Paul Grabein
Du mein Jena!
Paul Grabein

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XVI.

Vier Wochen waren dahingegangen. Die Osterferien waren vorüber. Hellmrich war nicht nach Haus gefahren, denn es bestand zwischen ihm und seiner Mutter eine starke Spannung. Die besorgte Mutter hatte einige Zeit nach Hellmrichs Säbelduell, als sie das Ausbleiben jeder Nachricht stark beunruhigt hatte, an ihren Sohn geschrieben und ihn beschworen, ihr die Wahrheit zu sagen: Was mit ihm sei, warum er nichts von sich hören liesse. Da hatte er ihr, wieder durch Rittners Hand, berichtet, was vorgefallen war. Auf dieses Bekenntnis war keine Antwort erfolgt. Hellmrich wusste wohl, wie seine Mutter, der er bisher stets vollstes Vertrauen geschenkt hatte, durch seine neuliche Ausflucht tief gekränkt war, wie sie überhaupt die Tatsache schmerzte, dass er entgegen ihren innigen Bitten und Warnungen sich doch wieder für die Alemannia eingesetzt hatte.

Wie brennend gern hätte er ihr geschrieben, sie um Verzeihung gebeten und beruhigt; er wolle ja im nächsten Semester – wo die Alemannia sicherlich auf guten Zuwachs von Füchsen rechnen durfte, seine Charge niederlegen und wieder inaktiv werden. Aber es ging ja leider Gottes nicht. Er konnte doch ein so intim gehaltenes Schreiben an die Mutter nicht durch die Hand eines Dritten gehen lassen. Und es war schliesslich sogar gut, dass es nicht möglich war. Denn, wenn er einmal offen und rückhaltlos an die Mutter schrieb, so hätte er ihr doch ehrlicherweise auch gestehen müssen, dass er durch die Verwundung mit seinen praktischen Arbeiten im Laboratorium so stark ins Hintertreffen geraten war, dass er vielleicht den nächsten Zulassungstermin zum Staatsexamen in der Mitte des Sommersemesters würde verfallen lassen müssen.

Das Bewusstsein dieses sogar höchst wahrscheinlich eintretenden Hemmnisses, das er doch immerhin seinem eigenen Verhalten zuschreiben musste, bedrückte Hellmrich sehr schwer, umsomehr, als er wusste, wie die Mutter daheim aus so berechtigten Gründen den möglichst schnellen Abschluss seiner Studien herbeisehnte. So war denn seine Stimmung jetzt immer sehr ernst, und es war ihm äusserst lieb gewesen, dass ihn die Ferienzeit, wo die meisten Couleurbrüder nach Haus gereist waren, wenigstens der Notwendigkeit enthoben hatte, in ihrer Gesellschaft sein gewohntes heiteres Gesicht zu zeigen.

Nun war aber das Semester wieder im Gang, und auch Hellmrich begann, Dispositionen für seine Arbeiten und seine Examenspläne zu treffen. Ins Laboratorium würde er allerdings erst in einigen Wochen gehen können, hatte ihm heute der Arzt in der Klinik beim Besichtigen des Verbandes gesagt, denn der Heilprozess am Arm war durch eine Entzündung aufgehalten worden. Morgen wollte er daher durch einen persönlichen Besuch bei dem Professor, der dem physikalischen Laboratorium vorstand, zu erreichen suchen, dass ihm doch trotz dieser Versäumnis noch gestattet würde, Mitte Juni mit den anderen Kandidaten ins Examen zu gehen.

Von seinem Besuch bei Dr. Kutznicker zurückgekehrt, empfing ihn das Dienstmädchen seiner Wirtin mit der Meldung, der Pedell, Herr Pilling, sei heute vormittag dagewesen, und habe ihn zu Seiner Magnifizenz, dem Herrn Prorektor, beschieden. Nanu, was wollte der von ihm? Hellmrich war einigermassen überrascht von dieser Zitation. Er hatte doch nichts ausgefressen, weswegen man ihn verhören wollte! Aber sehr wahrscheinlich hing die Sache mit dem Korpskrach zusammen. Er war ja nominell immer noch erster Chargierter – die Neuwahlen sollten erst im Eröffnungskonvent am nächsten Montag stattfinden – da sollte er gewiss wegen irgend einer Formalitäten-Frage Auskunft geben.

