Paul Grabein
Du mein Jena!
Paul Grabein

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XII.

Das war einmal wieder ein grosses Ereignis für Jena gewesen! Also es war wirklich so gekommen, wie es eingeweihte Leute – z. B. der Friseur Tobias, der Kämmer-Karl vom Weimarschen Hof und andere – schon längst vorausgesagt und wie man es in allen Philisterschänken beim Kännchen schon immer gemunkelt hatte: In der Alemannia hatte es einen grossen Krach gegeben. An die zwölf Leute, es waren gerade die forschesten und patentesten, waren ausgetreten und hatten das Korps Vandalia wieder aufgetan mit dessen alten Farben und Namen. Nun sah man also den Herrn Simmert und all die andern, die man bisher als Alemannen gekannt hatte, plötzlich mit der roten Korpsmütze umherlaufen. Na, eine schöne Geschichte!

Die Bürgerschaft nahm natürlich regen persönlichen Anteil an diesen aufregenden Vorgängen, und, es war kein Zweifel, ihre Sympathieen gehörten zumeist den Alemannen, die durch Hellmrich, Buttmann, Rittner und viele andere altbekannte Leute in Jena sehr beliebt und populär waren. Die andern, die so schmählich das grün-weiss-schwarze Band abgetan hatten, waren doch auch nur Überläufer, vor denen man keinen rechten Respekt mehr haben konnte, und was besonders ihren Matador, den Herrn Simmert anging, so war der schon längst wegen seines hochfahrenden Wesens in den kleinbürgerlichen Kreisen höchst unbeliebt. Wenn er auch noch so mit dem Geld um sich schmiss! Gewiss, man nahm gern mit, was von ihm geschäftlich zu profitieren war, aber wenn auf der Bierbank oder daheim am Familientisch von der Sache die Rede war, so wurden er und seine Mitläufer nicht gerade mit sehr schmeichelhaften Äusserungen bedacht.

Was mochte übrigens da alles hinter den Coulissen vor sich gegangen sein? Genaues wusste man ja freilich nicht, aber so viel stand fest: Da hatte es tüchtig was gesetzt! Natürlich hatte es eine ganze Reihe von Pistolen- und Säbelforderungen gegeben zwischen den Alemannen und ihren ehemaligen Couleurbrüdern. Man hatte ja vorgestern abend den Apel-Franz den Pistolenkasten vom Büchsenmacher holen sehen, und »Graf Kellermann«, der Lohndiener und das Allerweltsfaktotum Jenas, hatte gestern mittag zufällig beobachtet, wie ein geschlossener Landauer, in dem er deutlich Hellmrich, Rittner und den Arzt Dr. Kutznicker erkannt hatte, in einem Bogen um die Stadt herum, und in die Kliniken gefahren war. Da musste noch ein Vierter, offenbar ein angeschossener Duellant, im Wagen gesessen haben; aber den hatte er nicht erkennen können.

Im übrigen hatten die Alemannen sich, so gut es ging, von dem schweren Schlag wieder zu erheben versucht. Mehrere ihrer Alten Leute, so Hellmrich, Birkner und selbst der mehr als zwanzigsemestrige Heinz Rittner, waren sofort wieder aktiv geworden, sodass sie zusammen mit dem Rest der getreu Gebliebenen an zehn Aktive aufzuweisen hatten. Wie es hiess, hatten diese dann dem neuen Korps Vandalia eine P. P. Suite von zwölf Paaren auf Säbel ohne aufgebrummt. Na, da würde man ja in den nächsten Tagen wohl bald allerlei zu sehen kriegen. – –

Hellmrich schritt in der Abenddämmerung seinem Hause zu. Er hatte soeben in der chirurgischen Klinik einen Besuch gemacht, wo Buttmann seit gestern lag. Das Rencontre mit Simmert hatte zu einem Pistolenduell geführt, in dessen zweitem Gang der arme Bem eine Kugel ins rechte Bein bekommen hatte, die am Knie ernsten Schaden angerichtet hatte. Nun war eben die Operation an dem Verwundeten vollzogen worden, und, wie Hellmrich vom Geheimrat selber erfahren hatte – Gott sei Dank – mit gutem Erfolge.

