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Dreißigstes Kapitel.

»Ja, – denke nur, Lise, – welche Überraschung! Plötzlich kam Mittwoch Onkel Detlev an!«

Das junge Mädchen wird todblaß und macht sich an seinem Kleid zu schaffen. Dann meint es sich beherrschend: »So plötzlich? Ganz einfach? Ohne sich anzukündigen?«

»Nur am Abend vorher hat er ein Billett geschickt; das war alles!«

»Ach nein! Wie seltsam!«

Aber Lise weiß und fühlt ganz genau, daß ihre Mutter keine Unwahrheit spricht. Prüfend streift sie diese mit ihren Blicken. So verändert kommt sie ihr vor. So jung, rosig und heiter meint sie die Mutter noch nie gesehen zu haben.

Gertrud wird es dabei aber zunehmend unbehaglicher. Da will schon wieder dieses eigentümliche Kältegefühl kommen und auch das einer dumpfen, quälenden Angst. Das ist oft so, wenn sie mit der Tochter zusammen ist. Sehr umständlich und langsam entledigt sich diese im schummerigen Hausgang vor dem Spiegel des Huts und des Capes sowie der unvermeidlichen Gummischuhe und streicht die Falten des sonntäglichen, schwarzen Kleides glatt, das am Hals von einem schmalen, weißen, gestärkten Streifen abgeschlossen wird. Dann steckt Lise ein Strähnchen ihres aschblonden Haares in den fest geflochtenen Knoten, der ihr wie angeklebt im Nacken sitzt. Dabei blickt sie anhaltend in das Glas und fragt dazu:

»So ist also Onkel Detlev heute auch da?«

»Nein! Er mußte vorgestern plötzlich nach Dromshoff zurück. Sein dortiger Vetter sei nicht unbedenklich erkrankt.«

Noch immer hat das junge Mädchen mit ihrem Haar zu tun.

»Aber er kommt doch bald wieder?«

»Ich weiß es nicht, und er selbst hat wohl auch keine Ahnung.«

Gertrud schlingt den Arm um die schmächtige Taille der Tochter und führt sie so in das behaglich durchwärmte Wohnzimmer. Der Herbst hat schon einige naßkalte Tage gesandt. Forschend, mit unendlich liebevollem, fast bittendem Ausdruck suchen die glänzenden Augen diejenigen Lises:

»Es tut dir wohl leid, Onkel Detlev jetzt nicht begrüßen zu können?«

»Ach, – ach ja, – das heißt, – Gott, ich kenne ihn ja kaum mehr! Und er wird außerdem wohl auch bald wieder kommen! Übrigens, – hast du einen Brief von To erhalten?«

Gertrud fühlt sich fast erleichtert, daß Lise abgelenkt.

»Ja! Einen besonders langen und lieben zu meinem morgigen Geburtstag. Er hat sich sehr angestrengt, der gute Junge!« –

Das Mittagessen, von Kathi, schmuck im weißen Häubchen und eben solcher Latzschürze, serviert, verläuft recht einsilbig. Lise verfällt immer wieder in ihre kreisenden Gedanken, und die Mutter, nur von einem beherrscht, das sie ganz erfüllt, getraut sich kaum irgend etwas zu sagen, aus Angst, es könne ihr das Herz völlig überfließen. O, dieses erschrockene Gesicht Onkel Tonis, wie sie ihm die jähe Wendung ihrer Auffassung, Ansichten und Gefühle mitgeteilt. Ihm ganz allein.

»Du, – du Traudl, – mußt's ja wissen, – aber behaltet's wenigstens eine Weil für euch,« hatte er mit eigentümlich schmerzlichem Gesichtsausdruck gemeint. – »Ganz und gar! I tät jetzt noch gar nix, – auch net gegen die Kinder, – erwähnen.«

Ja! wie recht hatte der Gute! Niemand, – nichts soll in dieses heimliche, schwer errungene Glück noch wissend und störend eingreifen. Allein, was nützen ihr alle Vorsätze, alle Selbstbeschwichtigung? Fast seit dem Augenblick, da Dombrowsky, auf die Dromshoffner Depesche hin, sich so eilig wieder verabschieden mußte, war bereits ein Teil der alten, schweren Zweifel abermals über Gertrud gekommen. Die Sonne, ihr vom Geliebten trotz allem in dieses graue, trübe Dasein gebracht, so hell leuchtend und hoffnungsfroh, war mit ihm fast verschwunden und hatte nur wenige Strahlen zurückgelassen. Die alte Qual steigt auf; und eine neue dazu: Was werden die Kinder, – insbesondere Lise – sagen? Die Kinder!

