Paul Grabein
Du mein Jena!
Paul Grabein

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IX.

»Und ich sag' Sie, Härr Doktor, der Sozialdemokrade kommt Sie doch noch in die Stichwahl.«

Mit Nachdruck gab der wackere Gerbermeister Polz dieses Diktum ab, worauf er mit hochgezogenen Augenbrauen und gerunzelter Stirn, was seinem roten, runden Antlitz einen Ausdruck von ungemeiner Wichtigkeit verlieh, seinen Deckelschoppen zum Munde führte und bedächtig einen langen Zug tat. Voll offener Bewunderung und Stolz über diesen ihren Standesgenossen, der so gewandt mit den Herren Studenten über die Aussichten der gerade bevorstehenden Reichstagsersatzwahl zu disputieren verstand, blickten die übrigen Philister am Stammtisch des »Herzog August« auf Meister Polzen und schlossen sich dann dessen Meinung auch mit einem allgemeinen Schluck an.

»Na, das wäre einfach eine Affenschande, eine ewige Blamage für die Universitätsstadt Jena, wenn sie womöglich von 'nem Sozi im Reichstag vertreten würde,« rief vom Billard her der etwas kurzbeinige cand. med. Birkner zurück, während er sich gerade zu einem schwierigen Karambolagestoss bäuchlings auf das grüne Tuch legte.

»Warum 'ne Blamage?« fragte gelassen sein Partner, ein hagerer, schon älterer Student, wie der andere in der Alemannenmütze, zurück und kreidete aufmerksam sein Queue ein. »Sind die Sozialdemokraten nicht ebenso gut eine parlamentarische Partei wie alle andern? Ich halte sie jedenfalls für kulturfördernder als die Agrarier mit ihren rückschrittlichen Tendenzen.«

»Ja, da kann ich Sie nur Recht geben – alles, was wahr is,« pflichtete Meister Polz bei. »Mir sein ja keine Sozialdemokraden nich, sondern liberale, königstreue Bürger. Aber wenn ich bloss die Wahl habe, zwischen dem akrarschen Agidador, der 'n kleenen Mann ooch noch sei bisschen Brot verdeiert und 'nen Sozialdemokraden, denn is mir der aber noch allemol lieber.«

»Nu – des is wohr!« stimmte der Chorus vom Philistertisch mit ein, während aus der andern Ecke des grossen Gastzimmers, wo um den runden, wappengeschmückten Stammtisch herum die Alemannen sassen, starker Widerspruch laut wurde.

»Gibt's ja gar nich.« – »Schon aus Prinzip muss immer gegen die verdammten Sozis gestimmt werden.« – »'n anständiger Mensch kann doch überhaupt keinem Sozialdemokraten seine Stimme geben!« – »Oho! – Bitte sehr, warum denn nicht?« »Wie kannst Du überhaupt bloss dagegen etwas einwenden? Mal fix in die Kanne – aber nicht zu knapp!«

So scholl es laut durcheinander. Doch dann hörte man, allerdings nicht mehr am Philisterstammtisch vernehmbar, die etwas leutnantsmässig näselnde, schneidige Stimme Simmerts, der geringschätzig äusserte: »Ich verstehe überhaupt nicht, wie man so geschmacklos sein kann, mit den Spiessern über Politik zu kannegiessern! Und Korff sollte man wirklich von Konventswegen untersagen, seine radikalen Anschauungen öffentlich zum besten zu geben. Schlimm genug, dass er sie überhaupt hat!«