Hellmrich hatte am Bett des Patienten so lange gesessen, bis dieser aus der Narkose wieder erwacht war. Da hatte der gute Bem, als er wieder ganz klar war, sofort gesagt:

»Hast Du vielleicht eine Zigarre da, alter Verstand? Ich hab' zufällig keine bei mir.« Und er hatte ihm keine Ruhe gelassen, bis er ihm den unentbehrlichen Tabak kredenzt hatte. Dann hatte Bem noch mächtig geschimpft über die verrückten Doktors, die ihn mit aller Gewalt zu der Kratzerei am Bein da chloroformiert hätten. Er hätte wohl auch so still gehalten. Von dem Duell war zwischen ihnen nicht mehr die Rede gewesen. Nur beim Weggehen hatte Buttmann noch gesagt: »Ach, gib mir doch mal eben aus meinem Rock da den Brief in der Brusttasche – So, danke!« Und dann hatte er das Schreiben – Hellmrich hatte unwillkürlich die Adresse seiner Mutter erkannt – schnell zerrissen. Der Brief war ja nun gegenstandslos geworden.

In ernste Gedanken verloren, schritt Hellmrich seiner Wohnung zu. Die ganze Affaire, der Korpskrach und seine weiteren Folgen, beschäftigten ihn noch immer im Innersten. Die Fülle der Geschäfte, die damit über ihn gekommen waren – er hatte wieder die Charge des Ersten übernommen – hatte ihm bisher noch nicht rechte Zeit gelassen, sich mit der Sache abzufinden, dazu das Ehrengericht vorgestern und gestern die Mensur im Rautal mit allen Vorbereitungen – kurzum, er war eigentlich keinen Augenblick zur Besinnung gekommen.

So wogten denn noch jetzt in ihm die Bilder durcheinander: Bald sah er den einstigen Leibfuchs bleich und trotzig im Konvent stehen und ihn mit hasserfüllten Blicken anblitzen, bald sah er Buttmann im Pulverrauch wanken und stürzen, und dann wieder tauchte – ganz unvermittelt – plötzlich die liebreizende, holde Erscheinung Lotti Gertings vor seinen Blicken auf. Was würde sie wohl zu all' dem sagen, auf wessen Seite würde sie sich in dem Zwist stellen? Es war ja eigentlich – wenn sie nur einen Funken Charakter hatte – ganz unmöglich, dass sie noch eine Stunde länger mit dem Abtrünnigen, dem Verräter, verkehrte. Und Hellmrich nahm sich vor, schleunigst, gleich morgen, bei Gertings Besuch zu machen. Aus seinem eigenen Munde sollte sie alles hören, und er selber wollte Zeuge ihrer Empörung über Simmert sein.

Das heisst – morgen? Hm, da gab es vielleicht anderes für ihn zu tun. Auf einstimmigen Beschluss der Alemannia hatten sie ja jedem der Abtrünnigen eine schwere Säbelforderung zugeschickt – er selbst als Erster sollte gegen Simmert fechten – und er erwartete noch heute abend den Bescheid des Fechtchargierten über den Austrag der ersten sechs Paare der Suite.

Mit einer gewissen Spannung trat daher Hellmrich in seine Stube ein. Schnell machte er Licht. Richtig, da lagen zwei Briefe auf dem Tisch. Er erbrach den ersten, einen Eilbrief mit den Schriftzügen seiner Mutter. Mit einiger Beunruhigung überflog Hellmrich das Schreiben. –

»Mein lieber Sohn!

Ich komme heute mit recht schwerem, besorgtem Mutterherzen zu Dir. Eine Nachricht von der Hofrätin Gerting, die ich gestern empfing, hat mich in grösste Unruhe versetzt. Sie erwähnte in ihrem Brief etwas von einem grossen Konflikt mit Deiner Verbindung, der zu den schwersten Forderungen mit Euren einstigen Kameraden geführt haben soll. Ferner erwähnte sie, dass Du infolgedessen wieder aktiv geworden bist.

