Paul Grabein
Du mein Jena!
Paul Grabein

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XI.

»Silentium! Es soll Konvent sein!«

Simmert verkündete es mit lauter Stimme, indem er sich erhob. Ein erwartungsvolles Schweigen, eine geheimverborgene Spannung herrschte in dem Raum. Es war erst vier Uhr nachmittags, aber bei der frühen Dämmerung des Wintertages brannte schon das Licht und warf seinen hellen Schein auf die Versammelten, die um die langgestreckte Tafel sassen. Es waren fast an dreissig Alemannen hier beisammen, denn auch die am Ort anwesenden Alten Herren und Inaktiven waren zugegen. Pahlmann hatte sein Werk gründlich getan. In stundenlangem Herumlaufen hatte er jeden einzelnen von ihnen persönlich so lange bearbeitet, bis er zugesagt hatte, zum Konvent zu kommen.

Um so grösser war daher seine Verwunderung, dass Hellmrich noch immer nicht da war. Er sah in starker Unruhe nach der Tür. Dann zog er die Uhr! Tatsächlich, es war schon vier durch, der Konvent war also zu Recht eröffnet. Was sollte das aber heissen?

Schon erhob Simmert die Stimme, um zu dem Gegenstand der Tagesordnung zu kommen, da ging die Tür auf. Aber nicht der Erwartete war es, sondern Apel, der Couleurdiener, der, wie üblich, beim Konvent den Herren Alemannen ein Gläschen Bier herzutragen wollte. Doch heute fand seine zarte Aufmerksamkeit einen schlechten Lohn.

»Was soll das heissen? Wir trinken heute nichts!« fuhr der Herr Erste den verblüfften Alten ärgerlich an, der sich mit der Miene gekränkter Unschuld umständlich verteidigen wollte.

»Na, ich dachte Sie bloss, ich wollte doch –«

»Ach was! Lassen Sie uns allein, und stören Sie uns nicht länger,« schnitt Simmert ihm scharf das Wort ab. Er markierte seit seiner Dienstzeit gern den schneidigen, militärischen Vorgesetzten, war er doch auch schon inzwischen Vizewachtmeister geworden. »Und sorgen Sie dafür, dass auch sonst kein Unberufener hereingelaufen kommt. Verstanden?«

Mit einem leisen Brummen zog sich das tief entrüstete Faktotum der Alemannen zurück. So was war dem braven Apel doch noch nicht geboten worden, und er war doch nun schon über fünfzehn Jahre bei den Schwarzmützen. Ja, ja, es wehte jetzt ein anderer Wind von oben, seit der Herr Simmert das Heft in der Hand hatte.

Nunmehr ergriff der Erste das Wort. Es sei wohl jedem bekannt, was die Veranlassung des heutigen Extrakonvents sei: Der S. C. hätte der Alemannia ein Paukverhältnis angeboten. Der Senior des präsidierenden Korps Balthia sei heute morgen bei ihm gewesen, und habe eine Vorbesprechung mit ihm darüber gehabt. Es seien auch bereits über alle Einzelheiten dieses eventuellen Verhältnisses Erörterungen zwischen ihnen gepflogen worden, und er habe eine sehr günstige Meinung von der Sache erhalten, sodass er – natürlich vorbehaltlich der Genehmigung des Konvents – dem Herrn von der Balthia erklärt habe, er glaube wohl, dass sich die Alemannen zu diesem Schritt entschliessen würden –«

»I, den Deibel werden wir tun, Du Schlussohr!« Mit dröhnendem Faustschlag auf die Tafel, so dass Aschbecher und Schreibzeug wie Tintenfass klirrten, schleuderte es ihm »Onkel Justus« ins Gesicht, der alte Herr Dr. Mantz, der heute zu dem wichtigen Ereignis auch durch Pahlmann in den Konvent geschleift worden war. Mit seinem gutmütigen Antlitz, zu dem der grimmige schwarze Vollbart wenig passte, schaute der kleine Herr, jetzt hell entrüstet, den Ersten an. Mit kühler Ruhe sagte dieser aber nur: »Pardon, Alter Herr! Ich bin noch am Wort.«