Hellmrich sah nach der Uhr, es war noch Zeit; bis zwei hatte ja der Prorektor seine Sprechstunde. Also schnell machte er sich zurecht und ging dann nach dem alten Kollegiengebäude, wo die akademische Verwaltung ihren Sitz hatte. Er brauchte nicht allzulange in dem altertümlichen, grauangestrichenen, kahlen Vorzimmer mit dem gedrungenen Kreuzbogengewölbe der Decke und den tief eingebauten Fensternischen zu warten; dann wurde er zu »Seiner Magnifizenz« beschieden. Hellmrich war dem gegenwärtigen Prorektor nicht unbekannt; Geheimrat Kernbach war zugleich Kurator der Stipendienstiftungen, aus denen Hellmrich nun schon an vier Jahre regelmässig einen namhaften Betrag bezog.

Mit respektvoller Verneigung begrüsste Hellmrich den am Schreibtisch sitzenden Prorektor, der ihn nicht unfreundlich, aber doch mit einer gewissen Gemessenheit, die er ihm sonst nie gezeigt hatte, Platz zu nehmen bat. Dann begann er zu sprechen, indem er langsam, beinahe wie in einer gewissen Verlegenheit, die Hände ineinander mahlen liess und sie aufmerksam durch die Brillengläser betrachtete, ohne Hellmrich anzusehen.

»Mein lieber Herr Hellmrich, ich habe Sie herbitten lassen, weil ich Ihnen eine Eröffnung von ernster Bedeutung zu machen habe, eine Mitteilung, die mir recht schmerzlich und peinlich ist. Wir sind bisher in der erfreulichen Lage gewesen, Ihnen sehr erhebliche Mittel zu Ihren Studien aus der Herrmannschen Stiftung und dem Röderschen Vermächtnis zur Verfügung zu stellen. Nach einem letzthin in der Kuratoriumsitzung gefassten Beschluss aber werden für das laufende Semester diese Bezüge einem anderen Studierenden zugewiesen werden. Ich bedaure diese Tatsache umsomehr, als ich persönlich Ihnen, dem Sohn unseres einstigen, leider unserer Hochschule allzu früh entrissenen Kollegen, gern diese Beihilfe zum Studium bis zum Abschluss desselben erhalten gesehen hätte. Aber, mein lieber Herr Hellmrich, – es tut mir wirklich aufrichtig leid – es ging nicht; die Mehrheit der Kuratoriumsmitglieder hat sich eben anderweitig entschieden. Es – ich darf Ihnen vielleicht als väterlicher Freund in Ihrem eigensten Interesse das sagen – es hat die Herren sehr unangenehm berührt, dass Sie in so hohen Semestern, wo die Arbeit allein ein Recht an Sie haben sollte, neuerdings noch einmal bei Ihrer Verbindung eine so aktive Rolle gespielt haben –« ein bezeichnender Blick des Prorektors fiel auf den Arm Hellmrichs in der schwarzen Seidenbinde – »und dass Sie dadurch in Ihren Vorbereitungen fürs Examen stark gestört worden sind.«

Hellmrich war jäh erblasst, als ihm der Geheimrat die niederschmetternde Mitteilung von der Entziehung seiner Existenzmittel gemacht hatte. Also auch das noch! Gerade jetzt, wo die Mutter daheim schon nicht mehr wusste, woher das Geld nehmen, um ihm bloss die gewohnten kleinen Zuschüsse zu seinen Stipendiengeldern zu geben! Was sollte nun werden? Es war Hellmrich, als sänke ihm auf einmal der feste Boden unter den Füssen weg, als müsse er versinken, untergehen – es schrie angstvoll in seinem Innern auf, und er hätte krampfhaft um sich greifen mögen, um einen rettenden Halt zu packen. Aber äusserlich beherrschte er sich völlig, nur seine Lippen zitterten vor innerer Bewegung, als er sich jetzt eine Erwiderung auf die Worte des Prorektors erlaubte:

»Magnifizenz verzeihen gütigst, aber ich möchte zu meiner Rechtfertigung bemerken, dass ich nicht etwa aus Leichtsinn noch einmal aktiv geworden bin. Magnifizenz haben ja vielleicht Kenntnis genommen von der plötzlichen Notlage, in die meine Landsmannschaft Ende vorigen Semesters durch den Übertritt der meisten Aktiven zum Korps Vandalia geraten war. Da erforderte es das Lebensinteresse der Alemannia, dass jeder, der nur irgend konnte, noch einmal zusprang, um sie vor dem Untergang zu retten, und auch ich konnte mich dieser Pflicht nicht entziehen.«