Es lag eine unverhüllte Geringschätzung und Abneigung noch mehr im Tone als in den Worten Simmerts. In der Tat war ihm sein Couleurbruder Korff auch aufs höchste zuwider. Dieser war ein schon älterer Mensch, trotzdem er erst im dritten Semester stand; aber er hatte als Apotheker bereits Jahre hindurch praktisch gearbeitet, ehe er endlich die Mittel erlangt hatte, noch als Siebenundzwanzigjähriger auf die Universität zu gehen. Dem feudal gesinnten Simmert war es an sich schon fatal, mit jemandem das gleiche Band zu tragen, der »hinterm Ladentisch gestanden hatte«, aber noch viel unangenehmer war ihm von vornherein die spöttische, kühle Art Korffs erschienen, der das ganze Couleurwesen im stillen als eine ziemlich kindische Maskerade anzusehen schien. Und es war in der Tat so. Korff war nur durch besondere Umstände bewogen worden, aktiv zu werden. Der Vorsteher des pharmaceutischen Laboratoriums, Dr. Mantz, ein alter Herr der Alemannen, hatte ihn dazu gekeilt und Korff hatte sich schliesslich bereit finden lassen, weil er hoffte, dann Famulus bei dem Doktor zu werden, was ein paar Hundert Mark das Jahr eintrug.

Diese Hoffnung hatte denn auch Korff nicht betrogen; aber seine innerliche Stellung zu den Alemannen war dadurch keine intimere geworden. Nur notgedrungen tat er eben mit. Er war ein, ohne jeden Zweifel, sehr kluger, fähiger Kopf, aber völlig verbittert und skeptisch geworden durch ärmliche Familienverhältnisse und eine freudlose Jugend. Mit Begier hatte er alles verschlungen, was über die sozialen Fragen der Gegenwart geschrieben worden war, und er lebte und webte ganz in diesen Dingen. Als Mensch, der schon lange im praktischen Leben gestanden, dadurch natürlich einen viel weiteren Gesichtskreis und ein reiferes Verständnis für die Tagesfragen erhalten hatte, verstand er sich zumeist nicht mit den bedeutend jüngeren Leuten der Alemannia und er hatte daher seinen persönlichen Verkehr mit den Couleurbrüdern auf das möglichst geringste Mass herabgesetzt. Dadurch war aber selbstverständlich sein Verhältnis zu diesen ein immer loseres und unfreundlicheres geworden.

Korff hatte nun jetzt die Bemerkungen Simmerts wohl vernommen und erwiderte darauf mit ironischem Lächeln: »Gott sei Dank sind uns ja vorläufig unsere politischen Anschauungen noch nicht statutarisch vorgeschrieben, lieber Simmert, so dass Du mit Deinem wohlmeinenden Vorschlage wenig Glück haben dürftest.«

Der Erste zuckte hochmütig die Achseln und gab kühl zurück: »Fällt mir doch nicht ein, mich mit Dir zu streiten,« und sich zu seinen Tischgenossen wendend: »Ich kann nur im Interesse der Alemannia bedauern, dass wir überhaupt in der traurigen Lage sind, Gevatter Schneider und Handschuhmacher zu Zeugen solcher Unterhaltung zu machen. Wie anders wäre es, wenn wir jetzt unter uns im eigenen Hause sässen!«

Simmert spielte hiermit auf Dinge an, die die Couleur schon oftmals lebhaft erregt hatten. Der Wunsch nach einem eigenen Couleurhause, wie es die meisten Korporationen in Jena besassen, war nämlich von Simmert immer betont worden, und im letzten Sommer, gelegentlich des grossen Festkonvents beim dreissigsten Stiftungsfest, hatte er die Sache glücklich zur Sprache gebracht. Aber er war mit seinem Antrag unterlegen gegenüber der Mehrzahl der Alten Herren und den Anhängern Hellmrichs, die es aus finanziellen Gründen für vorteilhafter hielten, dass die Alten Herren vorläufig nur den »Herzog August«, das alte historische Wirtshaus an der Kamsdorfer Brücke kauften und einen Ökonomen zur Fortführung der Wirtschaft einsetzten. Wenn so freilich auch die Alemannen Herren des Hauses waren, mussten sie doch, der Rentabilität wegen, in den Gastzimmern unten fremde Besucher dulden, indem nur die oberen Räume, Kneipe, Konventszimmer und Spielzimmer, ausschliesslich für sie reserviert waren.