Dann fuhr Simmert fort, die Sache zu beleuchten und dabei immer beredter die Vorteile guter Beziehungen zu dem S. C. ins hellste Licht zu rücken. Mit guter Disziplin hörte die Corona schweigend ihren Ersten an, auch alle die, die gänzlich anderer Meinung waren. Zur Debatte würde es ja nur allzubald kommen. Gerade wie Simmert mit erhobener Stimme zum Schluss kam und seine Ausführungen in dem schwungvollen Satz gipfeln liess, das Wohl der Alemannia, die Sorge um die weitere, in ein neues Stadium tretende Entwicklung der Couleur erfordere gebieterisch die Annahme des S. C.-Antrages, erscholl draussen im Vorzimmer ein Geräusch. Höchst unwillig wandte Simmert den Kopf nach der sich eben öffnenden Tür. Unverschämtheit! Wer wagte es, trotz seines scharfen Verbots hier noch einzutreten?

Da standen plötzlich Hellmrich und der Alte Herr Grosskurth aus Weimar auf der Schwelle.

Die Begrüssung des Alten Herrn brachte minutenlang eine Ablenkung von der Sache mit sich. So entging auch allen der Ausdruck nur schlecht verhehlter, zorniger Überraschung und Enttäuschung, der sich auf Simmerts Gesicht im ersten Augenblick gezeigt hatte. Hellmrich! Das war ein dicker Strich durch seine Rechnung. Es war ihm schon sehr fatal gewesen, dass unerwarteterweise eine so grosse Zahl alter Leute, die nicht zu seinem Anhang gehörten, zum Konvent gekommen waren. Doch hatte er immer noch gehofft, einige der Unselbständigeren zu sich hinüberziehen zu können, so dass ihm die Mehrheit zur Seite stand. Aber nun kam da auch noch ganz wider den Plan sein schärfster Widersacher, der Führer der Gegenpartei – verdammt! Sofort wurde Simmert nun auch klar, dass das Erscheinen der Alten Leute auf Hellmrichs Betreiben zurückzuführen sei. Hatte er doch sogar hier den Alten Herrn aus Weimar – offenbar telegraphisch – herbeizitiert und schleunigst von der Bahn hierher gebracht. Ganz sicher! Hellmrich ahnte, oder wusste, was heute vor sich gehen sollte. Nun gab es also keine Überrumpelung mehr, sondern nur offenen Kampf, und zwar bis zum äussersten. Das war gewiss!

Es war wieder Ruhe eingetreten, und Simmert nahm nochmals das Wort, um für die Neuhinzugekommenen in wenigen Sätzen den Tatbestand mitzuteilen, und dann die Diskussion zu eröffnen. –

»Ich bitte ums Wort!«

Hellmrichs Stimme klang laut und scharf unmittelbar hinter dem letzten Wort Simmerts. Offenbar wollte er gerade als Allererster ihm gleich antworten. Der ungewohnte, kampfbegierige Ton, der fast feindselig klang, war auffällig in das allgemeine Schweigen hineingefallen. Erstaunt blickten daher jetzt alle den »alten Verstand« an, der sich erhoben hatte und hinter seinen Stuhl getreten war. Er umspannte in starker Bewegung die Knaufe der Stuhllehne und begann:

»Liebe Couleurbrüder, wir haben soeben von Simmert gehört, dass eine höchst wichtige Frage, die für die ganze Zukunft unserer lieben Alemannia entscheidend sein kann, an uns herangetreten ist. Die Sache ist ja an sich nicht neu. Wir haben die Möglichkeit kommen sehen und schon manchmal darüber gesprochen. Leider waren bisher die Meinungen darüber sehr geteilt. Nun, meine Ansicht darüber kennt Ihr ja zur Genüge, und ich will daher zunächst jetzt auch nicht darüber sprechen, sondern von ganz etwas anderem, von etwas – etwas Ungeheuerlichem – ich finde kein anderes Wort – das mir seit heute vormittag keine ruhige Minute mehr gelassen hat!«

Hellmrich machte eine kurze Pause, in der er tief Atem schöpfte. Dann wandte er sich nach rechts, und während nun seine Worte scharf und wuchtig hinausdrangen, richteten sich seine Blicke in flammender Anklage gegen Simmert, so dass jeder unwillkürlich die Augen auf diesen wandte.