Mein lieber, guter Karl, Du weisst, wie ich allezeit gerade auf Dich von allen meinen Kindern die grössten Stücke gehalten habe. Im Vertrauen auf Deine Besonnenheit und Energie habe ich mich daher fast jeder Einmischung in Deine persönlichen Angelegenheiten enthalten, seitdem Du zur Universität gezogen bist. Nun aber packt mich plötzlich eine schwere Angst. Karl, mein geliebtes Kind, schwöre mir, telegraphiere mir umgehend, dass Du nicht in diesen Konflikt persönlich verwickelt bist, dass Du Dich nicht duellieren wirst. Ich habe sonst keine ruhige Minute mehr, und komme, wenn ich nicht bis morgen abend Antwort habe, sofort nach Jena hinüber.

Und dann noch eins. Mein lieber, guter Sohn, es betrübt mich tief, dass Du so unmittelbar vor dem Examen noch einmal aktiv geworden bist. Ich weiss ja, Du hast es gewiss nicht zu Deinem Vergnügen, sondern aus Pflichtgefühl getan. Aber trotzdem, es hätte nicht sein sollen – Du darfst das nicht tun, mein Sohn! Denke doch endlich auch einmal an Dich selbst! Jahrelang hast Du Dich ja für Deine Verbindung geopfert, und was hast Du im Grunde davon gehabt?

Ich will Dir ja keine Vorwürfe machen, mein Junge, ich gönne Dir ja von Herzen die fröhliche Studentenzeit – aber ich muss es Dir heut' doch sagen, was sich mir im stillen schon so manchmal aufgedrängt hat. Wenn Du Dich nicht so für Deine Alemannia geopfert, wenn Du mehr Zeit für Deine Arbeiten und Studien gehabt hättest, so wärest Du gewiss bei Deiner Begabung und Deinem Fleiss schon seit ein oder zwei Semestern mit dem Examen fertig.

Und so schwer es mir fällt, Dir auch das einmal zu sagen, mein lieber Sohn, es gibt doch da auch noch etwas anderes zu bedenken. Wenn Du ja auch freilich dort durch Deine Stipendien den grössten Teil Deines Lebensunterhaltes erhältst, so ist doch selbst der Rest, den ich Dir von unsern sehr bescheidenen Einkünften schicke, immerhin eine Last, die ich jetzt um so schwerer empfinde, als Deine jüngeren heranwachsenden Geschwister immer mehr und mehr Ausgaben erfordern.

Die Übersiedlung nach Berlin, das Leben hier kostet so entsetzlich viel – ich hätte mir das ja nie vorher träumen lassen. Kurzum, ich bin oft recht verzweifelt, und zermartere mich in schlaflosen Nächten, wie ich es anstellen soll, allem gerecht zu werden. Und die Kinder sollen doch – so Gott will – nichts davon merken, wie die Not oft hinter uns steht. Schlimm genug, dass sie schon ohne Vater, und ohne so manche Freude der Jugend aufgewachsen sind. Nur Lisbeth, unsere liebe Älteste, ahnt wohl, wie es um uns steht. Sie ist mir auch eine rechte Stütze und Trost, das tapfere, hochherzige Mädel.

Nicht wahr, mein lieber, guter Karl, Du bist Deiner Mutter nicht gram, dass sie so ihrem bekümmerten Herzen einmal Luft macht, und Du wirst gewiss, nachdem ich Dir das alles ans Herz gelegt habe, meinen innigen Wunsch als guter Sohn, der Du ja immer warst, erfüllen. Lass jetzt alles, was Dich nichts mehr angeht! Denke nur noch an Dein Examen, dass Du bald, recht bald mithelfen kannst, Deiner Mutter im Kampfe für die Existenz Deiner jüngeren Geschwister beizustehen.

Und vor allem, vergiss das Telegramm nicht, gib mir bald meine Ruhe wieder!

