Paul Grabein
Du mein Jena!
Paul Grabein

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XIX.

Im »Herzog August« war heute Kneipe, trotzdem es nicht der gewohnte Sonnabend war. Dicht besetzt war die lange Biertafel, trotz des Ausscheidens der Abtrünnigen; denn über ein halbes Dutzend Füchse und auswärtige Burschen hatte das neue Semester den Alemannen gebracht, und zudem waren jeder Inaktive und Alte Herr aus Jena und seiner Umgebung, sowie alle offiziellen Verkehrsgäste zur Stelle. Galt es doch heute etwas ganz Besonderes: Die Abschiedskneipe für Hellmrich!

Eine ernste, weihevolle Stimmung lagerte über dem Raum, wo sonst die heitere Burschenlust herrschte. Gewiss, es wurden ja beinahe jedes Semester ein paar Alte Leute so weggefeiert, es war das ja halt so der Lauf der Dinge – jeder musste mal dran glauben. Aber heute war's doch noch ganz was Besonderes. Seit acht Semestern war Hellmrichs Name mit dem der Alemannia fest verwachsen, war er der Führer, der Vorkämpfer, die verkörperte Tradition der Landsmannschaft gewesen. Das war doch ein fühlbarer, schwer zu ersetzender Verlust für die Alemannia, dass nun auch er scheiden sollte, der noch nie der Couleur gefehlt hatte, wenn sie ihn jemals brauchte.

Hellmrich sass oben neben dem Präsiden. Als er vorhin eingetreten war – alle andern waren schon versammelt gewesen – da hatte er mit Staunen wahrgenommen, dass der für ihn bestimmte Platz mit Tannenreis und Farbenbändern festlich geschmückt war. Der alte brave Apel, der mit einem verlegenen Lächeln und doch traurigem Gesicht daneben gestanden, schon den frisch gefüllten Schoppen für den Ankömmling in der Hand, hatte sich ihm sofort als den Urheber dieser Aufmerksamkeit verraten, und bewegt hatte ihm Hellmrich die Hand gedrückt. Der Alte aber hatte tränenden Auges gesprochen: »Ich kann Sie's ja noch immer gar nicht recht glaube, dass Sie werklich fortmache wolle. Aber vielleicht überlegen sich der Herr Doktor das doch noch emal!«

Schweren Herzens hatte sich Hellmrich auf seinen Ehrenplatz niedergelassen. Wie es auf ihm lastete, bei allem, was er hier tat, das trübselige Bewusstsein: Zum letztenmal! Auch jetzt, wo er den alten, treugedienten Deckelschoppen aufschlug – auf dem Rand die zahllosen Kerben, die ihm Semester und Mensuren in Erinnerungen brachten – wie er plötzlich daran denken musste an die ferne, selige Zeit, damals, wo er hier seine erste Kerbe eingeschnitten! Wer ihm dazumal gesagt hätte, dass es mal so anders kommen würde! – –

Nun stieg das erste Allgemeine, es war mit Rücksicht auf die Bedeutung des Abends ausgewählt worden: »Einst lebt' ich so harmlos in Freiheit und Glück!« Es war Hellmrich nicht möglich, mit einzustimmen. Stumm sass er da und starrte in sein Kommersbuch – das erste Mal, dass er ein Lied auf der Kneipe nicht mitsang. Aber es ging ja nicht, es würgte ihm ja in der Kehle wie aufsteigendes Schluchzen, als sie ihm nun da vorsangen von der sorglosen, wonnevollen Zeit der ersten Semester – »O selig, o selig, ein Fuchs noch zu sein!«

Das Lied war zu Ende, das Schmollis getrunken – da gebot der Präside abermals Silentium, und Bertram erhob sich zu einer Ansprache. Er war, als künftiger Kanzelredner, des Wortes am meisten mächtig und fühlte sich als Altersgenosse Hellmrichs, mit dem er zusammen Fuchs gewesen war, besonders berufen, ihm jetzt ein Abschiedswort zu widmen:

»Verehrte Gäste! Liebe Couleurbrüder!