Um fünf Uhr – Mutter und Tochter hatten wegen des schlechten Wetters nur einen kurzen Spaziergang in die Isaranlagen machen können – kommt Fräulein Burkstaller von oben herunter und trinkt mit ihnen Tee. Das dünkt Gertrud wie eine Erlösung. Krampfhaft hatte sie sich bisher bemüht, auf der Tochter Interessen, die sich ausschließlich auf die Examina richten, einzugehen. Warum sie eigentlich so übereifrig strebe?

»Tust du es, um deinem Leben einen Inhalt zu geben? Du willst mir zu jung dafür erscheinen!« Schon weit früher hatte Gertrud das junge Mädchen einmal darum befragt. Damals hatte es darauf geantwortet:

»Ich weiß selbst nicht recht, warum ich es will, aber ich spüre, daß ich es können werde. Tante Hela hat doch auch ein paar Examina gemacht; und dann ist es so hübsch, den Leuten den Beweis unter die Nase halten zu können, daß man etwas gelernt hat, und es ist auch nett, sich dadurch zu überzeugen, wie viele, viele Mädels doch dümmer sind als man selbst.«

Eine andere Erklärung für das eigene Streben gab Lise nicht.

Umsonst hatte sie keineswegs von den Exzellenzen Eckeberg und Onkel Otto über den sonderbaren Verkehr Mutters, besonders auch mit der Malerin, herziehen hören. Aber auch außerdem wäre ihr Fräulein Burkstaller nie sympathisch gewesen. Diese hat die Gewohnheit, jedes Ding bei seinem rechten Namen zu nennen und sich darin durch nichts und durch niemand beirren zu lassen; auch besitzt sie den Mut der eigenen Überzeugung und hält diese aufrecht. Als gänzlich unabhängiger Mensch, als einsamer auch, der niemandem weh oder wohl damit tut, handelt sie nach eigenem Gutdünken und fragt nicht danach, ob andere ihr Tun und Treiben bekritteln. Sie nimmt die Menschheit, wie sie ist und sich ihr bietet, und erwartet grundsätzlich nie Großes, Tiefes von ihr. So ist sie auch nicht leicht Enttäuschungen unterworfen. Ihr klarer und scharfer Blick erkennt meist sofort das Echte und Wahre und läßt sich nichts vormachen. Wie bei jedem, der niemanden zu schonen und für keinen zu sorgen hat, hat sich auch bei ihr eine weitgehende Unbekümmertheit und allmählich ein gewisser Egoismus entwickelt, wenn sie auch dabei ihr Herz keineswegs fremdem Elend verschließt. Aber sie verschwendet nicht, und jenes Sichaufopfern und für Fremde sorgen, wie Frau Halliger es ausübt, ist ihrer Natur fremd. Ottilie hat gelernt, jede gute Stunde, die sich ihr bietet, zu genießen und nach Möglichkeit auszunutzen. Das nennt sie: sich das Beefsteak des Lebens garnieren! In ihrem Beruf fühlt sie sich meistens befriedigt und das, nach dem sie sich bisweilen dumpf sehnt, das sie sich erträumt und dem sie doch keinen eigentlichen Namen geben kann oder geben will, sucht sie zu betäuben.

Aus ihrem Empfindungsvermögen für jegliches Schöne heraus betrachtet sie nun in nachlässiger Haltung, mit übergeschlagenen Beinen und anhaltend rauchend, stumm und hartnäckig Lise Halliger, die korrekt wie immer, ihrer Mutter das Geschäft des Teebereitens abnimmt. Wie schön könnte das feingeschnittene Köpfchen sein, wenn einige Farbe die Wange belebte und die Augen statt der fischartigen Kälte Wärme oder gar liebenswürdige Leidenschaft widerspiegelten. ›Liebenswürdige Leidenschaft‹, ein Schlagwort Kunz Manzingers, das sie dessen letztem Buch entnommen. Es kommt heute kein gemütliches Plaudern zwischen den Frauen auf, und alle drei, jede in ihrer Art, fühlen sich unbehaglich. Frau Halliger sucht nach einem Mittel, die frostige Stimmung zu erwärmen.