»Ich habe hier vor versammeltem Konvent eine Anfrage an den ersten Chargierten zu richten, eine Frage, die ich ihm als sein alter Freund und Couleurbruder erst unter vier Augen habe vorlegen wollen. Aber er wollte das nicht.« Simmert machte eine Miene kühlen Erstaunens und wollte das in Abrede stellen. »Bitte – es ist so! Nun, also dann hier! Ich bin mir dessen voll bewusst, was ich tue, und ich bin bereit, all und jede Konsequenz aus meinem Tun zu ziehen – wenn ich jetzt hier einem Couleurbruder das schwerste, schimpflichste Unrecht tun sollte. Aber es muss sein! Das Interesse unserer Alemannia, das uns hier ja allen das Höchste, das Heiligste sein soll, erfordert, dass ich rede, und es steht mir höher, als die Rücksichtnahme auf Simmert und mich selbst!«

Abermals eine sekundenlange, gewitterschwüle Pause, während der Hellmrich die Kraft zum letzten Vorstoss nahm und alle bald ihn, bald den Ersten mit weitgeöffneten Augen, in höchster Erwartung, ansahen. Dann tönte Hellmrichs Frage, laut, mit tiefem, fast feierlichem Ernst:

»Also Simmert, Leibfuchs, ich frage Dich: Ist es wahr, was mir zu Ohren gekommen ist – hast Du Dich mit einer Anzahl von unseren Leuten heimlich zusammengerottet, um unsere Alemannia dem S. C. auszuliefern – um mich und andere Deiner Gegner mit der vollendeten Tatsache zu überrumpeln? Auf Deinen Burscheneid – sag' uns die Wahrheit!«

»Ha! Was?« – Ein vielstimmiger starker Aufschrei der höchsten Überraschung oder des aufbrausenden Zornes hallte durch den Raum, und schmetternd fuhr manche Faust in heissem Grimm auf den Tisch nieder. Mit finster-trotzigen Blicken oder beklommen, gesenkten Hauptes aber sassen die Anhänger Simmerts da, die mit im Spiel waren. Fast aller Augen flogen in fieberhafter Erregung von Hellmrich auf den Ersten und zurück – auf die beiden Führer der Schlacht, die nun losbrechen musste.

Hochaufgerichtet standen beide da. Hellmrich mit bleichem Antlitz, aber mit glühenden, forschenden Augen – Simmert, hochrot im Gesicht, die Stirnader vor Zorn stark geschwellt und doch die Augen gesenkt, im Gefühl seiner Schuld. Einen Augenblick klang ihm im Innern eine Stimme, die ihm verächtlich zuschrie, dass er seine Pflicht als Erster schimpflich verletzt, dass er hier als ein Verräter an der Sache der Alemannia stehe, der er einst Treue bis in den Tod gelobt hatte. Doch gleich schüttelte er wieder den stummen Ankläger von sich ab, der ihn sekundenlang wie einen geständigen Verbrecher zerschmettert zu Boden zu werfen drohte. Zum Teufel – weg mit diesen Albernheiten! Was er wollte, geschah es nicht gerade im Interesse der Alemannia? Nur, dass er sich eben von einem ganz andern Wege als Hellmrich das Heil der Korporation versprach.

