Jeremias Gotthelf
Leiden und Freuden eines Schulmeisters
Jeremias Gotthelf

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Siebentes Kapitel.

Wie das Vaterhaus mir zum Diensthause gemacht wird.

Schon früher hatte ich also das Weben lernen müssen. Seit aber die verfluchte Unterweisung, wie der Vater gesagt hatte, zu Ende war, wurde ich nun förmlich eingespannt und an dem Webstuhl angekettet. Vom Morgen früh bis abends spät sollte ich daran sein und doch wieder der Mutter auf dem Heimet helfen. War ich nun durch schlechtes Garn oder durch von der Mutter erzwungene Arbeit auf dem Lande abgehalten worden, das Stück in der Zeit fertig zu haben, in welcher dessen Vollendung der Vater sich in den Kopf gesetzt, so schnauzte er mich ab ärger als einen Hund; das schlechte Garn, die andere Arbeit brachte er nicht in Anschlag. Einigemal wob ich ganze Sonntagsmorgen, um solche Versäumnisse einzubringen. Flugs machte er das zu einem Recht und verkürzte mir die Zeit, in welcher ein Wubb fertig sein sollte. Was aber hatte ich von dieser angestrengten Arbeit? Nichts! Kleider hatte ich nur die notdürftigsten und auch die nur mit Mühe und Not und manchem bitteren Wort. Bat ich z. B., wenn der Schuhmacher auf der Stör war, um ein Paar Schuhe, so hieß es, für den Webkeller seien meine noch lang gut genug, und wenn ich schon keine hätte für da ume z'gheie, so sei es nur um so besser. Erst wenn alle hatten und noch ein Rest des schlechtesten Leders blieb, ward es mir zu teil. Wenn dann meine Schuhe, wie natürlich, zuerst gebrochen waren, so war ich der unerchantest Hung, der nichts könne als düre mache.

Erhielt ich kaum Kleider, so bekam ich noch viel weniger Geld; 12 &frac12; Batzen brachte ich nicht mehr zusammen, kaum 6 Kreuzer. Es ist nicht gut, wenn junge Leute zu viel Geld in Händen haben. Sie verschwenden dasselbe nicht nur leicht sondern gewöhnen sich an Verschwendung und glauben gar zu gerne, die Quelle, welche ihnen jetzt ihre Taschen füllt, vertrockne nie und gebe immer das Hinreichende. So sieht man Baurensöhne, Handwerksbursche, Knechte in die Wette Geld verthun in ihrer ledigen Zeit, auf die liederlichste Weise es verbrauchen, mancher auf eine Weise, bei der er nicht einmal Freude hat, sondern nur den Genuß, daß man von ihm redet als von einem Generalslümmel. Diesen allen kömmt die Zeit, wo das Geld rarer wird bei ihnen, wo sie sich für jeden unnützen Kreuzer, den sie verthan, die Haare ausraufen möchten, und ganze Nächte schlaflos zubringen mit dem trostlosen Rechnen, was sie jetzt mit dem vergeudeten Gelde anfangen könnten. Es kommt die Zeit, wo sie für sich selbst sein möchten oder eine Haushaltung anfangen müssen; dann fehlt das Geld hinten und vornen und Tausende verlieren den Mut, gehen zu Grunde, fallen den Gemeinden zur Last, die Männer gegeben hätten, wenn sie fünfzig Kronen zum Anfang gehabt hätten.