Wir sind heute hier zu einer ernsten Feier vereint. Aus unserer Mitte soll einer unserer Brüder scheiden, der, wie kein anderer, sein ganzes Denken, sein ganzes Handeln, unter völliger Hintansetzung des eigenen Interesses, unserer Alemannia gewidmet hat. Ihr alle wisst es, was unser lieber Hellmrich uns gewesen ist, wie wir seit langen Semestern gewohnt waren, in allen schwierigen Lagen vertrauensvoll uns seiner bewährten Führung zu überlassen. Erst jetzt, in der allerjüngsten Zeit wieder, hat er seine Treue zur Alemannia glänzend bewiesen. Hier im Konvent wie draussen auf der Mensur war er da wieder unser Führer und Vorkämpfer! Leider hat ein unglücklicher Zufall ihm, dessen Faust die blanke Waffe so oftmals siegreich geschwungen, dieses letzte Mal gerade schlimm mitgespielt. Was ihn aber – auch als eine Folge seines opferfreudigen Einspringens für die Ehre unserer Alemannia – noch weiter an ernstem Ungemach betroffen hat, was ihn gezwungen hat, mit blutendem Herzen – wie wir alle wissen – vor der Zeit seinem lieben Jena den Rücken zu kehren, darüber lasst mich hier schweigen. – Wir haben hier eben miteinander das traurigschöne Lied gesungen, dessen letzter Vers lautet:

»Und endet der Bursche und muss er nach Haus,
Umarmen ihn Freunde noch einmal beim Schmaus.
Von manchem vergessen, der nahe ihm stand,
Verlässt er der Freiheit geheiligtes Land.
Er wird ein Philister und steht so allein –
O selig, o selig, ein Fuchs noch zu sein!«

Wohl wahr, unser lieber Hellmrich scheidet nun aus unserer Mitte, er zieht dem Philisterland entgegen – aber eines ist doch nicht wahr – dess' ruf ich Euch alle zu Zeugen auf: Vergessen werden wir ihn nie und nimmer! Was er für die Alemannia getan, was er uns persönlich gewesen, das werden wir für alle Zeit getreulich und dankbar im Gedächtnis behalten; sein Name soll als der eines leuchtenden Vorbildes, eines echten, rechten Alemannen allzeit an dieser Stätte lebendig und in Ehren gehalten werden!

Und nun, zum Zeichen dessen, als eine Gabe der Erinnerung an uns und Dein liebes Jena, und als ein kleines Zeichen unseres Dankes« – dem Redner wurde von dem Couleurdiener ein prachtvoller, reich damaszierter Paradesäbel übergeben – »nimm, lieber Hellmrich, hier diesen Ehrensäbel, den die Alemannia Dir gestiftet hat.« Und Bertram überreichte Hellmrich zugleich die Waffe; dann schloss er: »Jetzt aber fordere ich Sie, verehrte Gäste, und Euch, liebe Couleurbrüder, auf, mit mir auf unseren lieben Hellmrich einen urkräftigen Salamander zu reiben, dessen Kommando ich mir zu ganz besonderer Ehre anrechne.«

Mit freudigem Zuruf wurde diese Aufforderung zur Ehrung Hellmrichs angenommen, und wuchtig klapperten und rasselten die Schoppen auf den Tisch nieder, denn ein jeder war wohl in diesem Augenblick bewegt.

Als dann wieder Stille eintrat, erhob sich Hellmrich, und bat um Silentium. Aller Augen hingen an ihm. Aufrecht stand er da, tief ernst, die Blicke starr auf die funkelnde Klinge des Säbels in seiner Hand gerichtet und die Lippen unterm Schnurrbart fest zusammengekniffen. So rang er einen Moment nach Worten. Dann aber sprach er:

»Liebe Couleurbrüder!