Sogleich hatte er seine Festigkeit wieder gefunden, und ein heisser, feindseliger Strahl schoss nun zu Hellmrich hinüber. War es nicht wieder er, dessen unerträgliche Bevormundung er schon seit lange nur noch zähneknirschend ertragen hatte, der auch hier ihn jetzt wieder vor allen zur Rede stellte? Ha, nun endlich war die Stunde der Abrechnung, der öffentlichen Lostrennung von dem verhassten Gängelbande gekommen. Nur los! Es schrie ja alles in ihm, sich endlich, endlich Luft zu machen!

»Gib uns Antwort!«

Zum zweiten Mal klang gebieterisch Hellmrichs Stimme an sein Ohr, und dumpf drohend scholl es aus dem Kreise der älteren Burschen zu dem Ersten hin.

»Silentium! Ich selbst hab's Wort!« Herrisch, kalt rief es Simmert in den Konvent hinein und herausfordernd schaute er die Reihen entlang. Wer wollte da noch mit ihm anbinden?

»Hellmrich hat hier eben eine unerhörte Anschuldigung gegen mich erhoben, die ich natürlich nicht stillschweigend auf mir sitzen lassen werde. Also, von einer Zusammenrottung zum Verrat oder zur Auslieferung der Alemannia – wie Hellmrich so geistvoll zu sagen beliebte –«

»Ich verbitt' mir diese Ironie!« brauste Hellmrich auf, vor Zorn bebend. Noch nie hatte man den stets Ruhigen und Gutmütigen so gesehen.

»Und ich verbitte mir jeden Zwischenruf. Du solltest doch nachgerade die einfachsten Anstandsregeln des Komments kennen!«

Ein lauter Ausbruch des Unwillens brach bei mehreren der Alten Leute los, die empört waren, den verdienten Hellmrich so gemassregelt zu sehen. Aber dieser hatte inzwischen wieder seine Selbstbeherrschung wiedergefunden. Mit festzusammengebissenen Zähnen winkte er beschwichtigend zu den Rufern hinüber: Seine Stunde würde schon noch kommen. Vorläufig nur Ruhe! In der Tat, immer kommentmässig bleiben!

Simmert fuhr darauf fort:

»Also, ich sage nochmals, von einer Verschwörung ist natürlich – ich muss einfach lachen! – gar keine Rede. An der Sache ist so viel, dass allerdings der Vertreter des S. C. zu mir vertraulich davon gesprochen hat, ob es nicht ganz vorteilhaft wäre, wenn wir im Verlauf des Paukverhältnisses – vielleicht später einmal – überhaupt Korps würden – und ich habe darüber mit einigen mir nahe stehenden Couleurbrüdern gestern abend noch eine private Besprechung gehabt –«

»Aha! Da hören wir's ja!« scholl es grimmig von der Ecke der Alten Leute her.

»Silentium! Hab' ich's Wort oder nicht?« fuhr Simmert zornfunkelnden Blickes die Störer an. »Wer mich noch mal unterbricht, gegen den beantrage ich einen protokollierten Rüffel! – – Ich hab' doch wohl das Recht, mich rein persönlich zu unterhalten, mit wem ich Lust habe – nicht wahr?! Ich habe ferner mit Fug und Recht den heutigen Extra-Konvent angesetzt – die Sache eilte eben – und ich habe ja ordnungsgemäss die Bekanntmachung unten am schwarzen Brett auf der Kneipe ankreiden lassen. Ich frage also nach alledem Hellmrich, ob er seine unerhörten, schimpflichen Anschuldigungen sofort zurücknehmen will. Meine weiteren Schritte gegen ihn behalte ich mir natürlich noch vor.«

»Kein Wort nehm' ich zurück!« Hellmrich rief es schmetternd zu dem Gegner hinüber, und seine durchbohrenden Blicke suchten die des anderen. »Im Gegenteil! Ich füge jetzt noch hinzu: Simmert hat eben gelogen – feig und jämmerlich gelogen.«

»Verdammt! – Silentium! – Ich entziehe Hellmrich das Wort!« schrie Simmert mit wutbebender Stimme. Doch Hellmrich fuhr unbeirrt fort, in heftigem Ton:

»Ausreden lassen! Jetzt bin ich an der Reihe!! – Ich sage noch einmal: Das ist das Jämmerlichste, dass ich jetzt sehen muss, wie Simmert nicht einmal den Mut hat, die Wahrheit zu sagen, sondern feige Ausflüchte macht. Wenn die Sache so unschuldig ist, wie er tut, – nun gut, so soll er jetzt hier vor dem Konvent auf Ehrenwort sagen, dass er nicht die Absicht gehabt hat, heute hier nach Erledigung der auf der Tagesordnung stehenden Frage des Paukverhältnisses den Übertritt zum Korps durchzudrücken. Auf Ehrenwort, Simmert – antworte!«

»Ja, – antworte!« erscholl es in höchster Erregung aus der Runde der Alemannen. Die Schar der Anhänger Simmerts aber sah besorgt bald einander, bald ihren Führer an, der, plötzlich erbleicht, mit finster zusammengezogenen Brauen stumm vor sich hinstarrte. Endlich fand er das Wort wieder und sagte trotzig, aber seine Stimme klang nicht mehr so zuversichtlich wie vorher:

»Ich habe nicht die geringste Veranlassung, auf eine mir von privater Seite vorgelegte, unmotivierte Anfrage eine offizielle Erklärung abzugeben.«

»Gut!« rief Hellmrich, »so stelle ich denn hiermit den Antrag, der Konvent wolle beschliessen: Simmert ist gehalten, ehrenwörtlich auszusagen, ob er die Absicht gehabt hat, heute im Extra-Konvent durchzudrücken, dass die Alemannia das suspendierte Korps Vandalia wieder auftun solle.«

Abermals brach ein Schrei des Staunens, der höchsten Überraschung los. Das war ja wieder etwas Neues, und dieser bestimmt formulierte Verdacht Hellmrichs liess darauf schliessen, dass er ganz Genaues wusste. Auch Simmert fuhr jetzt, im Innersten betroffen, zusammen. Was war das – wusste Hellmrich wirklich? Jetzt galt es den letzten Versuch, seine schwer bedrohte Sache zu retten. So rief er denn laut dazwischen:

»Halt! Ich protestiere auf Grund der Geschäftsordnung gegen diesen Antrag. Wir haben hier nur über die heutige Tagesordnung zu verhandeln – über Annahme oder Ablehnung des Paukverhältnisses mit dem S. C. Ich schliesse hiermit die Debatte über den persönlichen Angriff Hellmrichs gegen mich, der vor den ordentlichen Konvent oder meinetwegen vor einem neuen Extra-Konvent gehört, aber nicht hierher. Also zur Sache! Wer erbittet zur Tagesordnung das Wort?«

Ein Beifallsmurmeln und freudige Zustimmungsrufe kamen aus den Reihen von Simmerts Anhängern. Gott sei Dank – er hatte das Mittel gefunden, die Karre noch mal herauszuziehen! Aber schon scholl wieder mächtig Hellmrichs Stimme:

»Ich erbitte das Wort – ja wohl zur Sache! Denn es gehört allerdings sehr zu der ganzen Paukverhältnisangelegenheit, dass wir alle klar sehen, wohin wir eventuell damit geführt werden sollen. Also noch einmal: Ich bleibe bei meinem Antrage, den ich hiermit zu protokollieren bitte. – Ich bitte, sofort darüber abzustimmen!«

»Und ich erkläre nochmals, dass ich den Antrag gar nicht zulasse! Und jetzt Schluss damit!« Herrisch rief es Simmert. »Haben wir eigentlich noch eine Geschäftsordnung, oder nicht? Das ist ja die reine Anarchie!«

Ein Tumult brach los. Mit heftigen Worten riefen die Anhänger Simmerts und Hellmrichs gegeneinander. Vergebens schlug Simmert schallend auf den Tisch und heischte mit schmetternder Kommandostimme Silentium. Es half nichts. Ein paar Augenblicke lang wogte so das Stimmengeschwirr, dann gelang es Hellmrich noch einmal, zu Wort zu kommen.

