Paul Grabein
Du mein Jena!
Paul Grabein

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VII.

In Dorndorf empfing dann das gastliche »Blaue Schild« die Ankömmlinge mit seinem wohlgeheizten Honoratiorenzimmer, wo bereits die mit der Eisenbahn vorausgefahrenen Väter und Mütter an der gedeckten Mittagstafel warteten. Es zeigte sich hier übrigens alsbald, dass Hellmrichs Besorgnis nicht unbegründet gewesen war, denn statt der bestellten vier Schlitten für die älteren Herrschaften waren nur zwei zur Stelle. Die anderen beiden waren einfach nicht gekommen, und Ersatz zu schaffen erschien in der Eile kaum möglich. Darob denn grosser Kummer bei den Damen und ebenso grosse Verlegenheit bei den Herren Aktiven, namentlich bei ihrem Repräsentanten Simmert, der sich nicht bloss wegen der mangelhaften Anordnung vor den Gästen schämte, sondern innerlich geradezu wütend war, weil Hellmrich wieder einmal Recht behalten hatte. Schliesslich war es auch hier wieder der »alte Verstand«, der Rat wusste. Hellmrich ging nämlich hinüber in die Brauerei, mit deren Besitzer er von mancher Kegel- und Skatpartie hier draussen her gut bekannt war, und wusste in der Tat den gefälligen Herrn zu bestimmen, dass er mit zwei Pferden und seinen beiden Schlitten den Alemannen aus ihrer Not half.

Ein Hoch für den »alten Verstand« belohnte Hellmrich für seine schnelle Hilfe, als er zur Tafel mit der frohen Botschaft zurückgekehrt war, und auch Fräulein Lotti nickte ihm mit erhobenem Weinglas freundlich anerkennend zu. Das war ihm schon eine Entschädigung für die mancherlei traurigen Empfindungen, die sie ihm vorhin verursacht hatte.

Die Weiterfahrt nach Tautenburg, das droben in den Bergen in waldigem, engem Talkessel traulich hingeschmiegt am Fuss der alten Schenkenburg liegt, verlief sehr gemütlich. Der Wein hatte alles gesprächig und heiter gemacht, fröhliche Studentenlieder, bei denen die jungen Damen mit Begeisterung mitsangen, schallten lustig durch den dicht zugeschneiten Tannenwald, und ein brausender Jubel brach los, als die Himmelsziege bei einer scharfen Strassenbiegung richtig umgeworfen und die Herren Füchse in den schneegefüllten Graben abgeladen hatte, neben dem nun das vielerfahrene Tier mit stoischer Ruhe stehen blieb, des Wiederaufsitzens gewärtig. Dem alten Schimmel war offenbar dieses Intermezzo nichts weniger als überraschend gekommen. Aus seiner langen akademischen Praxis heraus wusste er ja nur zu gut, dass das »Umschmeissen« ganz selbstverständlich zu den Freuden einer richtigen Studenten-Schlittenpartie gehörte.

Im Tautenburger Wirtshaus ging es dann an den dampfenden Punsch oder Kaffee mit Kräpfeln, und lustig schwirrten die Stimmen durch den mollig angewärmten Saal. Hier sollte sich nun auch für die Jugend der Hauptakt der Partie abspielen, ein improvisierter Tanz, zu dem das Klavier auf dem Podium ja förmlich herausforderte. Ehe es aber noch dazu kam, hatte Hellmrich die langersehnte Gelegenheit gefunden, um unbeobachtet einmal mit Fräulein Gerung zu sprechen. Er hatte beobachtet, wie sie allein in das kleine Gastzimmer nebenan getreten war und folgte ihr schnell dorthin nach. Er fand sie hier am Fenster, durch das sie hinausblickte auf den Wald und die Höhen oberhalb des Talkessels. Es waren jene Berge, auf denen sie im vorigen Sommer zu zweit dahingeschritten waren, und Hellmrich wusste, dass sie in diesem Augenblick an jene köstliche Wanderung, an ihn selbst denken musste. Mit pochendem Herzen trat er daher an sie heran und fragte leise, mit einer Stimme, der man ein Zittern trotz aller Selbstbeherrschung anhörte: »Wissen Sie noch, Fräulein Gerting – damals –?«

