daß, daß ich ihn jetzt nicht wieder sehen kann. Ich – ich – hätte nicht die Kraft. Onkel Toni – ich habe ihn verloren! Aber auch zugleich, selbst jetzt schon« und dann mit einem schluchzenden Aufschrei: »meine Kinder!«

»Traudl, net, net so! Kein' Spur, Unsinn! Es wird ja alles noch gut!«

Sie aber schüttelte nur den Kopf und legte sich dann still in die Kissen zurück. –

Auf Dombrowsky übte das, was Buchlehner ihm so schonend wie möglich beigebracht, eine tief-schmerzliche, ja vernichtende Wirkung aus. Er erschien diesem wie einer, den ein schwerer körperlicher Schlag getroffen.

»Halliger – sollte – –? Das ist ja nicht möglich!

Er, der mich immer so geliebt, der mir Helfer und Freund war, der mich förderte, als hätte er sein Interesse auf das allerengste mit dem meinigen verflochten!«

Und dann lange hinterher nach einer dem Professor ewig scheinenden Pause:

»Aber was bedeutet diese Enttäuschung noch viel für unser Glück oder Unglück? Gertruds Mutterliebe, die noch größer ist als jene zu mir, hätte mich ja so wie so geopfert!«

»Mein guter Alter! Aber schau, Detlev, – nach dem, was passiert is, is's ja noch ein Segen, wenn die arme Traudl einen Ersatz durch die Kinder findet. Freilich als ob das je möglich wär? Was mag ihr auch der Verzicht kosten?«

Dann geschah etwas, das Buchlehner bis ins Mark erschütterte. Dombrowsky, den niemals ein Mensch außer Gertrud je eine Träne hatte vergießen sehen, weinte wie ein Kind, völlig zerrissen, außer aller Fassung! Zweier Schätze, in seinem tiefsten Innern lang gehegt und verehrt wie Heiligtümer, war er beraubt worden.

Wie vielleicht zur selben Stunde Gertrud Halliger, so erstand auch ihm gleich einer Fata Morgana sonniges Heideland und darüber ein ernstes, strafendes Antlitz: ›Nemesis! Schuld, – Schuld – und – die Vergeltung!‹

»Du Guter!« hatte der Professor dann gesagt, »i mein z' wissen, was du und auch's Traudl denkt, – i weiß ja alles, Detlev, – von ihr selber, alles! Bleib ein ganzer Mann und trag dich net mit so unphilosophischen, unnützen Gedanken. Vorbei ist halt vorbei! In meinen Augen seid ihr net schlecht gewesen, damals – sehr wacker sogar – und was kommen ist, war ein naturnotwendiges Schicksal, das noch dazu recht harmlos g'wesen ist. Wenn's dich im Leben umschaust! Nein, ihr wart tapfer genug und habt euch dem Schicksal in Weg g'stellt und ihm die Räder g'staut. Nur jetzt nicht was herauszerren und krampfhaft heraus kristallisieren, was si' net ganz von selber ablöst!«