Es ist mir nicht möglich, Euch zu sagen, was mich in diesem Augenblick bewegt. Nur danken will ich Euch, aus tiefstem Herzen danken für Eure Ehrung, die mich im Innersten gerührt hat. Diese Stunde werde ich nicht vergessen! – Und nun erlaubt, dass ich das, was mir sonst noch die Brust erfüllt, mit einem Lied, mit einem kurzen Vers ausdrücke.«

Einen Augenblick schwieg Hellmrich; dann ergriff er den Säbel – er musste ihn in die Linke nehmen – und hob ihn zu feierlichem Gelübde empor, während er in schlichter Weise, aber mit fester Stimme, aus tiefstem Herzen sang:

»Alemannia! Dir gehör' ich
Mit Herz und mit Hand!
Auf Deine Farben schwör' ich,
Aufs grün-weiss-schwarze Band.
Alemannia soll's beweisen,
Beweisen mit der Tat:
Ihr Herz und auch ihr Eisen
Stets brav geschlagen hat!«

»So, und nun meinen Ganzen unserer lieben, alten Alemannia! Vivat, crescat, floreat in aeternum!«

Mit starkem Zug trank Hellmrich sein Glas leer, während ihm aus vollem Herzen Beifall gespendet wurde. Alle drängten sich zu ihm, ihm die Hand zu schütteln, ihm zu zeigen, wie sie ihn schätzten.

Dann nahm die Kneipe ihren Fortgang. Es waren lauter wehmutsvolle Weisen, die heute ertönten. »Nun leb' denn wohl, Du kleine Gasse«, »An der Saale hellem Strande«, »O alte Burschenherrlichkeit«, und was der Lieder solcher Art mehr waren. Zwar, als später die Fidulität ihr Recht verlangte, wurde der Sang lustiger, wilder, und es war Hellmrich recht so. Er tat mit einer fiebrigen Erregtheit mit, half ihm das doch so am ehesten über die letzten Stunden hinweg, die noch bis zum Abgang des Zuges um die sechste Morgenstunde auszuharren waren. Nur wenige Couleurbrüder hatten sich schon im Lauf der Nacht verabschiedet, die meisten hatten beschlossen, mit ihm durchzukneipen und ihn dann zur Bahn zu geleiten.

So ging die Nacht herum, und gleich war es so weit, dass man aufbrechen musste. Da entfernte sich Hellmrich auf einen Augenblick noch einmal unbemerkt aus dem Kneipzimmer; er wollte draussen vom Balkon des Hauses noch einmal hinausblicken – zum letztenmal – über Jena und das Saaltal. Als er durch das Vorzimmer kam, sah er Apel in der Ecke neben dem Bierbock sitzen; die Couleurdienermütze tief übers Gesicht gezogen, lag der brave Alte mehr als er sass auf dem Stuhle und schlief. Ach, Du lieber Gott, was drückte sich der arme, gute Kerl denn hier noch herum? Hellmrich legte ihm die Hand auf die Schulter und rüttelte ihn sanft:

»He, Alterchen! Was machen Sie denn in aller Welt noch hier? Nun aber schleunigst nach Haus und ins Bett!«

Verschlafen rieb sich Apel-Franz die Augen; aber dann begriff er: »Nanu ne, Herr Doktor!« protestierte er aufstehend, »das gibt's Sie ja nich! Das werd ich mir doch nicht nehmen lasse, dass ich unsern Herrn Hellmrich nich mit uff de Bahn bringe.«

Hellmrich war wirklich gerührt: »Mein lieber, guter Apel-Franz,« und er klopfte ihm herzlich auf die Schulter, »na, wenn Sie durchaus wollen – natürlich!« –

Nun stand Hellmrich auf dem Balkon und schaute über die Stadt hin. Es war um das erste Morgengrauen. Von der Saale her brauten dichte Nebel und trieben ihre grau-düsteren Schwaden über die alten, winkligen Gassen hin, in denen noch alles schlief. Eine Weile stand er so, in trauriges Sinnen verloren; dann legte sich plötzlich eine Hand auf seinen Arm: Heinz Rittner war ihm nachgekommen. Einen Augenblick schwiegen beide. Dann sagte Hellmrich weich:

»Ja, ja, mein lieber Heinz; nun ist's ex mit all' der Herrlichkeit! – Wer weiss, wann wir uns nun mal wiedersehen!«