Mit einem herzinnigen Kuss

Deine

tief besorgte, treue
Mutter.«        

Mit ernstem Antlitz und einem schweren Seufzer legte Hellmrich das Schreiben aus der Hand. Dann begann er langsam, in Gedanken verloren, im Zimmer auf- und abzugehen. Die Worte der Mutter hatten ihm ins Herz geschnitten. So hatte sie ja noch nie zu ihm gesprochen. Wohl hatte er von Jugend auf gewusst, dass seine Familie seit des Vaters frühem Tod in bescheidenen Verhältnissen lebte und sich vielfach einschränken musste. Aber dass seine arme, geliebte Mutter da heimlich mit der Not rang, und sich klaglos abhärmte –! Die Tränen traten ihm in die Augen. O, dass er jetzt zu ihr könnte, ihr die treusorgenden Hände küssen, ihr Trost und Mut einflössen könnte. Wie brennend gern hätte er es getan!

Aber er konnte ja nicht. Die Ehre, die Pflicht hielten ihn hier zurück. Er konnte ja doch nicht wie ein Feiger fliehen, wo jede Minute die Aufforderung zum Zweikampf an ihn herantreten konnte. Und was sollte er der Mutter telegraphieren? Er konnte sie nicht belügen – aber depeschieren musste er doch, und zwar baldigst, um sie nicht länger in qualvoller Angst zu lassen.

In dieser Unentschlossenheit griff Hellmrich, im Vorüberwandeln am Tisch, mechanisch nach dem zweiten Brief. Er riss ihn auf und sah nach der Unterschrift: Von Korff. Nanu! Was hatte der ihm denn zu schreiben?

Ein ganz offizieller Brief: »An den hohen Konvent einer wohllöblichen Landsmannschaft Alemannia, zu Händen des ersten Chargierten Herrn cand. phil. Hellmrich.« Überrascht fing Hellmrich an zu lesen, und immer erstaunter wurde sein Gesichtsausdruck. Der stud. pharm. Korff teilte in dem Brief nämlich »geziemend« nichts anderes mit, als dass er »mit diesem Augenblick aus der wohllöblichen Landsmannschaft ausscheide«. Wie wohl allerseits schon längst empfunden, passe er doch mit seinen ganzen Anschauungen so wenig in den Kreis einer Korporation hinein, dass er jetzt den Anlass der Spaltung benutze, um auszuscheiden. Er betrachte es juristisch als zweifelhaft, wer gegenwärtig der Rechtsnachfolger der Alemannia sei, da doch die grosse Mehrheit der Aktiven die Umwandlung in das Korps Vandalia beschlossen habe. Um sich nicht in diesen ihm unangenehmen Streitfall hineingezogen zu sehen, lege er also hiermit das Band der Alemannia nieder.

Mit einem bitteren, verächtlichen Auflachen warf Hellmrich den Brief auf den Tisch. Haha! Ein schönes Schreiben – alle Achtung! Also wieder einer weniger, gerade jetzt, wo die Alemannia jeden Mann brauchte, wie nie zuvor. Pfui Teufel! Was gab es doch für erbärmliche Kerle auf der Welt!

Zum erstenmal in seinem Leben hatte Hellmrich einen Ekel vor den Menschen. Der Verrat Simmerts, der Abfall der Aktiven und jetzt diese Gesinnungslosigkeit Korffs – es reichte hin, um seinen frommen Glauben an das Gute und Grosse im Menschen stark zu erschüttern. Er hatte bisher immer so ungestört in dem Kreis seiner studentischen und wissenschaftlichen Ideale gelebt, dass er nie Veranlassung und Gelegenheit gehabt hatte, die Welt der Wirklichkeit genauer kennen zu lernen. Wohl war ihm auch bisher schon manchmal eine Enttäuschung, ein Schmerz von Menschen bereitet worden, aber das hatte nie schwer gewogen. Das hatte er in seiner gutherzigen, versöhnlichen Weise immer entschuldigen, oder doch wenigstens bald verzeihen können. Jetzt dagegen sah er zum erstenmal in Abgründe, die er nicht geahnt hatte. Die kalte Selbstsucht, Untreue und Niedrigkeit waren ihm über den Weg gekrochen – ihr giftiger Biss hatte ihn getroffen. Und noch hatte er nicht die notwendige Härte gefunden, die fühllos gegen solche Wunden macht, noch nicht den Zornesmut, der jedes andere Empfinden beiseite schleudert, und nur darnach trachtet, das Gewürm zu zertreten. Noch litt sein weiches, unerfahrenes Gemüt zu sehr unter dem plötzlichen Zertrümmern so lang verehrter, schöner Götterbilder.