Als der Baron schied, – er sagte, er wollte direkt nach Dromshoff und von dort nach Berlin, wo er Anfang Januar in der Geographischen Gesellschaft einen Vortrag zu halten habe, da war er für jeden Fremden der alte. Aber so bleich, so ernst! Gertrud und er hatten sich nicht mehr gesehen. Es war wohl am besten so! Detlev hatte ihr aber noch einmal aus Berlin geschrieben. Ein dicker Brief war's gewesen, und Frau Halliger hat mit zitternden Händen innerhalb zweier Tage darauf geantwortet. Seitdem scheint sie von innen heraus ruhiger geworden zu sein. Sie ist auch wieder rührig, nur anders! Ja, rühren! Nein, hetzen, sorgen, arbeiten! Vom Morgen bis in die Nacht, für andere, Fremde! Verschwunden ist jene sanfte Stimmung, von der sie beherrscht gewesen war, als sie mit Onkel Toni die einsame Neujahrsnacht verlebt, von ihrem Bett aus die Hand in die seinige geschmiegt. Als es damals zwölf Uhr geschlagen und die Glocken geläutet hatten, – o sie mochte wohl die erzenen Stimmen ihrer alten Freunde darunter erkannt haben, – war das fieberhafte Gesicht tränennaß geworden. Jetzt aber hat Gertrud etwas Rauhes, Hartes angenommen, gleich einer Rüstung, mittelst deren sie sich nach außen und nach innen verteidigen, schützen will. Sie verwendet nun keine Sorgfalt, keinen Geschmack mehr auf ihre Kleidung. Die Gewänder der Sonca hängen, von weißen Schutzmänteln umgeben, im großen Schrank, und Tag für Tag trägt Frau Halliger ihr praktisches Regenkleid, den Paletot und den schmucklosen Filz. »Gib nur Obacht, Traudl, daß s' di' net auch arretieren wie erst neulich die Frauenrechtlerin,« hatte ihr Bruder Ludwig scherzend gesagt. Aber es klang doch Groll mit durch, weil er sich zurückgesetzt und verletzt fühlte durch der Schwester sonderbares und verschlossenes Benehmen. Aus Onkel Toni ist auch nichts herauszubringen. Die Brüder werden bei dem oft sehr drastischen Austausch ihrer Meinungen durchaus nicht klüger, was denn nur geschehen sein mochte und warum der Baron abgereist war, statt sich mit Gertrud zu verloben, wie sie bestimmt erwartet hatten. Und jetzt dieses Herumjaggern, dieses Verzappeln von Traudl! Wo sie nur immer die Kranken und Unglücklichen aufbringt zum Pflegen und Trösten? Die Vereinsmeierei mit Sitzungen und dergleichen haßt sie ja so sehr! Daß sie nur an der Erfahrung mit dem lahmen Kind und dessen rabiatem, undankbarem Vater nicht genug bekommen hat! Was hat es denn für Sinn, sich dermaßen für andere aufzuopfern?

Nur gut, daß der Faschingstrubel einen jeden mehr oder weniger verrückt macht. So hat besonders Ludwig Degenhardt, der unausgesetzt eingeladen ist, außerdem schon seines Berufes halber, wenn auch nicht immer aus Neigung, eine Menge Festlichkeiten mitmachen muß, nicht viel Zeit übrig, um gramvoll zu grübeln, was ihm das Vertrauen und die Liebe seiner Schwester geraubt haben könnte. Wenn sie sich sehen, – in diesen Wochen selten genug, – ist sie eben so gut wie nur je und streift bei ihm ihr fremdes Wesen ab. Aber still und blaß ist sie geworden. Immer wie müde, so bald sie ruhig zu sitzen und mit jemandem zu sprechen gezwungen ist. »Werd' doch lieber gleich Krankenschwester oder so was,« schalt er. Sie schüttelte wehmütig den Kopf, sagte aber weiter nichts.

Wenn sie rundherum in diesen Wochen nichts als das Schellengeklingel Prinz Karnevals hörte, war sie anfangs nervös und ungeduldig geworden. Jetzt ist ihr auch das einerlei. Es scheint, als ob sie nur mehr Fuß fassen könne in Boden, den Not, Gram und Elend unterwühlt haben, als fliehe sie alle Heimstätten der Glücklichen und Frohen. Stellt sie eines darüber zur Rede, so meint sie kurz abschneidend: »Die Gesunden, Vergnügten brauchen mich nicht!«

To hatte sich nie geäußert, wie er den ihm von Lise mitgeteilten Verzicht der Mutter auffaßte. Er antwortete der Schwester nie darauf. Aber regelmäßig treffen seine Briefe an Gertrud ein und sind jetzt eher zärtlicher und noch eingehender wie früher. Er gibt sich alle Mühe, die Mutter möglichst an seinem Innenleben, das noch nicht allzu reich und für das einen Ausdruck zu finden er nicht sehr befähigt ist, – teilnehmen zu lassen. Sie antwortet dann so heiter, liebevoll und unbefangen, daß der Knabe nach und nach vollkommen zur Überzeugung kommt, es sei alles nicht so schlimm, einschneidend und tragisch gewesen und wäre nun wieder völlig ausgeglichen. Halb und halb hat er jene Szene schon wieder vergessen, zum mindesten lebt sie nur sehr abgeschwächt in seiner Erinnerung.

Gertrud aber gähnt es aus ihren eigenen Briefen dann an, wie aus einer kalten, leeren Höhle, deren Eingang zwar einiges Geranke und Blüten bergen, die aber doch nicht das trostlose Innere verheimlichen können.