Aber wenn ein junger Mensch gar kein Geld in Händen hat, so ist es ebenfalls schlimm. Auf jeden Fall lernt er nicht mit demselben umgehen. Wenn er später welches in die Hände kriegt, so kommt er gar zu gerne um dasselbe. Mancher wird zu allerlei Bösem verführt, um zu solchem zu kommen. Selbst Baurensöhne werden Diebe, durch die Kargheit ihrer Väter dazu getrieben. Man stelle sich doch nur einen jungen Menschen vor, der kein Geld hat, wie er ausgeschlossen wird von der Gesellschaft. Nun es gibt welche (und ich tadle die gar nicht), die keine Kameradschaft begehren, die Jahr aus Jahr ein zu Hause bleiben; aber die haben gewöhnlich ein Interesse dabei; sie wollen kein Geld verthun, wollen sich etwas ersparen und an den ersparten 10 Kreuzer laben sie sich die ganze Woche durch, weil sie näher zu ihrem Ziele, der erwünschten Summe gekommen. Allein wenn man gar kein Interesse hat, sich nichts ersparen kann bei aller Arbeit, weil man gar nichts erhält und doch sich ausschließen soll von allem – das macht elend. Und ausschließen muß man sich ohne Geld. Ging ich zu Kameraden, so wollten die etwas gwerben; beim Kugelwerfen hatten die Verlierenden Wein zu bezahlen; wanderte man an einen Ort hin, so mußte man einkehren; – und zu dem allem hatte ich kein Geld.

Und doch verdiente ich außer dem Kostgelde bald in der Woche wenigstens 80 bis 40 Batzen, fast so viel als der Vater. Gleichwohl hatten wir es in der Haushaltung nicht besser, obschon der Verdienst sich vermehrt hatte. Es war immer das gleiche Klagen, Schinden und Brummen, und Erdäpfel z'Morge, z'Mittag und z'Nacht, dünner Kaffee, meist Schiggore. Der Vater ließ es sich behaglicher sein, arbeitete weniger früh und weniger spät, ließ sich leichter versäumen. Wenn er auf Burgdorf oder Langenthal ging und die Hälfte mehr Geld einstrich, trank er einen Schoppen mehr und aß eine Bratwurst mehr, kramte seinem Kronprinzen zwei Lebkuchen statt einen und kehrte auf dem Heimwege wohl noch ein oder zwei Mal ein. Die Mutter wurde auch begehrlicher, branzte mehr Geld zu Kleidern ab, kaufte breitere Sammetschnüre für ihre Meitscheni, unghürigere Spitzli, und wenn sie zu Ader ließ, trank sie eine Halbe statt einen Schoppen. So lebten alle aus meinem Verdienst besser, nur ich nicht, und erhielt dafür nicht einmal gute Worte.

O wie das mir Stiche gab ins Herz durch und durch, so ein Sklave zu sein ohne Lohn und ohne Liebe! Und wenn ich an einem schönen Sonntag vom Waldrain weg Mädchen und Bursche fröhlich ziehen sah dem Dorfe zu kummerlos, und wenn der Jubel von dort her zu mir scholl und Paar um Paar Arm in Arm zurück kamen, und ich da oben alleine war verlassen und freudelos – o wie oft drückte ich da die brennenden Augen ins grüne feuchte Gras!

Wer will wohl den Stein auf mich werfen, wenn in dem weinenden Herzen böse Gedanken entstunden und dort die sich sammelnden Thränen in Tropfen bitterer Galle verwandelten; wenn die Selbstsucht der andern auch die meinige erzeugte; wenn ich das vergaß, was die Eltern an mir gethan und nur das ihnen nachrechnete, was sie von mir genossen; wenn der Widerwillen immer größer wurde etwas für sie zu thun und der Entschluß empordämmerte, sie zu verlassen und für mich selbst zu sorgen?

Man sieht und sah immer eine Menge Kinder, die sich um ihre Eltern nicht bekümmern, sie gefühllos dem Elend überlassen, als ob dieselben sie nichts angingen, sie ihnen gar nichts schuldig wären, und es wurden und werden immer Kinder verdammt, die wie des Waldes wildes Tier ihren Erzeugern vor dem Munde weg das Essen stehlen, wenn sie die stärkern geworden sind.