Bei seinen Worten war das Mädchen, das seine leise Annäherung überhört hatte, erschreckt zusammengefahren und sah ihm nun mit leise gerötetem Antlitz einen Augenblick ins Gesicht. Doch dann wandte sie schnell den Blick wieder hinaus. Wohl hatte auch sie sich eben an jenen schönen Sommertag erinnert, aber wie an etwas längst Entschwundenes, Traumhaftes, das inzwischen durch stärkere und reizvollere Eindrücke sehr verblasst ist. Wenn es ihr damals wohl auch so erschienen war, als ob der gewiss herzensgute und charaktervolle Hellmrich einen nachhaltigen Eindruck auf sie gemacht hätte, so hatte sich das doch im weiteren Verlauf ihrer Bekanntschaft bald als eine Täuschung erwiesen. Ihre Naturen waren doch im Grunde viel zu verschieden. Seine ernste, schon so reife, ruhige Art passte doch gar nicht zu ihrer sprudelnden beweglichen Natur, die noch soviel Schönes und Lustiges vom Leben erwartete. Da war doch zum Beispiel Rudolf Simmert ein ganz anderer! Wie famos verstand sie sich mit ihm in all und jedem, und wie nett, wie leichtflüssig liess es sich mit ihm plaudern und scherzen.

Das alles in dem einen Augenblick sich vergegenwärtigend, fühlte Charlotte Gerling trotz ihrer Jugend, dass es das einzig Richtige war, wenn sie Hellmrich in diesem Augenblick andeutete, wie sie zu ihm stand, um nicht irrige Anschauungen in ihm weiter zu nähren. Denn sein bewegter Ton jetzt eben und der innige Blick seiner Augen hatten ihr plötzlich verraten, was er für sie empfand. So antwortete sie denn mit voller Absicht recht kühl auf seine Frage: »O ja – es war sehr nett! Die Aussicht droben war so hübsch.«

Ganz betroffen sah Hellmrich das junge Mädchen an, das geflissentlich seinen Anblick vermied und anscheinend interessiert nun auf die Dorfstrasse hinausschaute, wo die liebe Jugend lärmend an den ausgespannten Schlitten herumturnte. Hörte er denn recht? Das war alles, was sie noch in ihrer Erinnerung von jenen Stunden übrig hatte, die ihm als der ewig unvergessliche Höhepunkt seines Lebens erschienen waren! Wie reimte sich dann aber ihr Wesen von damals und heute zusammen? Im vergeblichen Bemühen, sich dieses Rätsel zu lösen, stand Hellmrich wortlos neben ihr. Er war viel zu wenig weltgewandt, um seine schmerzliche Enttäuschung zu verbergen und mit einer oberflächlichen Konversation ihnen beiden über diese peinliche Lage hinwegzuhelfen.

Das junge Mädchen empfand trotz aller äusseren Ruhe diese Situation aufs unangenehmste, ja sie bekam in dieser Minute einen ordentlichen Ärger auf den ungeschickten Menschen, der ihr auch gar nicht ein bisschen über diese dumme Geschichte hinweghalf. Mit einem Gefühl wirklicher Erlösung vernahm sie daher plötzlich einen schnell herbeieilenden Schritt. Es war Simmert, der sich nun mit einem kurzen »Pardon, Leibbursch, Du gestattest wohl,« an Hellmrich wandte und dann ihr eine tiefe Verbeugung machte: »Mein gnädiges Fräulein, darf ich den Vorzug haben? – Zum ersten Walzer!«

Im selben Augenblick klang auch schon aus dem Saal der Auftakt der Musik. Mit leuchtenden Blicken, in denen es wie Dank zu strahlen schien, lachte Charlotte ihren Kavalier an und legte ihm schnell die Hand in den Arm. Unter einer leichten Neigung des Kopfes verabschiedete sie sich von Hellmrich. In diesem Augenblick verglich sie auch das Äussere der beiden noch einmal, und es fiel ihr auf, wie eben der Jüngere, wo er mit seiner schlanken, eleganten Gestalt neben dem andern gestanden hatte, diesen fast noch um einen halben Kopf überragt hatte. Es schien ihr dabei auch nicht zweifelhaft, dass Simmert mit seinem sicheren, selbstbewussten weltmännischen Auftreten überhaupt der Bedeutendere von beiden sei. Nun, um so berechtigter war es schliesslich nur, wenn sie sich so entschieden hatte, wie es eben geschehen war. Und mit erwartungsvoll schwellendem Herzen liess sich Charlotte von dem Arm ihres Tänzers umfangen, der nun im flottesten Tempo mit ihr in den Saal hineinchassierte.