»Silentium! Ich verzichte auf meinen Antrag. Ihr habt es ja alle gehört – Simmert hat sich geweigert, sein Ehrenwort über den Hauptpunkt meiner Anschuldigung zu geben. Kein Wunder: Er hätte es nämlich nicht gekonnt, wenn er nicht ehrlos hätte werden wollen! Aber es ist auch nicht nötig. Hier stehe ich und versichere Euch mit meinem Ehrenwort: Es ist so, wie ich es gesagt habe! Es sollte heute die Rekonstitution des Korps Vandalia durch die Alemannia durchgedrückt werden.«

»Haha, lächerlich!« höhnte Simmert. »Woher hast Du diese kostbare Wissenschaft?«

Schwer und hart wie Hammerschläge fielen Hellmrichs Worte. »Ich habe als ehrlicher Mensch offen und frei einen anderen – es ist mein ehemaliger Säbelkontrahent, der alte Thurmann von den Vandalen – befragt, und dieser hat es für eine Anstandspflicht gehalten, mir etwas nicht zu verheimlichen, was mich denn doch auch etwas angeht. Vor knapp einer Stunde gelang es mir, Gott sei Dank, ihn noch zu sprechen. – Nun, Simmert, was sagst Du jetzt? Oder verleumdet Herr Thurmann Dich vielleicht auch?«

Ein lastendes Schweigen senkte sich nach all der Aufgeregtheit über den Raum. Mit krampfhaft geballten Fäusten bohrte Simmert in den Taschen seines Jacketts. Er musste an sich halten, dass er nicht dem andern, dem Verhassten, an die Kehle sprang, der ihn auch für diesmal überwunden hatte. So würgte er einen Augenblick wortlos an seinem Grimm, dann aber fuhr seine Faust krachend auf den Tisch.

»Nun, denn – in drei Teufels Namen – Ja! Und nochmals ja! – Warum soll ich's länger leugnen? Hellmrich hat mit täppischer Hand einen Plan, einen sehr verständigen, wohlerwogenen und berechtigten Plan, mit dem ich aus taktischen Gründen erst nach Erledigung der vorliegenden Sache kommen wollte, vorzeitig ans Licht gezogen. Aber, – bei Gott – sehr wenig zum Wohl der Alemannia, als dessen privilegierten Wächter er sich aufspielt. Denn nun, wo wir glücklich alle verhetzt sind, ist ja natürlich ein Majoritätsbeschluss ausgeschlossen. Bedankt Euch also schön bei Eurem lieben Hellmrich für alles, was nun kommen wird. Ich erkläre hiermit für meinen Teil – und ich spreche zugleich im Namen der meisten Aktiven – wir halten es für eine niemals wiederkehrende, günstige Gelegenheit, die Vandalia aufzutun und damit in den vornehmsten, lebenskräftigsten Verband zu kommen, den es überhaupt auf den deutschen Universitäten gibt. Damit verschaffen wir aber nicht nur uns selber persönliche Vorteile, namentlich für die spätere Zukunft im Philisterium, sondern wir nehmen zugleich auch das Interesse der Alemannia wahr.«

Ein schallendes Hohnlachen, zornige Zwischenrufe aus dem gegnerischen Lager unterbrachen den Redner. Doch der sprach unbeirrt mit scharfen Worten weiter: »Ja wohl, trotz Eures Lachens! Denn zum Teufel – wer ist denn eigentlich die Alemannia? Doch kein blutleerer Begriff, sondern die Gesamtheit aller unserer Mitglieder. Wenn wir also denen allen Vorteile verschaffen, so heisst das doch, im besten Sinne die Alemannia fördern. Nun, und wir wollten bei unserm eventuellen Übertritt zu den Vandalen doch selbstverständlich unsere sämtlichen Inaktiven und Alten Herren mitnehmen – wenn zunächst freilich auch nur erst mit der Schleife« –

»Aha, wie gnädig! Danke bestens!« unterbrachen ihn einige alte Leute mit grimmiger Ironie.

