Paul Grabein
Du mein Jena!
Paul Grabein

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VI.

Die Schlitten waren alle vollzählig am Start an der Hospitalkirche erschienen, und der erste Chargierte gab nun das Zeichen zur Abfahrt, die sich bald zu einem regelrechten Wettfahren entwickelte. Die Herren Alemannen hatten es sich natürlich nicht nehmen lassen, selbst die Zügel zu führen, um sich vor den Damen in vollem ritterlichen Glanze zu zeigen. Wenn freilich auch die meisten des Fahrens nicht gerade kundig waren, so war doch darum nichts zu befürchten. Die edlen Rosse aus dem Marstall der Jenischen Wagenhalter, die diese mit Rücksicht auf den Charakter der Fahrt, schon vorsichtig ausgesucht hatten, litten sämtlich nicht an einem Überschuss von Temperament, wenn sie freilich auch ganz wacker und fleissig mit langen Schritten ausgriffen, die leichte Last unter fröhlichem Schlittengeläut wohlgemut über die prächtige glatte Schneebahn ziehend.

Nur Spitze und Ende des langen Zuges, der aus zwölf Gefährten bestand, zeichnete sich von dem behäbigen Durchschnittstypus dieser Schlitten aus. Die Queue bildete nämlich das ja bei keiner Ausfahrt in Jena fehlende berühmte historische Gefährt, die »Himmelsziege«, jenes merkwürdige Wägelchen, das der »Spritzenschmidt« am Steindamm zum Selbstfahren für die Herren Studenten hielt und das von einem ruppigen Klepper von vorsündflutlichem Alter und etwa dem Aussehen von Böcklins Einhorn gezogen wurde. Das Wagengestell war heute auf eine plumpe Holz-Kufe gestellt und so zum Schlitten auffrisiert worden, und die »Himmelsziege« präsentierte sich in ihrem zottigen, unheimlichen Winterbehang noch imposanter als sonst.

Natürlich hatte man in diesen eigenartigen »Renommierschlitten« keine Damen gesetzt, sondern in ihm hatten nur ein paar Füchse Platz genommen.

In wirkungsvollem Gegensatz zu diesem monströsen Gefährt, das von den Damen mit hellem Jubel bei seinem Eintreffen am Rendezvous begrüsst worden war und das aus sehr natürlichen Gründen immer hübsch hinten am äussersten Ende des Zuges nachtrottete, stand der vorderste Schlitten, den Simmert lenkte. Er behielt die Führung nicht etwa nur respektshalber, weil der »Erste« darin sass, sondern kraft seiner selbst. Vergebens hatten die Nächsten im Anfang versucht, neben ihm aufzukommen, indem sie ihre Pferde aufs äusserste antrieben. Ganz umsonst; selbst die mit zwei Tieren bespannten Schlitten, obwohl diese minutenlang, aller Vorschrift zuwider, im Galopp sprangen, vermochten nicht, den weit ausgreifenden, temperamentvollen Traber einzuholen, der ohne Peitschenaufmunterung mit stolzgekrümmtem Hals vor dem Schlitten Simmerts einherflog, unter einer pomphaft im Wind sich blähenden grün-weiss-schwarzen Schlittendecke und einem Schellenaufsatz mit wehendem Haarbusch, gleichfalls in den Farben der Alemannen.

Dieses Pferd, wie auch sein Schmuck waren Simmerts Eigentum, und natürlich war der »Schamyl«, das »Couleurross«, der ganze Stolz der Alemannen! Gab es doch z. Zt. in Jena, wohin der Luxus so manch anderer Universität noch nicht gedrungen war, sonst keinen einzigen Couleurstudenten, der ein eigenes Pferd besessen hätte. Simmert galt daher als der Renommierstudent Jenas, auf den – wenigstens nach der Meinung der Alemannen – alle andern Korporationen nur mit scheelem Neide blickten, und das umsomehr, als sich bei ihm zu Reichtum und Eleganz auch noch der Umstand gesellte, dass er ein vortrefflicher Fechter geworden war. In ihm hatte die berühmte Schule Heinz Rittners und seines Leibburschen Hellmrich wirklich ein Meisterstück gezeitigt.

Die Entwicklung Simmerts zu diesem Glanze war eingetreten, als ihm bald nach dem Ableben seines Vaters ein Teil von dessen Vermögen zugefallen war. Die schon vorher bei ihm vorhandene Neigung zum Luxusleben fand nun reiche Mittel zu ihrer Befriedigung, und er machte davon ausgiebigen Gebrauch. Simmert war zudem kurz nach dem Todesfall bei den Husaren im nahen Naumburg eingetreten, um sein Jahr abzudienen, und hier hatte er im Kreise sehr bemittelter und verwöhnter Kameraden sehr bald vollends die Gewohnheiten eines Kavaliers kennen und annehmen gelernt. Eine Errungenschaft dieser glanzvollen Periode war auch der »Schamyl«.

