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Sechsundzwanzigstes Kapitel.

Endlich hält der Chrysanthemumstrauß in der Vase fest und schmückt nun die Schreibtischecke Frau Gertruds. Auf einer flachen, breiten Schale liegen zwei Briefe.

»Aha, von Grete!« Er ist richtig von ihr, kommt aus Seedland und klingt recht trübe. Noch immer, nun schon seit dem Sommer, ist sie zu Haus und pflegt den mürrischen, schwer zu behandelnden Oberförster, der ein schmerzhaftes Nierenleiden hat. Noch immer sei keine Aussicht auf Besserung.

»Armer Mann, – arme Grete!«

Der andere Brief ist von Doktor Mutzinger, den sie bei Majors kennen gelernt und an den sie sich gewendet hat, weil sie gern einen Krankenkurs mitmachen will. In seiner ganzen, berühmten Ehrlichkeit rät er ihr kurz und bündig ab. Sie könne doch wirklich jetzt genug haben von der Krankenpflege. Ob sie nicht schon jahrelang dieses schwere Amt erfüllt habe? Sie möge wohl bedenken, daß sie es an einem geliebten, ihr nahestehenden Menschen ausgeübt, und ihm nicht übel nehmen, wenn er schlankweg sage, daß er ihren Plan für Unsinn halte. Sie sei wirklich schon nervös genug. Da sie ihn für künftige Fälle, die hoffentlich lange ausbleiben würden, zu ihrem Hausarzt ernannt habe, verordne er ihr jetzt schon eine angenehme, leichte Beschäftigung, möglichst viel Ruhe, und befehle ihr, ausschließlich an ihre eigne, werte Person zu denken. Sie solle ihn recht bald einen guten Erfolg sehen lassen!

Frau Halliger hat große Sympathieen für den klugen, gemütlichen Mann mit den scharfen Augen und dem drollig klingenden Münchener Hochdeutsch. Sie hat wirklich das Gefühl, als verstände er in ihrem Gesicht zu lesen. Neulich hat er einmal zu ihr gesagt: »Sie haben halt viel auf einmal durchgemacht, gnädiges Frauerl. Jetzt ist's aber doch auch wieder Zeit, daß Sie sich aufrappeln. Sie sind mir auch zu viel allein, und ich mein', Ihr Fräulein Tochter wird doch auch bald genug haben von der Lernerei und zur Abwechslung einmal heim kommen zur Frau Mama. Und dann überhaupts, – wissen Sie, es ist ja jetzt modern, recht ätherisch auszusehen; aber Sie sind mir zu zart und blaß! Das muß mir anders werden! Empfehl mich, gnädige Frau!«

Gertrud meint, sie kenne Doktor Mutzinger schon von allerfrühester Kindheit an. So geht es ihr hier in München oftmals. In dieser frischen Luft liegt zugleich eine Wärme, die sich all den Menschen mitzuteilen und von diesen wieder auszuströmen scheint.

Nachmittags, – sie denkt an Doktor Mutzingers Verordnung, sich möglichst viel in freier Luft zu bewegen, und außerdem ist's ein schöner, sonniger Mittwoch, – geht Gertrud mit dem schulfreien Hanserl spazieren. Das darf sich den Weg wählen und schlägt die Richtung zur Residenz ein. Mit ihren prächtigen Marmorportalen, den wildgrimmig sein sollenden und doch so gemütlich aussehenden Wappenlöwen und der überaus lieblichen Madonna gehört das alte Bauwerk zu denen, die Gertrud, wie den meisten Münchenern, mit am vertrautesten sind. An allen Ecken und Enden war das ehrwürdige Gebäude restaurierungsbedürftig. Lange stellt sich Frau Halliger vor das Kapellentor und muß dabei dem unermüdlich fragenden Hanserl Antwort geben. Das prächtige Portal Präsentierte sich in zart getöntem rotem Marmor. Zur Auswechslung der verwitterten Quadern hatte man Trientiner Edelmaterial verwendet, das dem früheren, alten an Farbe wie Äderung am nächsten kam. Schmuck und wirkungsvoll, wie Gertrud sie nie gekannt, sind nun die bronzenen Zierden des Portals. Es ist ein schweres Stück, der Kleinen halbwegs zu erklären, was hier dargestellt ist. Das Monogramm Maximilians und seiner Gemahlin Elisabeth von Lothringen, umgeben von Fruchtgehängen als Krönung des Ganzen, und dann zur Seite des in die Architektur mit einbezogenen Fensters die trefflichen Figuren auf den abgebrochenen Giebelschragen. Links Fortitudo, rechts Temperentia, zur Verkörperung der wichtigsten Herrschertugenden, und als Gegenstücke Justitia und Prudentia thronend über dem Kaisertor. Bei der Wiederherstellung der wertvollen Bronzegüsse hatte es sich wohl auch um Behebung kleiner Schäden und Reparaturen, hauptsächlich jedoch um eine ganz umfassende Reinigung gehandelt. All diese Schönheit kennt Gertrud nur bedeckt von einer dicken Schmutzkruste, zu deren Ausbreitung und Verstärkung in der Hauptsache die massenhaft an der alten Residenz nistenden Tauben das Ihre beigetragen hatten. Das erzählt sie dem Hanserl.