Und es ist allerdings kein häßlicheres Geschöpf als so ein aufgeputztes Ding, das all sein Hab und Gut an ein paar silberne Häfte, ein Fürtuch oder an einige Mänteli gewandt und Händschli an hat; dessen Mutter barfuß läuft und an der Thüre bettelt, innert welcher ihr Meitschi prächtlet und Buben Wein zahlt. Wenn so ein Meitschi, das eine ganze Samstagnacht nicht schlafen kann aus freudiger Erwartung, was wohl die ganze Welt zu dem Tschöpli und zu den breiten Haarschnüren sagen werde, mit welchen es am Sonntag aufzuziehen gedenkt und nicht zweifelt an gutem Schick und hoffet für eine Baurentochter sich ausgeben zu können; – wenn so ein Meitschi, sage ich, wüßte, wie die Welt mit Fingern auf ihns zeigt und sagt: »Die ma wohl, mr hei ihrer Mueter erst gester ds Almuese gä!« – es würde sich wohl schämen und weniger an die Sache thun. Und so ein Bürschli, dem am Sonntag kein Weg breit genug ist, das seine Sackuhr spienzlet und ganze Wolken Rauch aus seiner Tabakspfeife bläst, Mädchen schryßt und Wein zahlt und Weggen frißt wie ein Wolf und nur meint, er allein sei groß und mache sich g'estimiert; – wenn dieses Bürschchen wüßte, wie man ihns verachtet und wie man wohl weiß, daß sein Vater läng Zyt kein Brot hat, auf Hudlen schläft, Schwefelholz verkauft und dr Gottswille z'esse heuscht, – es würde zu Hause bleiben und seine Kreuzer sparen, um seinem Vater die Kutte blätzen zu lassen.

So laufen allerdings eine Menge Kinder von ihren Eltern weg, sobald sie vom Herren sind; bekümmern sich um die Eltern nicht nur nichts, ds Gunträri sie nehmen noch von ihnen was sie können. Sie verthun ihre Löhnli mit Hoffahrt und Hudlen und lassen schamlos der Gemeinde die Eltern zur Last fallen. Fremde müssen an diese Eltern wenden, was sie mit saurem Schweiß aufbringen mögen, während die Kinder sich den Buckel voll lachen und sagen: es thuet ne 's sauft, dene D –. Und wenn so ein hungriger Vater oder eine frierende Mutter Stunden weit die matten Beine schleppt, in der Hoffnung, von Sohn oder Tochter, denen man keinen Mangel ansieht, etwas zu einem guten Tag zu erhaschen, so verschämen sich die Kinder, verleugnen die Eltern oder fertigen sie mit schnödem Bescheid ab, daß sie merken, wie unwert sie gekommen und das Wiederkommen sie nicht wieder gelüstet. Schon manche Meisterfrau hat sich einer alten Mutter erbarmet, welche die eigene Tochter puckt fortgewiesen hätte. Was meint man wohl, wenn ein so abgefertigter Alter mit seinen schlotternden Gliedern kaum heimzukommen vermag, was für Gebete für sein Kind wird sein Herz auf seine Zunge legen, welcher Segen kömmt über die brummenden Lippen? Andere Kinder bleiben bei ihren Eltern, aber nur um sie auszusaugen und sie auf die Gemeinde zu bringen, und gar mancher Vater kann husen, so lange die Kinder klein sind; sobald diese aufgewachsen sind, kömmt er in die Armut. Was sie verdienen, brauchen sie für sich; was er verdient, soll er mit allen teilen, soll dafür alles anschaffen, und reicht das nicht hin, behält er nichts für sich, so bekümmert sich keins der Kinder darum. Da kann der Alte zusehen, und mag er nicht mehr gfahren, so lassen sie ihn im Stich und die Gemeinde kann zusetzen und zuschießen.

Also selbstsüchtige unkindliche Kinder gibt es in großer Menge, die ihren Eltern nicht zur Stütze, sondern zum Schaden herangewachsen sind, Kinder, die ihnen nicht Trost geben, sondern Schmerz bereiten. Aber bleiben wir nicht blos bei dieser Erscheinung stehen, sondern denken wir tiefer nach und forschen wir nach den Gründen dieser Erscheinung, nach den Gründen, warum so viele Eltern von ihren Kindern hintangesetzt und schnöde behandelt werden, – dann werden wir finden, daß nicht alle Schuld bei den Kindern zu finden ist, sondern daß viele Eltern den größten Teil derselben tragen.