Mit schmerzlich bewegtem Herzen trat Hellmrich daher ans Fenster und sah in die mondhelle Nacht hinaus. Sein Blick fiel auf das Wehr der Tonnenmühle, dicht vor seinem Hause. Tiefschwarz lag der Wasserspiegel da unten vor ihm. Nur das silberklare Vollmondlicht, das dann und wann zwischen den sich jagenden, düsteren Wolkenheeren durchbrach, spiegelte sich in den glitzernden, kleinen Wellchen oben am Schleusenrand. Dunkel und rätselhaft, wie die schwarze Flut da unten, schien ihm plötzlich das Leben. Wo war die Sonne, die ihm bisher immer so freundlich dies Bild beschienen?

Zwar da stand ja der Mond, auch hell und klar; aber sein Schein war kalt. Er mochte ihn heute nicht leiden, den alten Himmelswächter. Und doch hatte ihm sein Leuchten so manch liebes Mal zu frohem, jugendlichem Tun vorsorglich den Weg gewiesen. Wie im Flug tauchten die romantischen Bilder vor ihm auf: In warmer Juninacht die Bowlensitzung auf der Burgruine über dem silberblinkenden Saalstrome, manch glöckchenklingende Schlittenfahrt durch den zugeschneiten, mondscheinglitzernden Winterwald, und rüstige Nachtwanderung mit liederfrohen Gesellen. Ja, war's nicht auch solch eine Mondnacht gewesen, damals vor drei Jahren, als Simmert in Jena eingezogen war, und sie von der Exkneipe nächtlich übers Luftschiff zogen?

Da war's schon wieder! Mit einem Seufzer wandte sich Hellmrich vom Fenster ab. Ein trüber Tag heute; es war besser, er blieb nicht allein. Bei dem Grillenfangen kam doch nichts heraus. Er wollte lieber zur Kneipe gehen; aber da fiel sein Blick wieder auf den Tisch. Herr Gott, der Brief von Haus – das Telegramm! Mit gerunzelter Stirn überlas er noch einmal genau die Stelle, worin ihn seine Mutter um Nachricht bat: Vielleicht liess sich irgend eine Wendung finden – keine direkte Lüge, und doch eine beruhigende Verschleierung der Wahrheit. Ein elendes Geschäft, solche Ausrede zu drechseln, wahrhaftig!

Plötzlich Schritte draussen vor der Tür, und es klopfte an. »Herein!«

»Gut'n Abend!« Heinz Rittner trat ins Zimmer, auch er wieder täglich – wie seit bald fünf Jahren nicht mehr – in Band und Mütze. Er reichte Hellmrich zum Gruss die Hand, dann putzte er die von der Zimmerwärme beschlagenen Kneifergläser, während er sich an den Kachelofen stellte.

»Gottverdimich! Eine Bärenkälte draussen! Es wird noch mal feste Winter.« Er hauchte das zweite Klemmerglas an. »Na, es geht also los morgen. In Wöllnitz steigen die ersten sechs Paare – die andern nächste Woche bei uns in Winzich.«

»Also morgen schon,« gelassen wiederholte es Hellmrich.

»Ja, ich wollte eigentlich auch noch mal vorher auf den Paukboden. Na, vielleicht ganz gut so! Kann man sich wenigstens nicht noch das Handgelenk in letzter Stunde verkorxen,« warf Rittner hin.

Hellmrich trat an ihn heran und bot ihm die Zigarrenkiste dar, die der andere indes dankend ablehnte: »Mir auch lieber, dass wir die Sache so bald als möglich erledigen. – Wann komm' ich ran?«

»Das erste Paar soll punkt acht stehen. Eine Gemeinheit! Muss man also mitten in der Nacht schon aufstehen!« schimpfte Rittner und schickte sich an, eine Zigarette zu drehen.

