Jeremias Gotthelf
Leiden und Freuden eines Schulmeisters
Jeremias Gotthelf

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Vierundzwanzigstes Kapitel

Wie ein Schulmeister einer ganzen Gemeinde stand hält

Endlich schwand der längste Tag meines Lebens und versammelte sich zu seinen Brüdern; aber je lieber ich ihn gehen sah, desto länger schien er zu zögern. Ja, es gibt auch lange Tage im Leben, nicht nur lange Jahre, Tage, die mit dem Pariserstab gemessen zu sein scheinen. Sie sind nicht fröhlich, diese Tage, bringen nicht Freuden; nachdem sie den Herzen Betrübnis, den Seelen Ängstigungen gebracht, ist es, als ob sie in Schadenfreude und Bosheit sich weideten an ihrem Angerichteten und sich nicht losreißen könnten von dem traurigen Anblick. Und der Mensch mag nicht warten, bis sie fliehen, er weiß eigentlich nicht warum. Es ist der Instinkt, der das Tier leitet, der ihm sagt, daß nicht alle Tage gleich feindselig seien, wie nicht alle regnerisch, und daß daher im raschen Schwinden der gegenwärtigen Tage der Balsam für sein Herz, die Wendung seines Schicksals liege.

Am folgenden Morgen erwachte ich um etwas weniger elend, etwas mutiger. Der Körper hatte sich von seinem Katzenjammer erholt, und von dessen Beschaffenheit hängt auch nicht wenig der Zustand der Seele, Mut und Kleinmut ab. Noch war allerdings die Angst und die Ratlosigkeit nicht weg; aber ich konnte doch wieder denken, deswegen werde man mich weder fressen noch hängen können. Ich fühlte mich hungerig und fand glücklicherweise noch Brot und etwas Milch vor und stärkte mich daran. Ich fand nun, daß ich gegen Garnlisi und ihre Tochter mich wohl werde wehren können; aber der Lärm, der daraus entstund, der war mir ein arg Gespenst. Überhaupt der Lärm war's, der mir vor allem graulich vorkam und gerne hätte ich Jahre von meinem Leben gegeben, wenn ich aus diesem allem fort hätte kommen können an einen Ort, wo man von mir und allem Vorgefallenen nichts wußte, wo ich ganz von vornen hatte anfangen können. Das kömmt die meisten Menschen an. Wenn sie sich in ihre Thorheiten und Sünden verstrickt und allerlei böse Folgen zur Strafe, zur Läuterung und Prüfung über sie kommen, so wollen sie das nicht ertragen, wollen fort aus dem aufgehenden Dornenfelde, verzweifeln, aus den Schlingen des Netzes sich loswinden zu können; sie suchen es zu zerreißen, meinend, an andern Orten seien weder Schlingen noch Netze mehr.

Die Thoren! Die ganze Welt ist ein Netz; es kömmt auf die Füße und das Laufen an, ob man in den Letschen und Löchern sich fängt; wohin der Mensch also die gleichen Füße trägt und wo er auf gleiche Weise läuft, da wird er auf gleiche Weise sich fangen. Die Thoren! Sie meinen in fremden Umgebungen die gemachten Erfahrungen viel sicherer geltend machen zu können, als ob es nicht weit leichter wäre, vor den Dornen sich zu hüten, von denen man bereits gestochen worden, als vor denen, deren Dasein man noch gar nicht kennt. Man will eigentlich damit nichts anderes, als der Buße sich entziehen; eine solche trägt der Mensch verdammt ungern, und wie ein Kind sich schämt, das der Lehrer in die Ecke stellt ober knien läßt, wie es den Rücken gegen die Wand kehrt und die Hände an die Augen hält, damit niemand es sähe, so hat es der Mensch, den Gott an Pranger stellt; er will sich nicht sehen lassen, will sich verbergen. Es läßt sich die Frage aufwerfen, ob es wirklich nicht gut wäre, wenn ein Lehrer am gleichen Orte Buße thäte, wo er den Fehler begangen. In Bezug auf den Lehrer ist sie mir bald entschieden. Der Wechsel des Orts verleitet ihn gar zu leicht zum Wahn, er habe keinen Wechsel in der Brust nötig, und vor unbekannten Menschen hütet er sich weit weniger vor Rückfällen, weil er, wie eigentlich alle Sünder bei allen Sünden, sich die Klugheit zutraut, sie besser verbergen zu können. In Bezug auf die Kinder, die Wirksamkeit des Amtes will ich die Sache hier nicht entscheiden; nur die Bemerkung will ich mir erlauben, daß eine Buße, wie z. B. Petrus sie übte, einen unnennbaren Einfluß hat auf das menschliche Gemüt.