Hellmrich beteiligte sich nicht am Tanzen. Er war eine Weile überhaupt ganz verschwunden gewesen, denn er hatte das Bedürfnis empfunden, hinaus in die frische Luft zu kommen und, ein Stückchen in den stillen, zugeschneiten Wald hineinschreitend, mit sich selbst wieder ins Reine zu gelangen. Und wie immer war er hier, im Frieden der dunkelgrünen Wipfel, wieder ruhig und zuversichtlich geworden. Wahrhaftig, er musste diesen kleinen Zwischenfall auch nicht so tragisch nehmen. Wie hatte er überhaupt so unverständig sein können, zu verlangen, dass jener sommerliche Spaziergang, der ihm freilich so viel bedeutete, sich nun auch einem so jungen, lebenslustigen Geschöpfchen wie Charlotte Gerting als ein ernster, hoher Festtag der Seele eingeprägt haben sollte! Und war es nicht geradezu überhebend und anmassend gewesen, zu erwarten, dass er mit seinem wenig glänzenden Auftreten in jenen flüchtigen Stunden bereits einen so nachhaltigen Eindruck auf das Mädchen gemacht haben sollte, dass sie noch jetzt, nach bald dreiviertel Jahren, heimlich davon zehrte?

Also nun mal schnell wieder Vernunft angenommen, alter Verstand! predigte er sich selbst. Und gezeigt, dass Du Deinen Beinamen mit Recht führst! Lass nicht Deine Gefühle mit Dir durchgehen, sondern warte hübsch Deine Zeit ab, die schon kommen wird.

Wieder ganz der Alte, trat Hellmrich in den Saal zu der lustigen Gesellschaft ein und war froh mit den Frohen. Nur zur Teilnahme am Tanz vermochte er sich nicht zu entschliessen. Er hatte sich neben Charlottens Mutter gesetzt und er wurde nicht müde, mit dieser über das geliebte Mädchen zu plaudern, während seine Blicke mit stiller Zärtlichkeit diesem heimlich folgten, indes sie im Arm eines Couleurbruders durch den Saal flog. Wie entzückend sah die schlanke Tänzerin aus, wie sie so dahinschwebte mit gesenkten Wimpern, die leise geöffneten Lippen von seligem Lächeln umspielt, die zarte Gestalt dem Tänzer hingebend und doch in unbewusster Keuschheit jedes Andrängen an ihn vermeidend, während die kleinen, zierlichen Füsse mit den Spitzen kaum den Boden berührten – wahrhaftig, ein Bild herzbezwingenden jugendlichen Liebreizes und glückseliger Jugendlust, ein holdseliges Bild, viel zu schade, als dass es schon der Ernst des Lebens mit seinem ersten Anhauch trüben sollte.

Hellmrich äusserte sich auch in seiner offenen, warmherzigen Weise in diesem Sinne zu der Mutter Charlottens, die an dem jungen Mann ein grosses Gefallen fand. Er war ihr ausserordentlich sympathisch mit seiner charaktervollen, ruhigen Art und der Unverdorbenheit seines Herzens, der tiefen Verehrung der Frauen, die er sich trotz seines flotten Burschenlebens bewahrt hatte. Wenn der Hofrätin jetzt, wo die Tochter in die Gesellschaft eingeführt war, hin und wieder einmal der Gedanke kam, dass ihre Lotti nun wohl auch einmal ihr Herz verlieren könnte, so war ihr unwillkürlich dabei schon manchmal das Bild Hellmrichs erschienen, und sie hatte im stillen gewünscht, der Auserkorene ihrer Tochter möchte ein Charakter wie er sein. Es war ihr daher gar nicht lieb gewesen, dass das junge Mädchen in letzter Zeit so viel Gefallen an dem jungen Simmert bezeugt hatte, der in einer ganz auffälligen Weise ihrer Tochter den Hof machte.

Die Hofrätin hatte, ganz abgesehen von Simmerts grosser Jugend und Unreife, das Gefühl, dass er ein etwas leichtsinniger und oberflächlicher Mensch sei, dessen glänzendes Äussere allein Charlotte verblendete. Es war ihr daher sehr lieb, dass sie heute einmal wieder mit Hellmrich, der ja Simmert gut kannte, zusammen war, und sie hatte sich vorgenommen, diese Gelegenheit auszunutzen. So antwortete sie denn jetzt auf seine Bemerkung über Charlotte, die gerade mit Simmert wieder einen Walzer tanzte, mit einem leisen Seufzer:

»Ja, ja, mein lieber Herr Hellmrich! Sie haben ja schon Recht. Es ist was Schönes um die sorglose Jugend, aber der Ernst des Lebens ist doch auch zu was gut. Manch einer hat ihn zu seinem eigenen Besten recht nötig!«