Betrachten wir das Betragen der Kinder, so ist es dasjenige, welches allen Tieren gemein ist. Ein alt schön Lied sagt, der Mensch sei halb Tier halb Engel, d. h. als Tier wird er geboren, ein Engel soll er werden. Dazu besitzt er die Anlagen, dazu hilft ihm Gott, dazu beruft ihn das Christentum. Aus dem Tier muß sich der Engel herauskämpfen, wie aus der Puppe der Schmetterling sich entfaltet. Das Beginnen dieses Ringens oder das Trachten nach dem was droben ist, das, so lange der Mensch im Leibe lebt, kein Ende nimmt, bloß rüstiger und freudiger wird, nennt Christus die Wiedergeburt, Paulus: Absterben des alten, Auferständnis des neuen Menschen. Zu diesem Ringen, zu einem werdenden Engel das tierisch (in der Erbsünde) geborne Kindlein zu erziehen, verpflichtet sich der christliche Vater in der Taufe, und unchristlicher Unverstand, kirchlicher Unsinn ist's, wenn in einem christlichen Staate diese Verpflichtung tierisch gebliebenen oder aberwitzig gewordenen Vätern erlassen wird. Aus der Selbstsucht geht des Tiers Leben hervor; im Engel lebt die Liebe, sie tritt aus ihm heraus und wird die Mutter seines Thuns.

Nun lebt leider in einer Menge von Eltern nur noch das Tier; der Engel in ihnen weint ohnmächtig, die Selbstsucht drückt ihrem ganzen Betragen ihr Siegel auf, auch dem Betragen gegen ihre Kinder. Von einer höheren Bestimmung des Menschen haben sie gar keinen Begriff und noch weniger davon, daß man diese Bestimmung teilweise schon auf Erden erfüllen müsse. Ihr Dichten und Trachten geht darauf aus, es gut zu haben auf der Welt. Zu diesem Guthaben sollen alle andern Menschen ihnen helfen, und wer sie daran stört, betrachten sie als eine Last oder als einen Feind. Kinder stören also vor allem aus ihre Behaglichkeit, ihr Guthaben, durch unruhige Nächte und geschreivolle Tage; aber Kinder kosten auch. Und wenn es auch nur täglich für einen Kreuzer Milch wäre, so muß besonders bei Armen, wo das Einkommen und Ausgeben gewöhnlich grad aufgeht, dieser Kreuzer an einem Orte erspart werden, entweder am Kaffee der Frau oder an den Schoppen des Mannes. Kinder sind oft eine Last, und je mehr Kinder, desto größer und fühlbarer wird sie.

Nun herrscht aber unter dieser Klasse von Menschen eine ganz eigene Offenheit. Da weiß man noch wenig davon, unter sich die Gefühle zu verstecken und mit erkünstelter Miene Gefühle der Zärtlichkeit und Liebe zu heucheln, wenn sie nicht da sind. Da sagt z. B. eine Tochter ganz offenherzig vor ihrem kranken Vater: Wir beten alle Tage, daß er bald sterben könne; es ginge ihm und uns wohl. Und der alte Mann nimmt das gar nicht übel, er findet es ganz natürlich; denn er ist eine Last und einer solchen wünscht man los zu sein – das weiß er aus eigener Erfahrung. So sagt ein Mann am Krankenbett seines Weibes ohne Hehl: »In Gottes Namen, wenn es muß gestorben sein, so wollte ich, es geschähe bald; es ginge ihre wohl und uns nicht übel. Unsereiner hat, weiß Gott, nicht der Zeit, immer da in der Stube zu sein; es ist gar viel zu werchen da draußen, und öpper apartigs anstellen mag man auch nicht«. Das Weib macht dabei nicht mucks, denkt vielleicht an den Kabisblätz, der gejätet werden sollte und nun wegen seiner Krankheit ungejätet bleibt, so daß es eine Schande sei für das ganze Haus und es sich noch im Tode schämen müsse deretwegen. Mit der gleichen Offenheit drücken sich die Eltern gegen ihre Kinder über die Last aus, die sie an ihnen zu haben glauben, wie ich schon vorhin von meinen Eltern bemerkt habe. »Mi isch doch e plogte Mönsch, we me Ching het; o mi weiß nit, wie wohl es eim isch, we me keni Ching het« – das sind Redensarten, die man tagtäglich in einer Menge Häuser hören kann. Diese Redensarten bleiben nicht wirkungslos beim Kinde, wenn es sich der Wirkung schon nicht bewußt ist; auf alle Fälle entbehrt es der wahrhaften Liebe, welche Liebe wecket. Doch dieses ist noch nicht die schlimmste Seite dieser elterlichen Selbstsucht, sondern das Bestreben der Eltern ist es, durch die Kinder selbst sich diese Last erleichtern zu helfen, ja es bis zum Guthaben zu bringen. Dieses selbstsüchtige Bestreben ist aber meistens eitel, und wird vereitelt durch die im Kinde erzeugte Selbstsucht. Selbstsucht aber trennt; nur Liebe ist das Band, das unauflöslich ist und Kinder zu Trost und Freude an die Eltern bindet.