»So wäre ihnen doch nachher natürlich bei der ersten passenden Gelegenheit – zu einem grösseren Stiftungsfest oder dergleichen – das Band wieder verliehen worden. Also ich frage nochmals – wem wollten wir schaden?«

»Genug, der nichtswürdigen Sophistereien!« Nicht länger konnte Hellmrich an sich halten. Überbrausend, brandend, machte sich sein massloser Zorn, seine abgrundtiefe Verachtung gegen diese Gesinnungslosigkeit Luft. »Habt Ihr jemals einen schamloser, frecher mit seinem Burscheneid spielen und unser höchstes Bundesideal mit Füssen treten sehen? Sind wir denn eine Krämergenossenschaft, die sich persönliche Vorteile verschaffen will, oder haben wir uns zusammengefunden, um einem gemeinsamen Ideal nachzuleben? Nun, und das Symbol, das uns vereint, der Träger unserer gemeinsamen idealen Bestrebungen – das ist der Name, das sind die Farben der Alemannia. Dieser teure Name, diese uns verehrungswürdige alte Tradition, die seit einem Menschenalter ein Geschlecht der Alemannen getreulich nach dem andern bewahrt und gepflegt hat – das soll nun vom Erdboden verschwinden! Die stolzen Farben Grün-Weiss-Schwarz, für die wir alle, wie Hunderte vor uns, unser Blut, ja vielfach unser Leben eingesetzt haben, die wir allezeit in höchsten Ehren gehalten haben, die unser ganzer Stolz waren, – die sollen ausgelöscht werden, und unser Wappenschild sollen wir nun zerschlagen, um aufzugehen in einer fremden Gemeinschaft, an die nichts uns bindet, zu der nichts uns zieht – im Gegenteil, die wir bisher immer aufs schärfste bekämpft und gemieden haben! Couleurbrüder – sollen wir, können wir das wirklich? – – Nein, tausend Mal nein! Es kann ja nicht sein! Ihr müsst ja denken wie ich, alle miteinander – auch die, die vielleicht einen Augenblick irregeleitet, gewähnt haben, mit dem Verführer, den nur äusserer Glanz und Vorteil besticht, den rechten Weg zu gehen! Aber Dich« – und Hellmrich trat flammenden Blickes einen Schritt auf den bleich und bebend dastehenden Simmert zu: »Dich klage ich an, dass Du ein Ehrloser, dass Du ein kaltherziger Verräter an der Sache der Alemannia bist, unwürdig, noch länger die Farben, unsere stolzen Farben, zu tragen, die Du bereit warst, zu verleugnen. Du bist nicht wert, länger in unserer Mitte zu weilen, Du beschimpfst uns mit Deiner Gegenwart! Wir weisen weit ab jede Gemeinschaft mit Dir und Deinesgleichen. Und nun, liebe Couleurbrüder, fordere ich Euch auf: Wer denkt wie ich – wer gleich mir diesen da verdammt und verachtet, der stehe jetzt auf, damit er sieht, wie er von uns gerichtet ist!«

Mit hinreissender, brausender Beredsamkeit, mit donnergewaltiger Stimme hatte es Hellmrich gerufen, und, ganz unter dem Bann seiner starken Persönlichkeit, sprangen, die Stühle bei Seite schleudernd, ihm begeistert zujauchzend, seine Anhänger auf; ja, selbst mancher von denen, die zu Simmerts Partei gehörten, wurde unter dem niederschmetternden Eindruck dieser Rede schwach und schwankte, ob er sich nicht auch erheben sollte. Doch Simmert sah es, und der Wankelmut der Seinen gab ihm selber die Energie wieder.