»Aber, verehrte Frau Hofrat,« warf Hellmrich fast vorwurfsvoll ein, »Sie wollen doch etwa nicht sagen, dass Ihr Fräulein Tochter –«

»Doch, doch!« Frau Gerting nickte ihm mit ernstem Nachdruck zu. »Lotti ist ja ein liebes Kind und hat gewiss viel gute Anlagen, aber leider doch auch einen rechten Hang zum Glanz und Genussleben. Es wäre sicher der grösste Schaden für sie, wenn es ihr im Leben immer nur gut ginge. Und Sie dürfen mir glauben, schon diese vielen gesellschaftlichen Vergnügungen, die das Kind jetzt mitmacht, machen sich bemerkbar.«

»Aber, nein – Frau Hofrat; da muss ich doch protestieren! Wie können Sie das von Fräulein Lotti sagen!« Und Hellmrich nahm sich Charlottens mit einer Wärme und Begeisterung an, dass es die Mutter ordentlich rührte. Wirklich, ein prächtiger Mensch! Wie schade nur, dass er so wenig Wesens von sich machte und daher von ihrer Lotti so wenig beachtet blieb. Die Hofrätin blickte nachdenklich zu ihrem Töchterchen hinüber, das am Arm des hochgewachsenen, eleganten Kavaliers sich jetzt in der Tanzpause wieder zu der »Kneiptafel« hinüberführen liess, die das junge Volk drüben eingerichtet hatte.

»Ein sehr hübscher, stattlicher Mensch, Ihr Couleurbruder Herr Simmert,« wandte sie sich an Hellmrich. »Sie kennen ihn ja wohl schon von Berlin her?«

Hellmrich bejahte es und erzählte ihr von seinen langjährigen, freundschaftlichen Beziehungen zu Simmert. Wie diplomatisch aber auch im Laufe der Unterhaltung es die Hofrätin versuchte, näheres über Simmerts Charakter zu erfahren, so gelang ihr das doch nicht; Hellmrich war diskret genug, weder von seinen Differenzen mit dem Leibfuchs noch von dessen besonderen Lebensauffassungen und Gewohnheiten etwas zu verraten.

Dem Gespräch machte schliesslich Simmert selbst ein Ende, der plötzlich mit Fräulein Charlotte vor ihnen erschien. Das junge Mädchen hatte ein grün-weiss-grünes Fuchsenband umgeschlungen und sich die schwarze Mütze keck auf ihr lockiges Haupt gesetzt. Sie sah mit ihrem übermütig lachenden Gesicht und den blitzenden Augen ganz reizend aus, wie sie nun mit erhobenem Weinglas vor Hellmrich stand und sich ihm als »jüngste Leibenkelin« vorstellte. Die jungen Damen an der Kneiptafel hatten sich nämlich eben als »Füchse« beim Fuchsmajor gemeldet und speziell hatte sich Fräulein Lotti Herrn Simmert zu ihrem Leibburschen erkoren, sodass nach der akademischen Bier-Genealogie Hellmrich damit zu ihrem »Leibgrossvater« avanciert war.

Hellmrich sah das lebensprühende Geschöpfchen mit hellem Entzücken an, während er galant aufsprang, seine Mütze zog und dem jüngsten Füchslein der Alemannia etwas aufs Allerspeziellste vortrank. Fräulein Lotti revanchierte sich sofort nach allen Regeln des Comments – wie sie das eben an der Fuchstafel gelernt hatte – und hob übermütig Hellmrich ihr Glas entgegen: »Prost, Grosspapa! – Löffle mich!«

»Aber, Lotti – nein! Was erlaubst Du Dir denn nur!« schalt ganz verlegen die Mutter, während die übrigen Zeugen der kleinen Szene in hellen Jubel über den »schneidigen kleinen Fuchs« ausbrachen. Hellmrich nahm das kecke Scherzwort mit gemischten Empfindungen auf. So glückselig ihn diese, wenn auch nur scherzhafte Vertraulichkeit im Augenblick machte, so misstönend klang ihm das Wort »Grosspapa« ins Ohr. Es war ihm, als legte Fräulein Lotti eine besondere, wohlbewusste Bedeutung in dies Wort, als tue sie ihn damit ins alte Eisen, das für die ausgelassene Jugend nicht mehr ernsthaft in Betracht kommt. So sehr sich Hellmrich auch nachher bemühte, diese Empfindung los zu werden, gelang ihm das doch nicht. Es hallte den ganzen Rest des Abends in ihm ein leiser, trauriger Nachklang dieses schmerzlichen Augenblicks.



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