Das Thema war wieder einmal angeschnitten worden und wurde lebhaft aufgenommen.

»Ja, Simmert hat ganz recht,« stimmte dem Ersten der Fuchsmajor zu. »Schon im Interesse der Couleur-Erziehung ist es unbedingt erforderlich, dass man für sich abgeschlossen ist.«

»Na, das weiss ich denn doch nicht,« wandte der alte Inaktive Bertram ein. »Ich meine, dass man sehr einseitig wird und versimpelt, wenn man ewig nur in seinem Hause hockt. Ich halte es geradezu für sehr vorteilhaft, mal etwas anderes um sich herum zu sehen und zu hören. Jedenfalls hat es uns Alemannen bis jetzt noch nie etwas geschadet, dass wir in der öffentlichen Gaststube mit anständigen Bürgersleuten gesessen haben.«

»Na, da hätten wir uns ja glücklich wieder mal beim Kragen. Kinder, wir wollen hier doch keine hundertste Auflage vom Stiftungsfestkonvent veranstalten. Reden wir lieber von etwas anderem.« Bursch Fildner sagte es und fuhr fragend fort:

»Wo bleibt denn Toni heute eigentlich? Ich habe ihn den ganzen Tag noch nicht gesehen. Selbst auf Tobias ist er nicht gewesen. Kneipt er etwa mal wieder in Leipzig ex? Im Kristallpalast soll ja da jetzt ein mächtiger Betrieb sein.«

»In Leipzig? Keine Spur!« lachte Ranitz mit seinem dröhnenden Bass los. »Der liegt noch zu Hause und dachst.«

»Was? Jetzt um sieben Uhr abends?«

»Ja woll,« bestätigte Ranitz. »Ich war heute nachmittag so gegen fünf, halb sechs bei ihm auf der Bude. Da lag er noch in der Falle. Und als ich ihn fragte: Na, Mensch, willst Du denn heute gar nicht aufstehen? drehte er sich bloss auf die andere Seite und sagte: I wo! 's is ja noch hell draussen!«

Lautes Gelächter belohnte den famosen Witz. Ja, dieser Toni war doch ein toller Hecht!

»Kinder, eigentlich hat Toni auch ganz recht,« liess sich der kleine Birkner vernehmen. »Schon allein, um den Wechsel auf den Damm zu bringen. Wenn man den ganzen Tag in der Klappe liegt, spart man Frühschoppen und Mittag. Ich mach's nächstens auch so.«

»Habt Ihr denn übrigens schon gehört, was Toni gestern noch passiert ist – oder richtiger, heute morgen?« fragte Ranitz weiter.

»Nee, keine Spur! Erzähl' mal.«

»Na,« sagte der Bursch und stärkte sich erst mal durch einen tüchtigen Schluck zu dem schweren Werke: »Die Geschichte ist wirklich nicht schlecht. Also Toni ist gestern nach der Schlittenpartie, wie üblich, noch in sein Stammlokal, die Eychelbergei gegangen und hat da mit ein paar anderen Sumpfhühnern bis zur Abfuhr Schlummerpunsch gezecht. Als er dann endlich die richtige Bettschwere hatte, ist er so gegen sechs, pünktlich wie immer, nach Hause gegangen, und da ist er denn auf den Einfall gekommen, sich noch ein bisschen mit Bem zu unterhalten, der ja nebenan seine Grotte hat. Der aber war zum Seichen nicht besonders aufgelegt, denn er sollte ja heute morgen in die Physiologische Station rein – also er sagt' mit seiner Bierruhe Toni 'nen paar Mal ganz gemütlich, er solle sich rausscheren. Aber Toni hört natürlich nicht und setzt sich, immer weiter kohlend, zu Bem auf 'en Bettrand und bläst ihm den Rauch von seiner Zigarette ins Gesicht, damit er die Augen aufmachen soll. Bem lässt sich das erst eine Weile gefallen, dann aber springt er plötzlich auf, sagt kein'n Ton, aber packt Toni'n mit seinen Schraubstockfäusten um den Leib und saust mit ihm ins Vorderzimmer, wo das Fenster aufsteht. Und was soll ich Euch sagen: Er hält Toni'n einfach in steifem Arm zum Fenster raus – drei Stock hoch! – und fragt: »Willst Du nun artig sein, Toni?«