»Du, Toni!« Hellmrich schlug dem passionierten Caféhaussitzer und Langschläfer nachdrücklich auf die Schulter. »Heut' bist Du aber mal vernünftig, und läufst nicht zu Eychelberg! Es kommt doch morgen drauf an, nicht wahr?«

»Gottsdonnerwetter, ich werde mich doch nicht wegen der Kerle in meinen Gewohnheiten genieren!« brummte Toni und paffte ein paar dicke, bläuliche Ringe vor sich hin. »Die Bande vermöble ich noch so allemal.«

»Heinz, sei doch vernünftig!« bat Hellmrich ernst. »Du hast so und so lange keinen Säbel mehr in der Hand gehabt, und Du weisst doch, Herter kann's brenzlich. Du hast ihn ja selbst eingepaukt.«

»Weiss Gott, ja! Eine Schande, dass man sich dazu geplagt hat. Aber ohne Sorge! Noch gedenke ich dem Knäblein zu zeigen, dass ich – aber, zum Deibel, mir ist der Hals trocken von all' dem Reden. Hast Du nicht einen Tropfen was Trinkbares da, alter Verstand?«

Hellmrich ging zu dem Alkoven, der ihm als Schlafraum diente. Dort stand ein Korb mit Flaschenbier, das er sich, seitdem er fürs Examen arbeitete, im Hause hielt. Er holte eine Anzahl Flaschen herbei, nebst den zwei Wassergläsern vom Nachttisch und schenkte ein. Rittner setzte sich aufs Sofa und ergriff ein Glas. »Schönen Dank! Dein ganz Spezielles!«

Hellmrich tat ihm Bescheid, zugleich liess auch er sich am Tisch nieder, und schob nun Rittner den Brief Korffs hinüber. »Eine nette Neuigkeit, – da lies mal!«

Der andere überflog schnell das Schreiben.

»Gottverdimich, so ein Kneifer, elendiger!« Wütend warf Toni den Brief zerknittert von sich. »Doch bloss Dampf vor der Säbelkiste! Mit was für Gesindel man doch das Band getragen hat.« Und grimmig stürzte er ein volles Glas hinunter.

Hellmrich nickte nur stumm mit dem Kopf, während er auf den andern Brief blickte.

»Wohl noch so'n Wisch? Na, man gleich her damit!« meinte Rittner, die Hand ausstreckend. Aber Hellmrich hielt das Schreiben zurück. »Pardon, Heinz, ein Brief von meiner Mutter.«

»Ah, bitt' tausendmal um Entschuldigung, hatte ja keinen Schimmer!« bat der andere und sah dann den nachdenklich vor sich hinblickenden Hellmrich prüfend an. »Du – Karl, hast Du schlechte Nachrichten von Hause?«

»Nein – nein!« wehrte Hellmrich ab und fuhr sich rasch über die Stirn. »Bloss eine fatale Klemme. Meine Mutter hat nämlich Wind gekriegt von unserm Krach, und beschwört mich nun, ihr telegraphisch zu versichern, dass ich mit der Sache nichts zu schaffen habe. Was soll ich nun tun? Ansohlen kann ich doch meine alte Dame nicht?!«

»Hm, faktisch fatal!« stimmte Rittner bei und sann, heftig an seiner Zigarette ziehend, nach. Plötzlich aber kam ihm ein Gedanke. »Du – ganz einfach! Du telegraphierst: »Ohne jede Sorge. Kein Duell!«

»Ja, aber,« wandte Hellmrich zögernd ein, »die Säbelsache morgen –«

»Ist doch kein Duell, sondern eine Mensur!« beschwichtigte ihn Rittner. »Ausserdem stichst Du ja Simmert bombenmässig ab!«

»Na, das fragt sich noch sehr,« lächelte Hellmrich. »Aber mit dem Telegramm, das könnte gehen. Es ist zwar stark jesuitisch –«