»Kann ma ihnen das jetz verbieten?«

Ein Herr, der schon die ganze Zeit hinter Frau Halliger und der Kleinen gestanden, lacht laut auf und wirft einen wohlgefälligen Blick auf das muntere Kind, ohne die Dame zu beachten. Gertrud Halliger geht mit ihrem Schützling bis Tivoli, wo sie Kaffee trinken. Mit wahrem Genuß atmet sie die sonnendurchwärmte Herbstluft ein, die dem Erdboden einen würzigen Brodem entlockt. Darauf nehmen sie einen Umweg bis fast zum Kleinhesseloher-See hin. Dort sind schon, – aller täuschenden Sommerwärme zum Trotz, die silbrigen, geflügelten Wintergäste, die Möwen, in großer Zahl eingetroffen. Aus unglaublichen Fernen kommen sie für Stunden, verschwinden aber bald wieder, bis erst richtige Kälte sie hier festhält. Jetzt mischen sie sich in aller Eintracht mit den vielen, buntgefiederten Enten auf den Gewässern des Sees und der Kanäle. Hanserl leert seine Taschen, um doch am Ende noch Brotkrümchen zu finden, die es jubelnd den Vögeln als Futter streut. Blütenweiß steht drüben der Monopteros zwischen dem Grün, Rot und Gelb verschiedenster Bäume und Sträucher und hilft ein Stückchen Hellas ins Bayernland zaubern.

Auf den Tempelstufen ruht Gertrud mit dem Kind. Leise streicht ihre schlanke Hand über das gelblockige Köpfchen, das in ihrem Schoß ruht. Träumerisch blickt sie ins Weite. Ein fremdes Kind! Wäre es ihr doch zu eigen, ganz und gar! Dann hätte sie etwas, den Schrei zu ersticken, den ihr innere Schmerzen immer wieder aufs neue auspressen wollen. Etwas für ihre warme Jugend, an die sich die kalte Vereinsamung des Alters so unnatürlich früh heranschleichen will. Sie drückt Hanserl ans Herz und küßt es.

In westöstlicher Richtung bewegt sich pfeilschnell ein scharf umrissenes, schwärzliches Dreieck am klaren Himmel hin. Schneegänse auf ihrem Wanderflug!

Eine zweite Rast macht das Paar dann im Hofgarten. Die Blumenrabatten blühen dort noch in leuchtendster Farbenpracht und drüben, bei den Arkarden-Cafés, sitzen hell und bunt gekleidete Menschen dicht gedrängt im Freien, als wäre es Hochsommer. Langsam schlendert derselbe Herr, der sich schon vor der Residenz über das Hanserl gefreut, heran. Vergeblich suchen seine Augen nach einem freien Sitz auf einer der Bänke, um endlich Gertrud und die Kleine als einzige Inhaberinnen einer solchen zu entdecken. Er lüftet höflich den Hut vom graumelierten Haar und fragt um Erlaubnis Platz nehmen zu dürfen. Der Herr mag in den Vierzigern sein. Seine Kleidung ist sehr elegant, die ganze Persönlichkeit macht den Eindruck besonderen Gepflegtseins. Wieder ist er ausschließlich hingenommen von dem kleinen Mädchen und beobachtet interessiert dessen Tun und Treiben. Stillschweigend ist er ihm behilflich, kleine Feuersteinchen im Kies zusammen zu lesen, und hört sich dabei lächelnd an, wie Hanserl die ungeheuerlichsten Pläne macht, was alles es mit den seltenen Sachen anfangen wolle. Gertrud aber hört jetzt nur mit halbem Ohr, wenn das Kind sie etwas fragt. Sie kann ihre Augen nicht von dem Fremden wenden, zu dem alle Augenblicke irgend ein vorübergehendes Kind von der Mutter oder dem Mädchen weglaufend kommt und guten Tag sagt oder ihm wenigstens aus der Ferne zunickt. Auch die Kinderfrauen, Gouvernanten und Bonnen scheinen den Herrn zu kennen.