Lautes Staunen und respektvolle Bewunderung:

»Donnerwetter! Doch ein Mordskerl, der Bem!« – »Ja, das ist 'ne Kraft!« – »Deibel, und was hat Toni dazu gesagt?«

»Na, der war mit einem Mal verdammt klein geworden. Versprach das Blaue vom Himmel runter, und war man bloss froh, als er wieder festen Boden unter den Füssen hatte.«

»Kunststück!« warf Bertram hin. »Ich möchte ooch nich so zum Trocknen zum Fenster rausgehängt werden.«

»Na, ich auch nicht! Weess Knöppchen!« bestätigte ein anderer. In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und Hellmrich trat ein.

»Na, alter Verstand, auch schon ausgeschlafen von der Schlittenpartie? Bist wohl auch noch mit Toni in der Eychelitis gewesen?« empfing man ihn neckend, als er sich dem Tisch näherte, Hellmrich nickte vorläufig nur lachend hinüber, trat zu der Stammecke der Philister auf der andern Seite, die ihn bei seiner Annäherung vertraulich, aber doch mit einem unverkennbaren Respekt begrüssten. »Der Härre Hellmrich, das war Sie eine Seele von'n Menschen – das war Sie doch der Beste von die ganzen Alemannen« – darüber war nur eine Meinung bei den Stammphilistern des »Herzog August«.

»Na, Alterchen, wieder auf dem Damm? Das ist brav!« begrüsste Hellmrich freundlich ein grauköpfiges, eingehutzeltes Männchen, das kaum noch über die Strasse konnte, sich aber doch noch immer zu dem gewohnten Abendschoppen schob, den ja ein echter Jenenser Bürger bis zum letzten Atemzug nicht versäumte. Der Alte war aber durch eine böse Influenza die letzten vierzehn Tage fern gehalten worden.

»Na, danke, es macht sich ja nune wieder, Härr Doktor,« meinte der Alte hüstelnd. »Ich hab's 'ner noch ä bisschen uff der Plauze. Die verdammichte Infullenza lasst eenen doch nich so schnelle wieder aus 'nen Klauen, wenn se eenen ämol erscht gepackt hat.«

»Wird sich schon wieder ganz geben! Man keine Bange, Alterchen. Wenn man noch so jung ist wie Sie!« Und freundlich lächelnd nickte Hellmrich, sich verabschiedend, dem Alten zu, der mit seinen Tischgenossen über diesen Scherz in eine breite Heiterkeit geriet.

Am Couleurtisch begrüsste dann Hellmrich alle durch einen Händedruck. Als Korff an die Reihe kam, sagte er ihm: »Na, kriegt man Dich auch mal wieder zu Gesicht, Du Einsiedlerkrebs? Warum warst Du eigentlich gestern nicht mit dabei? Es war doch famos, unsere Schlittenpartie – was, Füchse?« wandte er sich an die beiden Krassen, die ihm Pfeife und Tabaksbeutel vom Eckregal herholten. Hellmrich huldigte nämlich noch immer mit einigen älteren Leuten der guten, alten Gewohnheit, auf der Kneipe seinen Knaster zu schmauchen, zum höchsten Entsetzen Simmerts und seiner Anhänger, die das einfach für proletarisch erklärten. Naserümpfend sahen sie daher auch heute wieder mit unendlicher Geringschätzung auf den schwarzverschmurgelten Porzellankopf, aus dem Hellmrich jetzt gerade die ersten, etwas beizenden Rauchwölkchen aufsteigen liess. Behaglich sog er an seinem Rohr, der indignierten Blicke nicht achtend und auch mit einem gelassenen, gutmütigen Lächeln Simmerts laut hervorgestossene Worte überhörend: »Pfui Deibel! Stinkt der Kohl heut' mal wieder!«