»Willst du nicht ein wenig musizieren, Lise? Du hast doch eben wieder Neues studiert?«

»Jawohl! Wenn du es wünschest, – spiele ich gern!«

Dann quellen die Töne durch die weitgeöffneten Flügeltüren aus dem nebenan gelegenen Salon. Sie dringen rein und fehlerlos an die Ohren der Zuhörerinnen; aber auch nur an die Ohren. Die Herzen vernehmen nichts davon.

Korrekt bis zur Abfuhr, – brav und sittsam, – fleißig, – kalt, eiskalt, – denkt Ottilie. Ein Frosch soll eben nicht musizieren! Der Kuckuck hol ein Spiel wie das, wenn es einem noch dazu Beethoven verschandelt!

Gertrud seufzt bloß leise auf: nur ein falscher Ton, – ein Ausgleiten im Affekt, – einen Fehler aus übergroßer Hingabe – wünscht sie sich. Aber nein! Glatt, tadellos – bis zum letzten Ton.

»Du hast es wirklich gut studiert, Lise!«

Frau Halliger ist nicht ungerecht. Ihr fällt ein, wie bei irgend einer Gelegenheit, da es sich auch um Gefühlswärme gehandelt, Buchlehner gemeint hatte: ›'s is halt a so; der eine hat's, – der andere hat's halt net. Aber lernen kann's keins, und wann's halt einer net hat, tragt er kein' Schuld dabei!‹

»Sie genießen einen guten Unterricht, Fräulein Lise!« äußert sich die Malerin, denn sie muß doch etwas sagen. »Ja, gewiß! Alle Lehrkräfte sind vortrefflich im Institut. Aber Mutter,« – das junge Mädchen sieht auf die Uhr, – »nun muß ich wirklich bald gehen. Wer bringt mich zurück?«

»Keine Sorge! Ich selbst begleite dich. »Entschuldigen Sie, Fräulein Burkstaller, aber die Schülerinnen dürfen eben niemals allein auf der Straße gesehen werden. Mein Mädchen aber ist heute ausgegangen!«

Hinter dem Rücken der Mutter schneidet Life eine verächtliche Grimasse, und stößt ein ›ph‹ heraus, um auszudrücken, daß sie auf die Begleitung der Magd unter allen Umständen verzichtet hätte. Die Malerin erhebt sich rasch.

»Machen Sie keine Umstände mit mir, gnädige Frau! Ich bitte Sie, das ist doch selbstverständlich. Außerdem habe ich heute abend noch etwas vor. Besten Dank für die nette Stunde und auf Wiedersehen! Ich werde nicht ermangeln, Ihnen morgen meinen Glückwunsch zu Füßen zu legen. Nochmals adieu, gnädige Frau, und guten Abend, Fräulein Lise!«

Diese verbeugt sich streng nach den Institutsvorschriften und legt ihre kühlfeuchte Hand in die trockene der Künstlerin. Noch höher und imponierender erscheint diese neben dem schmalen und blassen, jungen Mädchen. –

Mutter und Tochter stehen sich dann in dem Halbdunkel des Ganges gegenüber. Sie hatten den Besuch bis zur Haustür begleitet.

»Gott sei Dank, daß sie weg ist!«

»Aber warum denn, Lise? Fräulein Burkstaller ist doch so klug und liebenswürdig!«

»Eben eine Emanzipierte! Auch so ein modernes Weib!«

Gertrud muß lächeln, obwohl die Kritik der Unreifen sie ärgert; aber dieselbe schmeckt doch allzusehr nach Eckebergs und Bruder Bauamtmann.

»Man merkt wohl, daß du viel bei Tante Hela bist und Onkel Otto dort öfters triffst!«

»O, – auch ohne diese möchte ich die Burkstaller nicht! Ach, – Mutter! Siehst du – überhaupt –«

Dann verstummt sie. Nun sind sie in dem wohnlichen Salon, in demselben Raum, in dem Gertrud Detlev willkommen geheißen. Ganz überrascht über die plötzlich so leidenschaftlich hervorgestoßenen Worte sieht Gertrud ihrem Kind ins Gesicht, das einen nervösen Zug trägt.

»Weißt du, liebe Mutter, ich muß in Wahrheit erst um neun Uhr im Institut sein. Ich wollte nur die andere weg und dich noch für mich allein haben!«

Was ist das? Lise wünscht sich ein Alleinsein mit ihr? Eine trauliche Stunde? Wenn jetzt schon die von Onkel Toni prophezeite Umwälzung bei ihr im Anzug wäre? Frau Halliger errötet vor Freude und bekommt feuchte Augen. Heiß wird ihr im Herzen, dessen Tore weit aufstehen, um ihr Kind, das heimkehrende, zu empfangen.