Sonntag für Sonntag kommt Lise, und kein Hauch ihres Wesens zeigt von einer Veränderung. Erschreckend dünkt es Gertrud, wie gelassen sie zu scheinen versteht. Als wäre Herz, Lieben, Schicksal und Leben der Mutter ein Nichts, das zertreten, vernichtet werden könnte, ohne die geringsten Spuren, ohne Wunden zu hinterlassen. Oder denkt Lise, der Mutter so leicht, ohne Bemühen ihrerseits, alles ersetzen zu können? Schwere Stunden kommen über Gertrud – durch eine zurückgebliebene Körperschwäche noch erschwert – da sie nur ein Grau in Grau vor sich sieht. Dann ist Gretens Anwesenheit ein Segen. Noch immer ist sie im Haus, wenn auch den ganzen Tag tätig. Sie fragt nicht. Aber sie kommt mit ihren Vermutungen der Wahrheit noch am nächsten. In ihren Armen ruhend hat die wie aus allen Fugen gehobene Frau die Wohltat der Nähe eines sympathischen Menschen tief empfunden, wenn auch nicht die Erleichterung einer Aussprache. Aber die hatte sie ja mit Onkel Toni gehabt. Seitdem hatten weder sie noch er jemals auch nur mehr Detlevs Namen genannt. –

Wie Professor Buchlehner an dem hellen Wintervormittag so dahinbummelt, klammern sich seine Gedanken dermaßen an Gertrud, daß er endlich zu ihr hinausfährt. Er findet sie zu Haus und bei ihr Pastor von Mesting, der nach München gekommen, um einen kurzen Urlaub zu genießen.

»Ei, ei, g'rad im Fasching! Aber nein, so was, Herr Pastor!« droht Buchlehner ihm scherzend mit dem Finger. Über das lebhafte, hübsche Gesicht des eleganten Landpfarrers gleitet ein heiteres Lächeln.

»Gewiß, gerade! Muß ich denn nicht auch ein wenig von der Welt sehen, wenn ich sie und ihre verschiedenen Inwohner recht beurteilen will? Und mir gefällt Gewühl und lustiges Treiben nach der ländlichen Abgeschlossenheit um so mehr. Ich kenne so wie so nur den Kölner Karneval ein wenig!«

In der Folge blickt Onkel Toni öfter von Gertrud auf den Pastor und von ihm wieder auf sie zurück. Er bemerkt, wie die braunen Augen Mestings, so oft sie sich Frau Halliger zuwenden, heller aufleuchten, manchmal aber auch deren Gesicht und Gestalt mit sorglichem Ausdruck überfliegen.

»Net wahr, Herr Pastor,« fragt ihn der Künstler, »man kann schon sehen, daß die gnädige Frau sehr krank war?«

»Ja, ja, – gewiß, – indessen, –« zerstreut nur hat er geantwortet, und man kann ihm das Mißtrauen gegen diese angeblich einzige Ursache an der Veränderung der schönen Frau vom Gesicht ablesen.

Am kommenden Tag, – Ludwig und Carlo nebst Mesting sind auch Sonntags-Tischgäste, – machte Onkel Toni noch weitere Beobachtungen. Die Seedländer und Sardenner nebst Genossen mögen sich beruhigen. – Detlev hatte ihm erzählt, was man über die beiden klatscht. – Nein! Der Pastor hatte gewiß noch keine Minute die Baugrete zu heiraten beabsichtigt! Der – der denkt an eine ganz andere, und deshalb würde sobald keine Frau einziehen ins Seedländer Pastorat. Die Grete aber lebt mehr denn je ihrem Beruf und gibt weniger denn je anderen Gedanken Raum. Solchen an eine Ehe schon gar nicht! Sie hat durch die Gräfin, deren Gastfreundschaft sie in Tegernsee genossen, einen sehr ehrenden Auftrag erhalten, der einen wichtigen Wendepunkt ihres Daseins und Strebens bildet, und sie kann der vorurteilslosen, frei und großdenkenden Frau nicht genug danken. Nun soll sie also richtig ihr erstes Haus, wenn auch nicht in München, so doch in dessen nächster Umgebung, bauen dürfen: eine moderne Villa, auf einem wundervollen Platz, der einen malerischen Blick auf die Isar und deren Ufer gewährt. Das junge Mädchen streitet sich mit Carlo und Ludwig herum, die sie mit ihrem Auftrag aufziehen und hänseln; sehr bald aber wird der Jüngere eifersüchtig. Sie weiß Carlo durch eine ernsthafte Klarlegung ihrer Absichten und Pläne so sehr zu fesseln, daß dieser ihr ganz hingenommen zuhört. Endlich, – bei dem angedeuteten Vorschlag, sie wolle ihn der Gräfin als Innendekorateur und so weiter nennen –, wird er wie elektrisiert, obwohl er doch wahrlich Aufträge in Hülle und Fülle hat.