Da Korff, der hinter einem Zeitungsblatt vergraben sass, seitdem er vom Billard hergekommen war, auf Hellmrichs Frage nicht geantwortet hatte, so nahm für ihn ein anderer das Wort: »Hast Du Ahnungen, alter Verstand! Korff und Schlitten fahren – wenn gerade 'ne Wahlversammlung abgehalten wird.«

»Wahrhaftig – ist's wahr? –« Hellmrich paffte, seinen Tabaksbeutel sorgsam wieder zuschnürend, die weissblauen Knasterwolken vor sich in die Luft. »Mensch, Du bist gestern lieber zu den Sozialdemokraten in die Versammlung gelaufen?«

»Ja, es ist ein Skandal ersten Ranges!« fiel Simmert mit scharfem Ton ein. Korff aber liess ruhig seine Zeitung sinken, und, seine kalten, grauen Augen fest auf den Ersten richtend, entgegnete er wieder mit jenem ironischen Lächeln, das ihm eigen war:

»So – findest Du? Nun, ich muss offen gestehen, dass es mir amüsanter und vor allen Dingen lehrreicher ist, einer Volksversammlung, selbst von Sozialdemokraten, beizuwohnen, als mit dummen Gänsen rumzuscherbeln und ihnen den Hof zu machen.«

»Ah, das ist doch unerhört!« brach Simmert erregt los. »So wagst Du von den Damen zu reden, die wir eingeladen haben? Ich betrachte das als einen Tusch, als eine persönliche Anrempelung – ich –«

»Na, nu mal Ruhe – Ruhe!« beschwichtigte Hellmrich. »Korff hat sich zwar nicht parlamentarisch ausgedrückt – man sieht bereits die Früchte seines gestrigen, bedenklichen Tuns!« scherzte er gutmütig zu Korff hinüber. »Aber, wir sitzen doch auch hier nicht im Reichstag und reden auch mal frei von der Leber weg, wie uns der Schnabel gewachsen ist. Leibfuchs, er hat ja doch gewiss die Damen persönlich nicht beleidigen wollen.«

»Fällt mir in der Tat auch gar nicht ein,« bestätigte Korff. »Ich kenne die Damen ja gar nicht.«

»Kennen oder nicht – Deine Ausdrucksweise genügt mir,« herrschte ihn Simmert aber unverändert an. »Und ich dulde jedenfalls nicht, dass mir persönlich bekannte Damen in dieser unerhörten Weise beleidigt werden. Ich bringe die Sache vor den Konvent und breche bis dahin jedenfalls meinen privaten Verkehr mit Dir ab.«

»Mir höchst schnuppe!« erwiderte Korff achselzuckend, und sah wieder in seine Zeitung.

»Na, Leibfuchs, Du gehst denn doch etwas reichlich ins Geschirr. Wegen solcher Kleinigkeiten haben wir uns früher nie vorm Konvent verklagt. Was, Bertram, altes Haus? Wenn wir uns mal gezankt haben, haben wir einander gründlich den Kopf gewaschen und nachher war wieder alles in Ordnung.«

»Pardon, lieber Hellmrich, – Das ist ja wohl reine Privatsache, wie man das hält,« warf Simmert spitz hin. »Ich habe nun mal da meine eigenen Grundsätze und muss mir jede Einmischung in persönliche Angelegenheiten höflichst verbitten.«

Hellmrich sah einen Augenblick ernst zu Simmert hinüber. Bei all den kleinen oder grösseren Differenzen, die sie bisher gehabt hatten, hatte er doch noch nie einen so kalten, feindseligen, ja geradezu geringschätzigen Ton von seinem Leibfuchs gehört. Gerechter Zorn wallte in ihm auf, und einen Augenblick lang schwebte ihm ein scharfes Wort der Zurechtweisung auf der Zunge. Doch dann bedachte er den Ort, wo sie waren, und er wandte sich nun ohne Erwiderung von Simmert ab, Bertram ins Gespräch ziehend.