Diese Umwandlung von Simmerts Wesen hatte das Verhältnis zu seinem Leibburschen noch stärker berührt, als es seine verschwenderischen Anwandlungen schon vorher getan hatten. In dem Masse, wie Simmert nun jeder Autorität und Abhängigkeit enthoben, immer selbständiger und eigenwilliger wurde, schwächte sich allmählich die einstige unbedingte Freundes-Hingabe und Willfährigkeit Hellmrich gegenüber mehr und mehr ab. Ja, es bildete sich schliesslich sogar ein starker, grundsätzlicher Gegensatz zwischen ihnen heraus.

Während Hellmrich ganz die gute, alte Alemannen-Art vertrat, die den Hauptwert auf innere Tüchtigkeit legte, aber einen Kultus mit äusseren Formen als »Patentfatzkerei« verschmähte, neigte Simmert gerade jenem Feudalstudententum zu, das nur auf »Schneidigkeit« und streng zeremonielles Formenwesen abzielt. Diese Neigung Simmerts gewann nur noch mehr Stärke durch seinen privaten gesellschaftlichen Verkehr. Er kam in den Häusern einiger pensionierter hoher Staatsbeamten und Offiziere fast nur mit Korpsstudenten zusammen, und ihre Art, die der seinen so eng verwandt war, wurde von ihm so geschätzt und nachgeahmt, dass er schon manchmal deshalb von seinen älteren Couleurbrüdern starke Anulkungen oder selbst scharfe Zurechtweisungen erfahren hatte.

Wenn es freilich Hellmrich oft auch recht schmerzlich war, zu sehen, wie sein Leibfuchs und altvertrauter Jugendfreund sich allmählich seinem Einfluss entzog und seinen eigenen Weg ging, war er doch verständig und gerecht genug, diesen Vorgang als etwas in Simmerts Anlagen Begründetes und daher Unabänderliches hinzunehmen, und darüber nicht zu grollen. Er bewahrte ihm trotzdem nach wie vor eine aufrichtige Zuneigung und war jederzeit bereit, sie ihm zu beweisen.

Nur in einem Punkte sah sich Hellmrich wiederholt gezwungen, scharf gegen den Leibfuchs vorzugehen. Er hatte nämlich wahrnehmen müssen, dass Simmert mit seinen feudalen Anwandlungen bei dem jüngeren Alemannennachwuchs Schule machte, und da hielt er es für seine Pflicht, die alte, würdige Tradition der Couleur zu wahren, mit aller Energie gegen die Neuerer vorzugehen und Einfachheit der Sitten zu predigen. Aber auch solche Differenzen vergass Hellmrich in seiner gutmütigen Art bald wieder, während bei Simmert sich allerdings der Verdruss über die überlegene Machtstellung Hellmrichs und den Sieg seines Prinzips allmählich zu einem starken Widerwillen verdichtete und verschärfte, den er aber bisher immer noch so verborgen hatte, dass der stets offene Hellmrich ganz ahnungslos hierüber war.

So wusste denn auch Hellmrich nicht, wie wenig willkommen er Simmert heute als Schlittengefährte war. Dieser hatte sich ganz besonders auf die Fahrt gefreut, weil er hinter sich das genug mit sich selbst beschäftigte Brautpaar haben sollte und also sicher war, seinerseits in seinem tête-à-tête mit Fräulein Gerung nicht gestört zu werden. Nun war das anders geworden! Hinter ihm sass der ja ewig mahnende und ratende Hellmrich, der ihn gewiss auch jetzt vor seiner Dame dirigieren würde, sodass er von seinem Glanz als Leiter der Korporation in ihren Augen verlieren würde. Zudem wusste Simmert auch, dass sein Leibbursch selbst sich für Fräulein Gerting interessierte. Da würde er ihm gewiss alle Augenblicke störend in sein Gespräch mit Lotte hineinfahren. Doch er war fest entschlossen, sich diesmal in keiner Weise inkommodieren, sondern den »alten Verstand« kaltlächelnd abfallen zu lassen, wenn es ihm beifallen sollte, ihm irgendwie ins Gehege zu kommen. Er hatte es jetzt gründlich satt, sich stets vor ihm zu beugen!