»Mir lauft schon 's Wasser im Mund z'sammen,« äußert sich humoristisch der Professor. »Der Verwandte von der Frau Gräfin, der sich das Haus bauen laßt, is scho wirklich zu beneiden.«

»Jawohl! und wissen Sie, Onkel Toni,« lacht Grete vergnüglich, »einige Ihrer allerschönsten Gemälde muß er auch dafür ankaufen!«

»Dös kann er ja probieren,« erklärt Buchlehner trocken. »I meinet aber, sie wären z' altmodisch für so a moderne Villa.«

Ein anregendes Gespräch über alte und neue Kunst entwickelt sich, dem Mesting eifrig lauscht. Wie neugeboren fühlt er sich, angeregt und – sowohl durch Pläne, die er seit längerer Zeit in sich birgt, wie durch seine Liebe – auch hoffnungstrunken. Lebhaft, mit gewinnender Herzlichkeit, wendet er sich dann an seine ehemalige Schülerin, fragt sie interessiert und doch unaufdringlich aus und bringt zu Wege, daß nach und nach die gesamte Tischgesellschaft erstaunt auf Lise blickt, die noch kein Mensch jemals so hübsch, mit dem Anflug von Rot im jungen Gesicht und auch nie so natürlich fröhlich und liebenswürdig gesehen. Das verfehlt auch seine Wirkung auf Frau Gertrud nicht. Diese hatte zwar die Wirtin sonder Makel gespielt und auch an der Unterhaltung, ohne selbst viel hineinzuwerfen, teilgenommen. Allein der Schleier verborgener Schmerzen, heimlichen Wehs blieb über ihr, und sie konnte ihn mit ihrer Hand, zu der Mestings Blick so oft hinschweifte und mit der sie sich bisweilen die Stirne strich, nicht hinwegbannen. Jetzt aber, beim Anblick ihrer jungen Tochter, die einer bisher herbe geschlossenen Knospe glich, die eben unter den Liebkosungen des ersten Sonnenstrahls sachte Blättchen für Blättchen löst, zuckt und zerrt es an den in diesen Tagen wie halb verriegelten Toren ihres Mutterherzens. Ohne besonderen, triftigen Grund, einfach bereit, der allergeringsten Hoffnung gleich Raum zu geben, die ihr verspricht Brust und Seele auszufüllen, sieht sie ihr Kind auch schon erwacht und gereift, von allen Schlacken der Entwicklungsperiode gereinigt, in ihren Armen, als Ersatz für ein verlorenes Liebesglück, auf das sie kein Anrecht mehr besitzt. Ihre trüben Augen bekommen mehr Glanz. Hungrig, forschend umfassen sie Lise, die ihr in einer impulsiven, ihr sonst ganz fremden Weise lächelnd zunickt, plötzlich ihre Hand ausstreckt und sie der Mutter über Mesting, der zwischen ihnen sitzt, reicht. Ganz still bleibt der Pastor, als wären diese beiden Hände, die ihn auf Sekunden berühren, scheue Vögel, die bei der geringsten Bewegung fliehen müßten. Er aber hätte sie ewig halten mögen! Er muß daran denken, wie er damals, kurz nach Professor Halligers Tod an jenem Nachmittag, da Lise das Heiligtum des väterlichen Schreibtisches zu behüten beauftragt gewesen, dem ihm so unsympathischen Backfisch besonders ans Herz gelegt hatte, die Liebe zu ihrer Mutter zu pflegen und ihr als Tochter alles zu sein. Hatte er auch das Thema später während des Konfirmationsunterrichtes absichtlich noch häufig berührt, so war ihm doch keine Szene so im Gedächtnis haften geblieben. Jedenfalls scheint also das heranwachsende Mädchen sich seine Ermahnungen zu Herzen genommen zu haben, denn es waltet ohne Zweifel das schönste Verhältnis zwischen den beiden so grundverschieden Beanlagten.