»Na, nu sei mal kein Frosch!« verwies ihn Rittner, und füllte ihnen beiden die Gläser nach. »Du tust es doch nur, um Deiner Frau Mutter unnötige Sorge zu ersparen. – Also avanti! Und nu prost, dass wir beide abstechen!«

Sie stiessen an und leerten ihre Gläser; dann warf Hellmrich ein paar Worte auf einen Zettel und stand auf. »Pardon, einen Augenblick. Ich will nur zu dem Besen hinüber.«

Nachdem er dem Dienstmädchen seiner Wirtin die Depesche zur Beförderung übergeben hatte, kam Hellmrich wieder zurück. Sein Herz war ihm nun ersichtlich leichter. Er stopfte sich die fast mannshohe Tabakspfeife und liess sich dann auf dem Stuhl am Ofen gemütlich nieder.

»Deibel auch! Dein infamer Knaster!« ulkte ihn Rittner an. Dabei sah er sich aber, selber behaglich paffend, in dem geräumigen, anheimelnden Zimmer um. »Du, alter Verstand, Deine Bude gefällt mir mächtig. Die nehm' ich unbedingt, wenn Du mal von Jena weggehst. – Schon der Fensterladen wegen!«

Hellmrich musste lachen. Der berüchtigte Tagschläfer verleugnete sich doch nie. »Na, wenn Dich meine Phileuse man nehmen wird!« neckte er.

»Wieso?« forschte Toni interessiert. »Die Grotte ist doch sturmfrei?«

»Das schon! Aber Deine Menagerie wird Frau Lauffer wohl nicht passen. Sie ist wenig tierlieb.« Rittner hatte nämlich eine merkwürdige Passion – neben vielen anderen. Er hielt sich ein Dutzend Tigerfinken, Dompfaffen, Wellensittiche, dazu ein paar Schildkröten und weisse Mäuse als Zimmergenossen.

»Na, das werd' ich ihr schon angewöhnen,« meinte Toni gelassen, und drehte sich gemächlich eine neue Zigarette. »Du, à propos, alter Verstand – rat mal, wen ich vorhin gesehen habe?«

»Keine Ahnung!« versicherte Hellmrich, aber er hüllte sich schleunigst in eine dichte Wolke Knaster ein, damit der andere sein plötzliches, dummes Rotwerden nicht sehen sollte. Denn er wusste wohl, was kommen würde.

»Wirklich, keine Ahnung? Kleiner Schäker!« scherzte Heinz Rittner. Hellmrichs Interesse für die kleine Lotti Gerting war ja allgemein bei den Alemannen bekannt. Freilich ahnte keiner von ihnen, wie ernst es der alte Verstand damit nahm. Nur Rittner, der Hellmrichs Wesen genau kannte, hatte das Empfinden, dass hier mehr als ein oberflächlicher Flirt vorlag. Darum gerade wollte er jetzt vorbringen, was er vorhin gesehen hatte. Hellmrich war ihm zu schade, als dass er sich lächerlich oder gar wohl unglücklich machen sollte.

»Na, bitte, schiess doch endlich los!« mahnte Hellmrich, und sein Herz klopfte erwartungsvoll.

»Also, ich traf eben, als ich von den Vandalen kam, Fräulein Gerting – hinten am Landgrafenweg.«

»Nanu – was machte sie denn da?« forschte Hellmrich, lebhaft interessiert.

»Sie ging spazieren,« erwiderte Rittner, und schnippte die Asche von seiner Zigarette weg.

»Spazieren –? Jetzt, in der Dunkelheit?« staunte Hellmrich. »Und so allein!«

»Pardon, da irrst Du; sie war nicht allein.«

»Nicht allein? Aber bitte, so rede doch endlich!« drängte Hellmrich. »Mit – mit wem ging sie denn? – Etwa mit einem Herrn?«

Rittner nickte stumm.