Die jungen Leute weiter abseits, die zum Teil wohl diese Kontroverse zwischen dem Ersten und seinem Leibburschen nicht ganz verstanden hatten, machten sich ein Vergnügen daraus, Korff, der ihnen mit seinen absonderlichen, unstudentischen Neigungen nicht gerade sehr sympathisch war, weiter anzuulken. Was ihnen besonders höchst lächerlich vorkam, war, dass Korff jeden Abend wie ein richtiger Erzphilister sämtliche Zeitungen durchlas, die er auftreiben konnte. Zu blödsinnig! Was ging es einen Jenenser Burschen an, was Bebel oder Richter im Reichstag geseicht hatten, ob Bosse oder Studt Minister waren oder ob gar die Getreidezölle höher oder niedriger ausgefallen waren! Wie konnte man für solch ledernes Zeug, das gerade für Mummelgreise oder sonstige Philister gut genug war, irgend ein Interesse haben, solange man noch die bunte Mütze trug!

Inzwischen frischten die andern die Erlebnisse der gestrigen Schlittenpartie nochmals auf. Es wurden namentlich die Abenteuer der Himmelsziege sehr belacht, die schliesslich mit den drei bombenknillen Füchsen, welche klugerweise schon von Dorndorf aus die Führung des Schlittens dem bewährten Tier selbst überlassen hatten, gegen vier Uhr morgens beim Spritzenschmidt, ihrem Eigentümer, dann glücklich wieder angekommen war. Der cholerische Alte, der in Sorge um sein kostbares Tier die ganze Nacht über aufgeblieben war, hatte mächtig geschimpft, und dann, in Anbetracht der starken »Überstunden«, ein Mietsgeld von zwölf Mark verlangt. »I wo, Spritzenschmidt! Du bist wohl verrückt?« hatten ihm da aber die bösen Buben gesagt. »Wir wollen Dir doch nicht die Himmelsziege gleich abkaufen!«

So wurde noch manch anderer Scherz erzählt, aber plötzlich gab es ein Hallo!

»Herr Gott, Kinder, da ist ja Toni schon!« – »Also doch schon aufgestanden?« – »So am frühen Morgen! Na, wenn Dir das man bekommt.«

Der also Angezapfte hing schweigend Mantel und Hut an den Nagel, stülpte die ihm von den Füchsen dargereichte weite Alteherren-Mütze tief in die Stirn und sagte dann, sich am Tisch niederlassend und Hellmrichs Glas ergreifend, gelassen: »Du erlaubst – ohne! Alle Ulker mit dem Rest in die Kanne!«

Als unbestritten ältestes Semester – Heinz Rittner zählte jetzt deren einundzwanzig – konnte er sich das erlauben. In die Stille, die nun eintrat, während so ziemlich die ganze Corona »spann«, klang dann ruhig Rittners Stimme hinein: »Wisst Ihr übrigens schon das Allerneuste? Ich hab's eben bei Tobias gehört – die Vandalen haben heut' die Bude zugemacht.«

Ein allgemeiner Laut der Überraschung wurde hörbar. Man hatte zwar schon lange gewusst, dass das Korps Vandalia sehr laborierte und eigentlich nur mit zwei oder drei alten Leuten schon seit Semestern sich mühsam hinhielt, aber das fait accompli kam nun doch überraschend. Nur Simmert war nicht davon betroffen; vielmehr sagte er mit leisem Lächeln, – und es klang wie heimliche Ironie über Rittners »grosse Neuigkeit« aus seiner Stimme: »Das war schon seit vierzehn Tagen so gut wie 'ne beschlossene Sache.«

»Nanun – wieso?« fuhr es ihm von verschiedenen Seiten entgegen.