Im Nebenzimmer zeigen dann Grete Mannes und Lise dem Pastor ein eben erschienenes, von Ludwig herausgegebenes Album, das den Titel ›Unsere Münchener Frauen‹ führt. Indessen sitzen Buchlehner und die zwei Brüder rauchend um Gertrud herum, die sich ein wenig auf den Diwan gelegt. Während sie träumt und unaufhörlich an Lise denken muß, berichtet Ludwig dem Älteren von einem großartigen Weib, das mehrere Male rätselhaft und ungekannt auf den Redouten des deutschen Theaters aufgetaucht sei, immer wieder in einer anderen eleganten, ja raffinierten Toilette. Auf dem roten Haar, das wirklich keine Perücke zu sein scheine, trüge sie malerische Hüte oder sonst irgend ein besonders schickes Arrangement.

»Eine Große ist sie, üppig und schlank, aber fein dazu! A Haut wie's Fell von einem weißen Mauserl und –«

»No, wird halt die Sonca g'wesen sein,« – wirft Carlo ein.

»Troddel! Pah, die Sonca! Hab' ja auch die Ehr'! Aber gar kein Red' net, – kein Vergleich net! Erstens viel größer, zweitens eine viel schönere G'stalt und einen Teint, – ohne Schmink und Puder, dabei doch kein Fleckerl und kein Untäterl drauf. Das heißt natürlich, nur was den Hals, die Büste und die Arme angeht, denn G'sicht hat man keines g'sehen; und nachher das Lachen, das g'scheite, lustige G'red, wenn sie so von ein zum andern g'sprungen is! Bald ordentlich naiv wie ein Mädel von fünfzehn, dann wieder sehr erfahren und klug, so wie eine ganz Raffinierte. Bald seicht, als wär's ein Matschackerl, plötzlich aber wieder aufsprühend wie hundert Raketen in irgend einem Gespräch, das an Ecken und Enden Bildung verrat. Mir ist ganz damisch worden zum Schluß, aber net mir allein. Der Baron Gschwandner aus unserer Loge und noch andere haben behauptet, sie sei ihnen schon voriges Jahr, wenn auch nur als Erscheinung aus der Fern' aufg'fallen, denn in unserm Revier hätt' sie sich damals net sehen lassen. Jetzt ich, – ich hätt' mir die sicher g'merkt, wenn s' mir jemals in Wurf kommen war!«

»No und nachher s' G'sicht und zum Schluß im Droschkerl etc. p. p., – no?«

»Jesses, Carlo, das is's ja grad! Gar kein Spur net von einem G'sicht! Kein Spur! Eine Pariser Larven, – weißt so eine ganz moderne, hochpikante, hat's aufg'habt, aber dann zu allem Überfluß noch einen schwarzen Flor-Paillette-Schleier herum ums Goscherl, mit einer feschen Schleifen auf der Seiten. Der Teufel soll da was erkennen! Z'letzt aber, witscht s' ei'm einfach aus! Immer! Man derf sich anstellen, wie man will, – hast's net g'sehen, – futsch is s'!«

»Schon gleich von der Redoute weg?« Carlo fängt an lebhafteres Interesse zu gewinnen. Ludwigs Bericht ist sogar schwach elegisch angehaucht.

»Gar net immer. Gestern zum Beispiel, – ich hab ihr aber auch auf dem Ball-Paré furchtbar zug'redet g'habt, daß s' gestern, weil's doch Fastnacht-Samstag is, g'wiß kommen soll, – ist sie blieben bis zuletzt und sogar dann noch mit ins Luitpold 'gangen. Fahren hat's absolut nicht mögen. Natürlich, sie hat halt Angst g'habt, daß i zudringlich werden könnt im Fiaker. Kreuzfidel ist sie dann auf ihre Gummischuh dahing'stapft und hat mich den ganzen Weg mit Schneeballen g'schmissen. Im Café hat's gleich einen, der's abbusserln hat wollen, eine feste hinter die Ohren g'steckt und dann das halbe Luitpold durcheinander bracht. Wie's am schönsten war, – – ihre Garderobenummer hat's natürlich auch da selber behalten g'habt, ist sie im Gewühl plötzlich untergetaucht, und i hab's nimmer zu G'sicht kriegt!«