Aus blauer, weiter Ferne klingt etwas herüber zu Gertrud Halliger. So heftig streicht sie sich über die Stirne, daß der breitrandige Hut ihr tiefer in den Nacken rutscht und seine Krempe wie ein Heiligenschein ihr Gesicht umrahmt. Mit ihren verwundert aufgerissenen Augen sieht sie unglaublich jung aus. Mächtige Wellen kommen brausend und hochaufschlagend zu ihr herüber, von einem Ufer, das sie früher, – vor langer, langer Zeit, – bewohnt hat. Die Kämme schäumen weiß in Silbergischt und bäumen sich über purpurfarbenem und violettem Wasser. Ein rosenbekränztes Schiff aber schwankt darauf und – trägt Gertruds Kindheit! Diese steht wieder vor ihr und dahinter ein menschlicher Schatten. Nicht drohend! Ein friedlicher, treuer, der ihr alles Licht nur erst recht deutlich gemacht, damit sie es richtig schätze und erkenne. Zug für Zug wächst heraus aus dem charakteristischen Männerkopf, der ihr im Profil zugewendet ist. Halblaut, feierlich und bewegt, spricht Gertrud Halliger jetzt vor sich hin: »Wenn eine neue Zeit, abermals ein Lenz, mit Blühen und Blätterrauschen zurückkehrte, die dich wieder zu dem machen könnte, was du warst, dann – nur dann möchte ich dich Wiedersehen!«

Der Herr fährt auf aus tiefen Gedanken und sieht die Dame erstaunt und überrascht an. Er weiß nicht, was er aus ihr, – zweifelsohne der Mutter des reizenden Mädchens, – machen soll. Was sie da sagte, – klingt es nicht, als käme es aus seinem Mund? Sind es nicht seine eigenen Worte? Wie Kulissen sich verschieben, teilen sich immer mehr die Nebel, die vor einer Reihe von Bildern seiner Erinnerung gelagert waren. Nun streicht auch er über seine Stirne, die er faltet, als denke er scharf nach. Ganz findet er sich noch nicht heraus. Endlich aber formen seine Lippen dann doch unwillkürlich einen Namen: »Traudl!«

Heiße Röte einer tiefen Freude übergießt Gertruds Gesicht. Sie streckt Kunz Manzinger beide Hände hin, die er zögernd erst, dann aber fast heftig ergreift.

»Traudl, – weiß Gott, – verzeihen Sie, gnädige Frau, – ich bin zu überrascht!«

»Das glaub' ich Ihnen gerne! Erging es mir doch ebenso. Nun aber ist mir's, als hätte ich erst jetzt mein altes München, das rechte, das meiner Kindheit wiedergefunden!«

Er kann seine Blicke nicht mehr von ihr lassen. Immer wieder muß er in dieses Frauenantlitz schauen, das ihm immer zahlreicher altbekannte Züge aufzuweisen scheint. Diese strahlenden Augen, das bräunlich goldige Gelock, – war er denn blind gewesen? Wo hatte er denn seine Gedanken gehabt? Hier, in diesem Antlitz, in der ganzen Erscheinung liegt etwas, das noch der Kindheit angehört. Etwas, das ihm schwer macht zu glauben, daß er eine Frau, die seiner Rechnung nach die dreißig überschritten haben muß, vor sich habe.

»Ah, sind da viele Kastanien! Frau Professor, derf ich die mitnehmen in mei'm Körberl?«

Bettelnd steht Hanserl vor ihnen.

»Ja, ja, aber natürlich!«

»Wie? Das ist nicht Ihr Töchterchen?«

Gertrud schüttelt mit einem fast schmerzlichen Lächeln den Kopf.

Der Schriftsteller fragt nicht, ob ihr seine Begleitung auch angenehm sei. Er nimmt einfach eine Hand Hanserls in seine Linke und geht so neben Frau Halliger her. Halblaut erzählt diese ihm in großen Zügen von allem, was er noch nicht gewußt, ja nicht einmal geahnt. Bevor sie noch am Haus der Steinsdorfstraße anlangten, stand ihr Bild ihm mit einer merkwürdigen Deutlichkeit vor Augen. Gertrud meint sich unmöglich so plötzlich von Manzinger trennen zu können.

»Lieber Doktor, wenn Sie etwa den Abend frei haben sollten, so essen Sie doch bei mir. Ich erwarte Onkel Toni, Carlo und Ludwig. Wie werden die sich freuen, Sie wiederzusehen! Bis sie aber kommen, – und das wird nicht vor neun Uhr sein, – können wir uns noch gehörig ausplaudern!«

»Ob ich will? Ob Kaiser und König, Venus selbst mit einer Schar ihrer Dienerinnen auf mich warteten, so würde ich dennoch vorziehen, Ihre Einladung anzunehmen, gnädige Frau! Lassen Sie uns ein Fest begehen! Ein ganz seltenes! Das Fest Ihrer ungebrochenen Kindlichkeit, einer bewahrten, herrlichen ersten Jugend!«


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