Simmerts Befürchtungen und grimmige Vorsätze waren indessen ganz grundlos, denn Hellmrich unterhielt sich ausschliesslich mit Fräulein Gundberg, der Braut des Alten Herrn, und hatte, abgesehen von der kurzen Begrüssung beim Einsteigen, überhaupt noch kein Wort mit der Dame Simmerts gewechselt. Er begnügte sich damit, von seinem Hintersitz aus ihre schlanke Mädchengestalt in dem knapp schliessenden, blauen Tuchkostüm heimlich zu bewundern, und es machte ihn schon glücklich, ab und zu ihr frisches, von Freude und Winterhauch gerötetes Gesichtchen zu sehen, wenn es sich in neckender, lebhafter Unterhaltung dem Leibfuchs zuwandte. Freilich, wenn dann ihre dunklen Augen Simmert so anstrahlten, oder wenn diesem ihr helles, lustiges Auflachen galt, dann stieg wohl ein trauriges Gefühl des Zurückgesetztseins in Hellmrich auf, und etwas wie Neid und Eifersucht auf den Leibfuchs regte sich ihm im innersten Herzen.

Aber weg mit solchen hässlichen Empfindungen! Pfui Teufel – wie konnte er nur so kleinlich und missgünstig sein! Warum gönnte er nicht den beiden jungen Leuten da vorn das Recht, sich harmlos zu unterhalten? Er hatte es ja früher auch nicht anders gemacht. Und ausserdem, nur Geduld – auch er würde bald wieder an die Reihe kommen. Nur erst das Examen machen, dann hatte er einen grossen Vorsprung vor Simmert voraus, gegen den dieser mit all seiner Eleganz und Unwiderstehlichkeit nicht ankommen konnte. Dann war er ein ernsthafter Bewerber und Ehestandskandidat, während der Leibfuchs als ein noch recht dauerhafter stud. jur. doch hierfür nicht in Frage kommen konnte. Also durfte er bis dahin Fräulein Gerting und auch seinem Leibfuchs gern das ungefährliche Vergnügen lassen, ein bisschen miteinander zu flirten. Das Mädchen war ja auch noch so jung, fast noch ein Kind, da war ihr wirklich diese Freude wohl zu gönnen. Ja, es war im Grunde sogar nur recht und billig, dass sie diese schönste und, ach, nur so kurze Spanne der Jugendzeit voll auskostete. Denn, wenn sie erst einmal als Braut gebunden war und vielleicht recht lange auf die Ehe warten musste, dann war Spiel und Tanz ja doch für sie aus!

Nur eines wollte Hellmrich heute schon versuchen, sich die Gewissheit zu verschaffen, dass er Fräulein Gerting nicht ganz gleichgültig sei, dass sie mit einem gewissen Interesse an ihn dachte. Er hatte ja ein Recht, dies anzunehmen, seitdem sie im Spätsommer bei dem Stiftungsfest mehrere Tage hindurch so reizend vertraulich miteinander verkehrt hatten.

Ach, was waren das für köstliche Stunden gewesen – in Wahrheit der glanzvolle Abschluss seiner schönen, langen Aktiven-Zeit! Da stand er noch auf dem Zenith seines Burschenruhms. Als erster Chargierter war er der Mittelpunkt der Alemannia, deren vielfach ausgezeichneter Repräsentant bei der langen Kette von glänzenden Veranstaltungen, die jenes dreissigjährige Stiftungsfest mit sich gebracht hatte. Wie hatte da Fräulein Lotte, die zum erstenmal ein Studentenfest mitmachte, ihn in seiner Würde bewundert und sich hochgeehrt gefühlt, dass der stattliche Repräsentant der Alemannen mit seinem schon so männlichen Schnurrbart und den vielen ehrenvollen Narben in dem sonst so freundlichen Gesicht gerade sie, die Allerjüngste, zu seiner Dame erkoren hatte, die nun überall mit ihm am Ehrenplatz sass und beim Tanz den Ball eröffnete.

Aber das Schönste war doch der Exbummel mit Damen am fünften Tage des grossen Festes gewesen, als die Mehrzahl der Alten Herren und auswärtigen Gäste schon festmüde alle wieder abgereist waren, und nur noch ein Rest der Allertapfersten beisammen war. Da hatte man, inzwischen allerseits gut bekannt und warm miteinander geworden, eine Spritze mit Damen nach Tautenburg unternommen. Hier hatten die alten Herrschaften Rast gemacht, während das junge Volk auf den berühmten Aussichtspunkt, die hohen Lehden, hinaufwanderte.

Wie war das köstlich gewesen, als er da an Fräulein Lottis Seite durch die grüne Pracht des dämmrigen Buchenwaldes geschritten war, abseits von der übrigen, fröhlich lärmenden Schar, auf einem stillen, verlassenen Holzweg! Wie mit einer Schwester hatte er da mit ihr geplaudert, so intim und vertrauensvoll. Und wie er ihr, so hatte sie auch ihm ihr ganzes junges Herz ohne Scheu gezeigt.