In mir wankte der Entschluß, meine Kleider zusammenzupacken und des Nachts davon zu laufen. Aber wohin? Was anfangen? Wie den Nachforschungen mich entziehen? So mit dem Schelmen davon zu laufen, ohne auf irgend eine Weise meinen Gläubigern Bescheid zu geben, das war mir doch auch zuwider. So willwankte ich den ganzen Tag, ohne mit mir einig zu werden, was ich vorzunehmen hätte, um kein Menschengesicht mehr sehen zu müssen. Aber ich sollte ihnen nicht entrinnen. Nachdem schon mancher mit gwundrigem Gesicht beim Hause vorbeigegangen war, bei dem man den Schulmeister zwei Tage nicht sah, keine Thüre aufging, kein Rauch aus dem Kamin stieg, sammelten sich gegen Abend mehrere Menschen um das Haus. Sie guckten in alle Fenster, suchten an irgend einem Orte einzusteigen. Da sie mich aber nicht sahen (ich hatte mich in eine Ecke verkrochen, wo ich sie sehen und hören konnte), so sagten sie zusammen, da wäre sicher von dreien eins: entweder hätte ich mich gehängt oder sei sonst gestorben oder davon gelaufen. Das könne man doch nicht so gehen lassen, da müsse zugesehen und das Haus durchsucht werden; aber wer Hand anlegen und die Thüre aufsprengen solle, darüber branzten sie. Keiner wollte; jeder fürchtete, ich möchte gleich innerhalb derselben hangen und dem vorschützigen mit den blampenden Füßen ums Gesicht fahren. Sie versuchten ein Fenster zu öffnen, aber (nach löblicher alter Gewohnheit nichts mehr fahren zu lassen, was man einmal hat, auch den D ... k nicht und die verpestete Luft und die erstickende Hitze nicht) konnte man im ganzen Haufe kein Fenster aufthun, nur hier und da ein Läufterli. So konnten sie nicht zurecht kommen. Endlich nahmen sie in der Schulstube einen Fensterflügel heraus, nachdem sie sich überzeugt hatten, daß ich an keinem Fenster hange wie ungefähr ein Federnrohr. In der Stube ging das Märten von neuem an, denn nun wollte niemand in die Küche hinaus, aus Furcht, ich möchte als eine neumodische Hamme in der Hele hängen. Endlich sagte ein frecher Bursche: der lebendige Schulmeister sei nicht zu fürchten gewesen; er wüßte nicht, warum man den toten so zu fürchten hätte, und der Teufel werde doch nicht schon in ihn gefahren sein. Er riß die Thüre auf, ehe ich mich wieder verstecken konnte, und sah mich auf einmal bleich und erschrocken vor sich stehen im herbstlichen Zwielichte. Der ließ einen Brüll aus, als ob ein Dutzend Ochsen in ihm versteckt gewesen wären, schlug die Thüre wieder zu, schrie wie besessen: »Herr Jeses, Herr Jeses, dr Schumeister, dr Schumeister! Tüfel nimm mi nit!« und sprang zum Fenster aus, die anderen hinter ihm drein, und bald war der ganze Haufe verstoben, als ob das wütende Heer hinter ihm gewesen wäre.