Rittner, den noch nie einer gerührt gesehen, blickte Hellmrich an, und in seinen grauen Augen schimmerte es feucht. Krampfhaft packte er Hellmrichs Linke: »Karl, Du warst mir immer ein lieber, braver Kamerad, und – weiss Gott – ich habe stets viel von Dir gehalten, wenn wir's uns auch niemals gesagt haben. Aber jetzt, in dieser Stunde, da muss ich Dir's einmal mit Worten gestehen: Ich hab' Dich manchmal bewundert, Du bist ein ganzer Kerl! – Ja, wer weiss, wann wir uns wiedersehen! wer weiss, wie Du mich mal wiedersiehst!«

Hellmrich sah Rittner ganz betroffen an. Was hatten diese Worte zu bedeuten? Aber er ahnte, was in diesem Augenblick in des andern Seele vor sich ging, wie dieser, an seiner Energie verzweifelnd, voraussehend in sein Schicksal, ernstes Unheil kommen sah, und in tiefstem Mitleid – denn ihn hatte mitunter selbst schon um Rittners Zukunft gebangt, – presste er dem alten Burschen die Hand:

»Nicht doch, Heinz! Nicht den Mut verlieren! Aber, wie's auch kommt – zähl' auf mich!«


Rasselnd und schnaubend war der Zug in den Saal-Bahnhof eingefahren zu flüchtigem Aufenthalt. In dem fahlen Morgengrauen lag der Perron öde und verlassen da. Nur der Stationsvorsteher, noch mit der bleichblinkenden Laterne ausgerüstet, und ein in den dicken Mantel gehüllter Bahnhofsportier waren sichtbar. Vor dem Wagen zweiter Klasse, vor der aufgeklinkten Coupétür, stand Hellmrich reisefertig, und um ihn herum die Schar der Couleurbrüder, die Wort gehalten und ihm hierher das Geleit gegeben hatten.

Nun plötzlich intonierte einer das Scheidelied, und alle fielen alsbald ein:

»Bemoster Bursche, zieh' ich aus, Ade!
Behüt' Dich Gott, Philisterhaus, Ade!
Zur alten Heimat geh' ich ein,
Muss selber nun Philister sein,
Ade, Ade, Ade!
Ach, scheiden und meiden tut weh!« – –

Aufgeschreckt durch den lauten Sang, steckten aus den dicht verhüllten, dunklen Nachbarcoupés einige verschlafene Passagiere ärgerlich ihre übernächtigen Gesichter. Was war denn das für ein Unfug? Aha, Station Jena – Studenten – Natürlich! Der Teufel hole den ganzen Schwindel!

Die Ruhestörer aber kümmerten sich wenig um die wütenden Grimassen, sondern sangen das Lied weiter, noch ein paar Verse und dann den Schluss:

»Im nächsten Dorfe kehret ein, Ade!
Trinkt noch mit mir von einem Wein, Ade!
Nun denn, Ihr Brüder! sei's, weil's muss,
Das letzte Glas, den letzten Kuss!
Ade, Ade, Ade!
Ach, scheiden und meiden tut weh!«

Der letzte Ton war verhallt. Schrill tönte zum zweiten Male die Glocke des Portiers. Einsteigen! Da nahm Hellmrich die Hand Rittners, der vor ihm stand, zum letzten Gruss und, im tiefsten Innern ergriffen, keines Wortes mächtig, drückte er ihm einen Kuss auf die bärtige Wange. Und so tat er es allen, die sich schnell noch einmal zu ihm drängten. Dann – das dritte Glockensignal war bereits verhallt, »Abfahren!« hatte der Vorsteher schon ärgerlich kommandiert – sprang Hellmrich im letzten Augenblick noch in den Wagen.

Krachend flog die Tür ins Schloss. Prustend und schnaubend setzte sich sogleich der Zug in Bewegung, der ihn mit jeder Sekunde weiter fortführte von seinem lieben, lieben Jena. Noch hörte er das Ade! der zurückgebliebenen Brüder als letzten Gruss an sein Ohr schallen, aber er zeigte sich nicht mehr am Fenster, wie sie wohl erwartet hatten. Denn er lag, den Kopf an die Kissen gepresst – Gott sei Dank, das Coupé war ja leer –, und heisse Tränen liefen ihm übers Gesicht. Aber er schämte sich ihrer nicht.

 

Ende des ersten Bandes.

 


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