»Halt!« schmetterte er mit dem ganzen Aufgebot seiner Stimmkraft in das Gelärm der Aufspringenden hinein. »Halt! Ich vertraue auf Euch, die Ihr mir noch gestern zugestimmt! Lasst Euch durch hohle Worte nicht betören. Haltet fest an dem, was wir für richtig erkannt! Jetzt gilt's die Entscheidung um Eure ganze Zukunft! Ein Feigling, ein Schuft, wer mich jetzt im Stich lässt! – Her zu mir, wer denkt wie ich!«

Mit einem schnellen Satz sprang Simmert abseits von der Tafel, wo das Zimmer einen grösseren freien Raum bot. »Unsere Losung sei von jetzt ab: »Vandalia sei's Panier!!«

Ein toller Wirrwarr entstand. Neu ermutigt, begeistert, eilten die Anhänger Simmerts hin, sich schützend um ihren Führer zu scharen, – es waren ihrer fast ein Dutzend – und trotzig schallte aus ihren Kehlen durch den Raum, den die Farben Alemannias schmückten, der Schrei des Aufruhrs: »Vandalia sei's Panier!«

Hellmrichs Herz krampfte sich einen Moment lang zusammen, als er diesen Frevel sah, als der Kern, die Blüte der Aktiven, feindselig ihm und den andern gegenüberstand. Er musste sich an der Stuhllehne festklammern, dass er nicht wankte, so war er im tiefsten getroffen. Doch im nächsten Augenblick war er wieder Herr der Situation. Er sah, wie tobend vor Grimm Buttmann, Wehrhahn und andere sich auf die Abtrünnigen stürzten – ein Handgemenge schien im nächsten Augenblick losbrechen zu wollen.

»Zurück, um Gotteswillen!« gellte da Hellmrichs Ruf durch das Getobe. »Entweiht nicht unser Haus und Euch selbst. Zurück – alle!!«

Und noch einmal gehorchten die Aufgeregten dem so oft bewährten Führer. Sie traten langsam von den Bedrohten zurück. Nur Buttmann schritt dicht zu Simmert hin. Ruhig wie immer blieb auch jetzt sein ernstes, sonst stets so gutmütiges Antlitz, aber aus seinem rechten Auge schoss ein Strahl unsäglicher Verachtung auf den vor ihm Stehenden. Dann sprach er, und seine massig lauten, aber eiskalten Worte drangen unheimlich in die plötzlich eingetretene Totenstille.

»Wenn Du ein Mann bist, so komm' mit mir hinaus!«

Simmert erbleichte. Er wusste, was das zu bedeuten hatte; doch er bewahrte tadellos seine Haltung. »Komm,« sagte er fest: »Ich bin bereit. Es wird allerdings keine grosse Ehre für Dich sein, jemanden zu vergewaltigen, dem Du an Körperkraft doppelt überlegen bist.«

Atemlose Spannung herrschte in dem Raum. Jeder kannte Buttmanns eiserne Faust, die niederschmetterte, was sie traf. Schon wollte Hellmrich vortreten, um dem furchtbaren Auftritt vorzubeugen – das durfte nicht geschehen, trotz allem! – Doch Buttmann besann sich selber:

»Du hast recht,« sagte er langsam. »Also ich erlasse Dir die zugedachte Züchtigung. Aber hier vor allen, ins Gesicht sei Dir's gesagt: Betrachte Dich als rechts und links geohrfeigt. Du bist ein Schuft – Pfui Deibel! Ich spucke aus vor Dir! – Und nun hinaus, Ihr allesamt!!« Drohend reckte er den gefürchteten Arm zur Tür.

Mit keuchender Brust, totenblass, stand Simmert, und die Augen stierten ihm hohl aus dem Kopf.

»Du wirst mir Genugtuung geben!« stiess er tonlos hervor.

»Für Deinen Kartellträger bin ich selbstverständlich zu sprechen,« erwiderte Buttmann und wandte sich von ihm ab.

Dann verliessen Simmert und seine Parteigänger stumm, schnellen Schrittes das Gemach.



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