»No, das ist ja grad fidel und pikant,« meint Carlo, und auch Buchlehner bestätigt es. Der Bruder setzt dann noch hinzu:

»Is ja so wie so meistens rein zum Auswachsen. Immer dasselbe, alleweil die gleichen Weiber und vom gleichen Kaliber. I mag scho lang nimmer hin!«

»Aber Herr Degenhardt,« Mesting und die jungen Mädchen treten wieder unter die Tür, – »ich vermisse ein bestimmtes Genre von Frauen in ihrem Album!«

»Aha, Herr Pastor, das wird halt schon Ihr Genre sein! Aber wissen Sie, dieses Genre ist halt nicht mein Genre und typisch für München ist's auch nicht!«

Buchlehner versteht allein, daß Mesting wohl diejenige Art Frauen im Auge hat, die Gertrud vertritt. Freundlich wendet er sich an den Pastor:

»Wenn's Ihnen morgen vormittag um elf Uhr bei mir einfinden wollen, dann gehn mir mitsammen zum Baron Gschwandner. Der hat dem Holleber sein Bild g'kauft, zu dem die gnädige Frau ihm g'sessen hat.«

»Aber ja! Danke sehr, Herr Professor, gewiß, mit Freuden!«

Dann zu Gertrud:

»Und Ihr Dom, gnädige Frau, – ich hab ihn mir aufgespart, um ihn nur in Ihrer Begleitung zu besuchen. Ist mir doch fast, als wäre er Ihnen zu eigen, nach dem, was ich hörte und erlauschte!«

»Ich – ich war so lange nicht mehr dort!«

Gertrud hat beinahe ein Schuldgefühl. Seit vielen Wochen hat sie die Frauenkirche nicht mehr ausgesucht. Sie blickt in Lises heißes Gesicht. Das junge Mädchen ist noch immer voll Leben und ruft ihr jetzt laut und fröhlich zu:

»Begleite doch morgen nach zwölf Uhr den Herrn Pastor dorthin, Mutter! Ach, bitte, tu das, ich kann mich dann auch frei machen und gleichfalls hinkommen. Bitte, bitte!«

»Ja, Kind, gerne, gewiß!«

»Sehr angenehm,« murmelt Mesting pflichtschuldigst und höflich. Die Gruppen wechseln, und Ludwig entweiht den schönen Bechsteinflügel durch einige Brettellieder, die er flott herunterspielt, indem er Treten zuflüstert, daß er den Bonzen damit reizen wolle. Der Bonze wird aber gar nicht gereizt. Er hört es kaum. Auf einem niedrigen Taburett kauert er neben der Hausfrau, erzählt ihr von Seedland und daß er viel zu tun habe.

Er dämpft seine Stimme noch mehr, indem er hinzufügt: »Mein Roman nimmt mir auch eine Unmenge Zeit!«

»Sie verfolgen also wirklich das einmal gefaßte Ziel? Aber Sie wissen das ja wohl am besten und werden schon das Richtige im Gefühl haben. Sie legen in Ihrem Buch nach dem, was Sie mir über den Inhalt anvertrauten, jedenfalls Kostbares nieder.«

»Ich hoffe!«

Bescheiden, aber innig nimmt er, nachdem er sich überzeugt, daß niemand herblickt, ihre Hand in die seine und sagt leise:

»Und Sie, gnädige Frau, sind, wie ich sehe, auf dem Weg, des Schicksals grausame Härte siegreich zu überwinden. Wie ich allenthalben vernehme, gehen Sie dabei ganz auf im Dienst der Nächstenliebe. Wie sympathisch das klingt, wenn man von Ihnen spricht als ›Unsere liebe Frau!‹«

Bittere Qual erfaßt sie da aber plötzlich.

»Still! Wollen auch Sie mich noch loben?«

Ihre Augen blicken ihn ganz zornig an, ihre nervösen Finger, die sie den seinigen entzieht, reißen in unruhigem Spiel einen Teil der Garnierung eines großen Daunenkissens ab.

»Ich bin ja gar nicht wirklich gut,« – sie springt auf und geht vor dem Erstaunten auf und ab, – »ich tue nichts für die anderen, für die Fremden, – ich – ich tue es für – mich selbst!«

Dann, schon unter der Türe stehend, mit schweren blinkenden Tränen an den Lidern: »Ich will nur – vergessen!«


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