»Wie kommst Du denn zu der Wissenschaft?« fast misstrauisch fragte es Rittner und sah Simmert scharf durch die Kneifergläser an.

Simmert trank ruhig erst sein Glas aus, ehe er kühl erwiderte: »Ich komme bei Eckebrechts« – er meinte das gastfreie Haus des Geheimen Staatsrats – »viel mit ein paar alten Vandalen zusammen, und da habe ich das gelegentlich gehört.«

»Und bis jetzt verschwiegen? Merkwürdig!« Heinz Rittner sagte es sehr scharf, während er sich seine Zigarette drehte.

»Wieso merkwürdig! Ich ersuche um eine Erklärung – aber dringend!« Simmerts Worte klangen erregt, fast drohend zu Rittner hinüber. Der aber zuckte die Achseln, blies langsam den Rauch durch die Nase und fertigte dann den Ersten, sehr von oben herab, ab: »Was ich Dir darauf zu erwidern hätte, gehört hier nicht her, sondern vor den Konvent. Bis dahin habe ich keine Veranlassung, Dir irgendwelche Erklärungen abzugeben.«

Die starke Spannung, die eben zwischen den beiden zu Tage trat, beherrschte insgeheim mehr oder minder alle an der Tafelrunde. Die Vandalenangelegenheit berührte nämlich indirekt auch die Alemannen. Mehrere Jenenser Korps standen zur Zeit nicht glänzend, und nun, wo das eine von ihnen suspendiert hatte, war ihre Lage noch schlechter geworden. Schon seit einiger Zeit war daher in Jena das Gerücht verbreitet, der S. C. sehe sich unter diesen Umständen nach Hilfe von ausserhalb um. Bald hiess es, die Burschenschaft Thuisconia – die man schon längst wegen ihrer feudalen Neigungen die Korpsburschenschaft nannte – würde zum S. C. übertreten, bald hiess es wieder in der Stadt, die Alemannen wollten Korps werden.

An dem letzten Gerede war nun zwar nichts Wahres; aber richtig war das, dass man im Kreise der Alemannen die Möglichkeit eines Paukverhältnisses mit dem S. C. in Erwägung gezogen hatte. Die Ansichten hierüber waren sehr gespalten. Die Partei der Alten, die Hellmrich repräsentierte, hielt unentwegt an dem traditionellen scharfen Gegensatz zu den Korps fest und widerstrebte daher jeder Berührung mit ihnen. Dagegen waren die jüngeren, unter Simmerts Einfluss stehenden Leute, sehr bereit, mit dem S. C. zu fechten, da ihren eigenen feudalisierenden Neigungen dieses ehrenvolle Waffenverhältnis stark geschmeichelt haben würde. Daher denn jetzt auch die Reiberei zwischen Simmert und Rittner, der trotz aller Schneidigkeit doch ganz auf der Seite Hellmrichs stand und ein schroffer Gegner des projektierten Paukverhältnisses war.

Unter dem Eindruck der eben erfolgten kleinen Szene entstand für den Augenblick ein bedrückendes Schweigen am Tisch. Man hätte wohl viel zu sagen gehabt; aber die Rücksicht auf die ältren Leute und die Anwesenheit der Spiesser im Gastzimmer verbot es den Aktiven, zu der Angelegenheit auch ihrerseits das Wort zu nehmen. Da machte denn Hellmrich der peinlichen Situation ein Ende, indem er schnell ausrief:

»Na, Kinder, reden wir von etwas anderem! Wir haben ja gerade fünf – sechs frische Schoppen am Tisch – also ein Blumenlied!«

»Immer lustig, Ihr lieben Brüder,
Steckt die blassen Sorgen auf!
Morgen geht ja die Sonne wieder
An dem grün-weiss-schwarzen Himmel auf!« –
                  »Muss sie ja!«
                  »Prost, Blume!«

Und angeregt durch den sinnigen Sang kam allmählich wieder eine sorglos frohe Stimmung am Alemannentisch auf.



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