Sie fühlten sich ja auch einander so freundschaftlich nahe gerückt schon durch das ernste Schicksal, das sie beide betroffen, das jedem von ihnen nur allzufrüh den Vater geraubt hatte. Und diese Väter waren liebe Freunde gewesen; ihre Mütter aber standen noch heute in freundschaftlicher Korrespondenz miteinander. So hatten sie wirklich wie Bruder und Schwester innig miteinander gesprochen, in Liebe und Wehmut so manch gemeinsame Erinnerung aus früheren Tagen wieder aufleben lassen. Aber doch wieder anders als Geschwister! Denn wenn Hellmrich die schlanke, anmutige Mädchengestalt in dem duftigen Battistkleidchen so im zitternden Sonnengold neben sich herschreiten sah, dann schwellte ein nie gekanntes glücks- und sehnsuchtsvolles Gefühl seine Brust. Er hätte vor ihr auf dem grünen Waldteppich niederknieen und sie wie eine süsse kleine Heilige anbeten mögen, die zu umarmen ihm schon wie eine frevelhafte Entweihung vorgekommen wäre. Und doch, wenn sie ihm einmal die kleine, warme Hand reichte, wie es ihn durchrieselte und beseligte – ah, er hätte ja mit keinem König tauschen mögen an jenem herrlichen, unvergesslichen Tage!

Sie hatten sich zwar später auch noch mehrfach wiedergesehen im Hause ihrer Mutter, die seinen Besuch gern sah. Aber nie wieder war es zu solch einem vertrauten Miteinandersein gekommen. Sie sahen sich doch auch dann immer nur im engen Zimmer und in Anwesenheit noch anderer Gäste. Und bald hatte überhaupt die Arbeit zum Examen Hellmrich so ganz in Anspruch genommen, dass er sich nur noch sehr vereinzelt im Hause der Hofrätin sehen liess. So war es denn gekommen, dass er nun jetzt schon mehrere Wochen lang überhaupt nicht mehr in Fräulein Gertings Gesellschaft gewesen war und dass inzwischen einige seiner jüngeren Couleurbrüder, besonders sein Leibfuchs, im Hause ihrer Mutter viel vertrautere Gäste geworden waren, als er selbst.

Trotzdem aber hoffte Hellmrich zuversichtlichst, dass die warme Sympathie, die ihm damals Fräulein Lotti bewiesen, nicht ganz erkaltet sein werde, dass sie nur schlummere und von ihm wieder wach gerufen werden könne, sobald sich ihm Zeit und Gelegenheit dazu bieten würden. Sein fester Vorsatz war, sobald das Examen erst glücklich hinter ihm lag und er damit ein Recht erlangt hatte, um ein Mädchen zu werben, sich Lotti ernstlich zu nähern. Solange hiess es aber, sich in Geduld und Vernunft bescheiden. Gern wollte er auch ruhig wieder weiter harren und nach seinem so bedeutungsvollen Ziele in fleissiger Arbeit weiter hinstreben, wenn er nur heute wieder eine kleine Aufmunterung von Fräulein Lotti durch ein gutes, herzliches Wort, durch den Beweis ihrer Anteilnahme, erhielt. Dazu wollte er sich aber im Laufe des heutigen Tages unbedingt eine Gelegenheit verschaffen.

Zunächst kam freilich Hellmrich nicht dazu. Während der Fahrt nach Dorndorf bot sich nur Anlass zu ein paar flüchtigen Bemerkungen mit dem vorderen Paare, das sich offenbar so gut miteinander unterhielt, dass es den rückwärts Sitzenden nur gerade so viel Beachtung schenkte, als die Höflichkeit erforderte. Charlotte Gerting fand es auch zu reizend, so an der Seite des eleganten Kavaliers in sausender Fahrt dahinzugleiten über die glitzernde Schneefläche. Es schmeichelte ihr sehr, dass sie, die man überhaupt als notorische Ballschönheit in der Jenenser akademischen Gesellschaft bereits stark verwöhnt hatte, auch hier wieder die am meisten Ausgezeichnete war. Und wenn sie auch nicht gerade hoffärtig und auf ihre Triumphe eingebildet war, so machte es ihr doch eine naive, aufrichtige Freude, dass man ihr Huldigungen darbrachte. So gab sie sich denn auch jetzt ohne jede absichtliche Vernachlässigung ihrer Begleiter, aber doch mit jenem unbewussten Egoismus eines glücklichen jungen Menschen, ganz dem Genuss hin, den ihr diese Fahrt verschaffte. Sie kam überhaupt gar nicht auf den Gedanken, dass ihre ausgelassene Heiterkeit mit Simmert irgend jemand verletzen könnte.



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