»Mein Lisel, mein gutes, liebes, warum wünschtest du dir das nicht früher und öfter?«

Sie setzt sich zu ihr auf den Diwan und zieht den schmalen Kopf an ihre Brust. Nervös spielt Lise mit den eigenen dünnen, langen Fingern. Dann aber legt sie einen Arm um der Mutter Nacken und flüstert mehr als sie spricht:

»Weißt du, – ich habe mir schon meinen Lebensplan ausgedacht. Wenn ich die Examina auch alle, alle gemacht habe, so komme ich dennoch ganz zu dir! – Ich werde auch so dann meine Kenntnisse irgendwie verwerten können, – und du wirst nie mehr allein sein! Heiraten werde ich nie, – gar nie! Die Männer sind mir ekelhaft! Alle, alle, alle! Du wirst dann immer mich haben, denn To, – Gott, so Jungens, – die schwirren immer nur draußen herum und kümmern sich nicht im geringsten um etwaige Pflichten, die sie doch eigentlich ebensogut wie die Töchter haben!«

Frau Halliger, die wie im Traum dem ganz erregt Hervorgesprudelten gelauscht hat, will sich anschicken, To zu verteidigen.

»Du tust dem Bruder unrecht. Gerade heute in seinem langen Brief hat er wieder.«

»Ach, laß ihn jetzt! Von dir wollen wir sprechen. Siehst du, Mutter, wir unternehmen dann auch weite Reisen. In allen großen Städten gibt es Damenpensionen oder Hospize und so weiter, so daß wir das gut allein können. Bis in einem Jahr bist du auch wieder älter und – und, – deine Kleidung mußt du auch – dann – ein wenig – –«

Erstaunt, etwas abgekühlt auch, aber vor allem beunruhigt und doch auch wieder durch Lises altklugen, so naiv anmaßenden Ton belustigt, springt Gertrud auf und stellt sich mit verschlungenen Händen vor das junge Mädchen hin.

»Aber Lise, warum glaubst du deine hübschen Pläne nur durch einen derartigen Apparat verwirklichen zu können? Meinst du denn, da draußen frißt man uns, und wir müßten uns verstecken? Kind, – Kind, das du doch bist! Aber, Gott sei Dank! Und meins, mein gutes, süßes Dummerchen!«

Lise stiert, in ganz bestimmte Gedanken verbohrt, zäh festhaltend an einem besonderen Ziel, das sie sich gesteckt, auf das leuchtend bunte Muster des zu ihren Füßen gebreiteten Persers, als überlege sie noch; dann steht sie auf und meint: »Ich will noch etwas holen!«

Sie kommt gleich wieder mit zwei Paketchen zurück. Auf dem Flügel, den eine Decke aus altem Stoff ziert, öffnet sie die Papierhüllen. Der einen entnimmt sie einen Pointlacekragen, dem anderen ein kleines Bronzefigürchen modernsten Geschmackes.

»Mütterchen,« nie wendet sie sonst das zärtliche Diminutivum an, »ich kann dich ja morgen nicht sehen an deinem Geburtstag, – denn es ist unmöglich mich frei zu bitten, weil ich zu Wichtiges versäumte. Ich möchte dir nun meine Gaben schon heute überreichen. Den Kragen,« sie legt ihn der Mutter um den Hals, »habe ich dir gearbeitet und das Goldscheiderfigürchen paßt gut auf die kleine Etagere, die du von Onkel Toni bekamst, als wir hier einzogen. Liebes Mütterchen, – ich wünsche dir alles Gute und Schöne!«

Ist das Lise? Die Kalte, die ewig Zurückhaltende? Gertrud kann gar nicht sprechen vor Überraschung und Freude. Sie muß nur immer wieder das junge Gesicht, den blonden Scheitel küssen. Wie zwei feste Punkte funkeln Lises Augen durch das schwach rosige Dämmerlicht, das die einzige, noch dazu beschirmte Flamme spendet. Zwischen den Brauen des Mädchens gräbt sich eine grade Falte ein, wie sie bei manchen Leuten durch starkes Nachdenken entsteht. Die Mutter stellt sich nach wiederholtem herzlichem Dank, mit dem Spitzenkragen vor den Spiegel, zündet noch eines der beiden Lichter daneben an und wendet und dreht sich vor dem Glas.