»Mein lieber Herr Hellmrich,« antwortete der Prorektor gütig, und seine Augen blickten Hellmrich in ehrlichem Mitgefühl an. »Wie gesagt, ich persönlich kann Ihre Handlungsweise ja vollkommen verstehen und achte Ihre selbstlosen Motive dabei durchaus. Aber meine Ansicht allein ist ja nicht die ausschlaggebende. Da hatten noch andere Herren mitzusprechen, z. B. die Vertreter der Testatoren, kurzum Leute, die anders dachten als ich. Und so kam es denn zu dem Beschluss, an dem nun leider nichts mehr zu ändern ist.«

Der Prorektor wollte noch fortfahren und einige tröstliche Worte hinzufügen, aber Hellmrich war aufgestanden. Er schien vollkommen gefasst, nur in seinen traurigen Augen verriet sich seine innerliche Gebrochenheit und Demütigung, als er sich nun von dem Geheimrat verabschiedete:

»Ich danke Euer Magnifizenz für das mir stets bewiesene Wohlwollen. Ich hoffe durch Taten zu zeigen, dass ich trotz allem dessen nicht unwert war!«

Eine tiefe Verbeugung, dann verliess er schnell das Zimmer.


Es war tiefe Nacht. Die Lampe in Hellmrichs Stube war völlig niedergebrannt, sodass er das Licht vom Nachttisch hatte anzünden müssen. Bei dessen spärlichem Schein sass er jetzt in dem fast dunklen Zimmer am Tisch, der Kälte im nächtlichen Gemach nicht achtend, und schrieb. Es ging dies nur langsam, unter grossen Anstrengungen und Schmerzen vor sich, denn er hatte den Verband abgenommen, und mühte sich nun ab, mit den steif und kraftlos gewordenen Fingern die Buchstaben hinzumalen. Was er da niederschrieb, in schwerwiegenden, kurzen Worten – das war die Frucht der bittersten Stunden seines Lebens, die er da eben, allein mit sich, durchgekämpft hatte, in seiner stillen Stube.

Was ihm der Verrat des einstigen Freundes angetan, der Verlust der heimlich Geliebten – so sehr sie ihn auch im Innersten getroffen, es war doch nicht das Schlimmste gewesen. Aber heute hatte er noch anderes, noch Weheres erfahren: Dass man leiden und büssen muss im Leben für Taten, die man aus ehrlichem Pflichtgefühl, in warmherziger Begeisterung getan – dass die Welt solche Taten verkennt und hart verurteilt. Er hatte heute kennen gelernt, wie es tut, wenn die Notwendigkeit, die unerbittlich heischende Notwendigkeit ans Herz klopft und gebieterisch verlangt, dass von nun an verlassen wird, was lieb und teuer ist. Er hatte heute seine Jugend, die Zeit sorgloser, frohherziger Lebensführung begraben und er hatte auch das Begeisterungsgefühl niedergezwungen, das ihn bisher so ganz dem Burschenideal hatte nachleben lassen. Nicht mehr Alemannia würde fortab sein Panier sein, sondern die Arbeit, die harte, freudlose Brotarbeit, die Sorge um Mutter und Geschwister!

Das schrieb Hellmrich nun der Mutter. Er teilte ihr offen mit, was ihm heute widerfahren war. Natürlich könne nun seines Bleibens in Jena nicht mehr sein. Er werde in wenigen Tagen, sobald hier alles geordnet, nach Berlin kommen. Aber er gedenke ihr nicht zur Last zu fallen. Er wolle sich durch Stundengeben oder andere Arbeit seinen Lebensunterhalt dort selbst verdienen und sich nebenher weiter zum Examen vorbereiten. Ende des nächsten Semesters hoffe er spätestens seine Studien erfolgreich abzuschliessen.

Diesen Brief trug Hellmrich – es graute schon der Morgen – zum Bahnhof hinaus, damit er schnellstens befördert würde. Dann schritt er heim, vor Abspannung der Seele ganz fühllos und starr im Innern. Ein schwerer Schlaf brachte ihm endlich die ersehnte Selbstvergessenheit.



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