»Mit Simmert!« Hellmrich sprang vom Stuhl auf. Er war ganz bleich geworden. »Nicht wahr? Mit ihm!«

»Ja, alter Verstand!« bestätigte Rittner. »Als sie mich kommen sahen, verschwand Simmert zwar schleunigst mit hastigem Abschiedsgruss in dem Seitenweg bei der Höningschen Villa. Aber ich hatte ihn doch noch deutlich gesehen.«

Eine kurze Pause entstand. In Hellmrich bohrte ein tiefes Weh. Wenn das wahr war, was Rittner ihm da eben erzählt hatte – und eine Täuschung war ja doch kaum denkbar! – so gab es dafür nur eine Erklärung: Simmert stand im Begriff, ihm auch das Teuerste zu rauben, das sein Herz mit innerstem Hoffen und Sehnen umschlossen hielt – oder er hatte es ihm vielleicht schon genommen!

»Nun – und sie? – Sie erkannte Dich nicht?« fragte dann Hellmrich, halb mechanisch, denn er fühlte, er musste etwas reden, um nicht zu zeigen, wie ihn der Schlag da eben getroffen hatte.

»Ich glaube doch!« erwiderte Rittner. »Aber sie tat so, als ob sie mich nicht erkannt hätte. Und ich natürlich auch. Na, aber nun sag' mal, was hältst Du von der Chose? Merkwürdig, was?« Und ein eigentümlicher, mephistophelischer Zug legte sich um Rittners Lippen.

Hellmrich bemerkte es, und wie furchtbar weh ihm auch das von ihm so innig verehrte Mädchen mit diesem Schritt getan hatte, so konnte er doch nicht zulassen, dass ein Dritter sie deswegen in hässlicher Weise verdächtigte. Er musste ihre Ehre verteidigen – trotz alledem.

»Nun, die Sache liegt ja doch ganz klar,« sagte er tapfer mit einem erzwungenen Lächeln. »Die beiden lieben sich eben, und werden sich wohl auch demnächst verloben. Ich hab' das schon längst kommen sehen – und ihre Mutter übrigens auch, wie ich weiss. Und deswegen tu' mir den Gefallen, Heinz, nur des Mädchens wegen, Du weisst ja, wie ich zu der Familie stehe – also sprich zu keinem Menschen darüber. Es könnte sich leicht ein hässlicher Klatsch aus der kleinen Geschichte entwickeln. Nicht wahr, Heinz, Du schweigst? Bitte, Deine Hand darauf!«

Rittner sah ihn einen Augenblick forschend an, sodass Hellmrich seinem prüfenden Blick verlegen auswich. Da wusste der andere Bescheid.

»Hier – meine Hand, alter Verstand!« und er drückte Hellmrichs Rechte mit langem, festem Druck. Bei Gott, der Hellmrich war ein ganzer Kerl, so eine noble Gesinnung – und der wurde ausgeschlagen, um eines solchen Filou's willen! Zum Teufel, das Mädchen war's gar nicht wert, dass ihr ein Mensch wie Hellmrich sein Herz weihte. – Aber es war ihm gewiss lieber, wenn man ihn jetzt allein liess; so was will überwunden werden. Rittner zog seine Uhr.

»Herrgott, ich muss jetzt aber schnell auf die Kneipe. Die andern wissen ja noch gar nichts von morgen.« Er griff nach Mütze und Stock. »Kommst Du mit?«

Hellmrich schüttelte den Kopf. »Nein – jetzt nicht. Ich muss noch nach Haus schreiben. – Vielleicht später.«

»Na, dann addio!« verabschiedete sich Rittner an der Tür. Hellmrich geleitete ihn mit der Lampe bis auf den Flur. Da fiel ihm noch einmal die Bedeutung des morgigen Tages ein: »Du, Toni, also Du denkst dran? Heute abend nicht zu Eychelberg!«

»Na, bon! Das heisst – bloss auf einen Schlummerpunsch!« rief Rittner lachend, schon von der Treppe her. »Verlass Dich drauf, bloss einen!«

»Wenn's nur dabei bleiben wollte,« meinte Hellmrich, halb im Scherz, halb im Ernst, denn er kannte des andern gute Vorsätze zur Genüge. Dann trat er, wieder allein, in sein Zimmer ein. So – nun hatte er Zeit, sich mit sich selber abzufinden.



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