Doch der Ammann hielt in einer Entferung von zwanzig Schritten stand und eine schöne Rede: das möge jetzt sein, wie es wolle; hinein müsse man, man solle eine Laterne bringen und ein Betbuch, und wenn sie zusammen ein kräftig Gebet verrichtet hatten, so wollten sie in den drei heiligen Namen die Sache wieder versuchen. Ob diesen Dingen ward mir aber selbst angst und bange. Dem Suchen mit der Laterne durfte ich nicht abwarten; ich fürchtete, wenn mich die wilden Buben erwischen würden, so würden sie mich zur Schadloshaltung der gehabten Angst aufs neue mißhandeln, sobald sie sich überzeugt, daß ich noch natürlich lebendig Fleisch hätte. Die Gespensterrolle fortzuspielen, dazu fehlte mir die Schalkheit und der Mut. Sonst hätte ich sicher das ganze Dorf in die Flucht treiben und in die Brattig bringen, mich tüchtig und auf die lustigste Art an ihnen rächen können. Aber ich zitterte auch am ganzen Leibe und als ich meine Stimme suchte, »Ammann« rufen wollte, fand ich sie nicht; auch sie hatte sich verschlossen in die Tiefen der Brusthöhle. Endlich brachte ich das Wort Ammann heraus, aber es klang so dünn und fein, so wunderlich, daß ich selbst darob erschrack. Draußen hörten sie mich nicht; sie hatten schon zu beten angefangen. Zum zweitenmal ging es mir eben so. Doch war die Stimme schon kenntlicher. Endlich hörte draußen das Gemurmel auf, und auf meinen dritten Ruf: »Ammann!« erscholl das Geflüster: »Amme los, Amme los, er rüeft dr.« Der Ammann soll bleich geworden sein; wenigstens hatte er lange, sich zu sammeln, und die Leute um ihn her murmelten: das bedeute dem Ammann nichts Gutes; er werde bald nache müssen. Endlich sagte der Ammann: »Mit dem Teufel habe ich nichts zu thun und mit einem Gespenst auch nicht; wenn du aber der Schulmeister bist, so thue auf und halte nicht die ganze Gemeinde zum Narren, sönst wollen wir dann sehen, ob das angehe.« Mit zitterenden Händen schob ich den Riegel am obern Teil der Thüre zurück und that sie auf, durfte mich aber nicht zeigen und niemand durfte hineinschauen. Da sprach endlich der Amman wieder (er hätte diesmal sein Amt verdammt wohlfeil gegeben, so viel er sonst darauf hielt): »Komm hervor, wenn du darfst und nicht der Teufel bist.« Ach! da mußte ich mich zeigen, freilich einige Schritte hinter der Thüre; sie hielten die Laterne empor und ein Knecht mußte sich langsam der Thüre nähern, und vorsichtig einige Schritte hinten drein schritt der Ammann heran. Als der sich endlich überzeugt hatte, daß es der leibhaftige Schulmeister sei, und nicht der leibhaftige Teufel, brüllte er mich furchtbarlich an: »Du dolders Lümmel«, sprach er, »ist das eine Manier von einem Schulmeister, eine ganze Gemeinde zum Narren zu hallen? Du dolders Lümmel, was du bist! es wäre dir besser, du hättest dich gehängt, als solche Flausen zu machen. Eins über das andere machst du, für die Gemeinde ins Gebrüll zu bringen. Aber wart du nur, wir wollen es dir zeigen. Morgen um 9 Uhr sollst du beim Pfarrer sein, da wirst du vernehmen, was dir gehört, der wird dir sagen, was du wert bist.« So sprach der Ammann. Hinter ihm drein wollte jeder andere auch noch seinen Teil sagen, und als es jeder gethan, zogen sie wieder von dannen, samt und sonders. So hatte ich wieder Menschen gesehen; sie hatten wüst mit mir gethan, aber mich doch nicht gefressen; das machte mich schon etwas mutiger.


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