»So fleißig warst du für mich! Aber sieh nur, wie gut mir die Spitze auch steht! Gerade auf diesem Kleid!«

»Ist es nicht das erste schwarze nach Vaters Tod, das du dir jetzt mit diesem weißen Einsatz und den Weißen Tuchstreifen verändern ließest?«

Wie die anscheinend harmlose Äußerung Lises die Frau trifft! Ihre Hände, die schmeichelnd über die kunstvolle Arbeit geglitten, fallen herab wie entkräftet. Aber in dieser Stellung, mit den weit offenen Augen, beleuchtet durch die elektrische Flamme, die gedämpft ist durch die matt irisierende Glocke, schaut sie so schön aus. Plötzlich fühlt Lise es wie etwas überwältigend Schreckliches, eine so junge, bildhübsche Mutter zu haben; eine, die wie das fordernde Leben vor ihr steht, um sich ihr Teil zu nehmen. Wirre, unklare Gedanken jagen durch des jungen Mädchens Kopf. Liebt sie selbst etwa die Mutter so sehr, daß sie dieselbe nie verlassen möchte? Das ist gar nicht wahr! Eigentlich stehen sie sich ja fern. Wenn Mutter nun ihrerseits, – Lise kann nur immerzu denken: furchtbar und abscheulich wäre es, wenn ein Fremder hereinkäme in die Familie. Eine Schande wäre es vor der Welt, denn das gehört sich nicht. Wenn doch so große Kinder da sind! Die Leute, all die Menschen, die reden und reden, alles betasten und bemäkeln, würden spotten und ihre Glossen machen. Tante Hela hatte auch neulich einmal gesagt: ›Wenn euch eure Mutter nur keinen dummen Streich spielt! Sie geriert sich so jugendlich und hat so etwas, das gewisse Männer mögen!‹ Die sonst so korrekte Exzellenz scheut sich durchaus nicht, in Stunden schlechten Humors, oder wenn sie glaubt, erbost auf die Schwester sein zu dürfen, solche und ähnliche Dinge zu deren Tochter zu sagen. Es ist etwas Wahres daran! Mutter hat wirklich ein Talent gerade gewisse Männer an sich zu ziehen. Zum Beispiel diesen Manzinger da, diesen sogenannten Dichter! Einen verdrehten, liederlichen Kerl, der nichts wie Blech schreibe, so hat ihn Onkel Otto genannt. Von Detlev von Dombrowsky, – Lise weiß nicht, daß er diesen gar nicht wirklich kennt, – hatte er auch eines Tages Ähnliches geäußert und eine sehr wegwerfende Miene dabei aufgesetzt. Ach der! Nur um alles in der Welt nicht! Dann hat Lise doch in diesen Erinnerungen auch wieder einige sehr unbequeme Gefühle. Aber sie sucht ihr Gewissen, das in dieser Hinsicht nur ein ganz, ganz kleines, dehnbares Gummigewissen ist, zu beschwichtigen, wenn es sich aufbäumen will. Nun scheint es ohnehin fast, als wäre alles, was Lise bereits unternommen, nicht hinreichend gewesen, um den Lauf der drohenden Ereignisse aufzuhalten, zu korrigieren. Sie kennt die Mutter zu genau, um nicht zu wissen, daß weder mit Trotz noch Gewalt noch mit Zürnen etwas zu erreichen sei. Anders, ganz anders müßte man es anfangen; recht, recht vorsichtig, sachte und langsam. Mit Zärtlichkeit auch und mit Wärme, die einlullen und betäuben.

»Mein Muttchen!«

Sie küßt Gertrud, und diese fühlt nicht den Verrat brennen auf den schmalen, kühlen Lippen ihres Kindes. Sie löst den Kragen ab und legt ihn still zu dem Bronzefigürchen. Dann meint sie in frischem Ton:

»Jetzt aber ist's doch Zeit, daß wir gehen, sonst kommst du zu spät in deinen Käfig!«

»So gratuliere ich dir nochmals und sage dir auch gleich adieu; denn auf der Straße geht das doch nicht so schön. Ich gebe dir auch einen Geburtstagskuß an Stelle des Vaters! Fühlst du nicht, als wäre er immer bei dir und um dich, wo immer du auch seist? Ach Mutter, – nicht wahr, –« sie hält ihre Arme fest um deren Hals, – »wir bleiben zusammen? Du hast ja uns, besonders mich!«

Gertruds Kehle ist wie zusammengeschnürt. Auch den Nacken fühlt sie so steif, daß sie ihn kaum bewegen kann, um wenigstens stumm zu nicken. – – – – – – –


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