Das Bestreben der Eltern geht also sichtbarlich darauf aus, sich durch die Kinder die Last erleichtern, abnehmen zu lassen, derselben Kräfte sobald möglich zu ihrem, der Eltern Nutzen auszubeuten. Die gar beschränkten Eltern bekümmern sich gar nicht um die Ausbildung der Kräfte ihrer Kinder, überlassen dieselben durchaus sich selbst und geben sich nicht die geringste Mühe, die Kinder zu befähigen, sich mit Ehren in der Welt fortzuhelfen. Diese verschiedene Handlungsweise entspringt aus der gleichen Quelle, aus der Selbstsucht, nur galtet sie sich entweder mit der Schlauheit oder mit bestialischer Trägheit. Bei den ersten Eltern müssen die Kinder arbeiten, arbeiten oft über Vermögen, aber es ist die Arbeit eines Ochsen, eines Esels unter der Peitsche des Meisters. Die Faust oder Flüche sind Lehrmeister und zwingen zu mechanischer Verrichtung des Aufgegebenen. Vom Erwecken des Verstandes, des eigenen Denkens, überhaupt der geistigen Kräfte, ist keine Rede. Will man einen solchen Vater anhalten, sein Kind schulen, geistig wecken zu lassen, so antwortet er wohl: er vermöge nicht sein Kind alle Tage in die Schule zu schicken, es müßte ihm arbeiten; er könne keinen Reichtum hinterlassen, es müßte einst seinen Unterhalt verdienen. Und da frage der Bauer nicht: Chast bete; sondern: Chast arbeite? Gerade also wie man bei einer Kuh fragt: ob sie ziehen könne und auf welcher Seite? Die künftige Befähigung zur Arbeit ist aber gar nicht der Zweck dieser Eltern, sondern nur die gegenwärtige Benutzung ist ihr Augenmerk. Sie thun also eigentlich gar nichts für das Kind, sondern sie sorgen nur für sich. Und gar mancher Vater oder Mutter verthun in wüstem Leben, was die Kinder mit sauerm Schweiß erworben, und lassen es sich recht wohl sein auf Kosten der Kinder. Und auf gemachte Vorwürfe antworten sie wohl: es müeß es nieders zu-n-im selber luege; sie heige Chingsthalb lang bös gha, sie welle-ne jetz o la bas sy. Die andern, welche ihre Kinder nicht einmal zur Arbeit halten, schicken sie doch gewöhnlich dem Bettel nach. Ob das Kind stehle oder nicht, das bekümmert sie gar nicht, wenn es ihnen nur etwas heimbringt. Das Beste davon lesen sie dann aus für sich, mit dem Übrigen kann das Kind sich begnügen.

So wird das Kind von Jugend auf am Busen der Selbstsucht auferzogen, das Tier wird genährt in ihm, um den Engel bekümmert man sich nicht. Es fehlt also die rechte kindliche Liebe und auch die Dankbarkeit stellt sich nicht ein. Denn die kommt da niemals, wo man einem alle Tage Wohlthaten vorhält. Sie ist eine gar wunderliche Pflanze; sobald man ihren Wachstum erzwingen will, verdorret sie. Auf die natürlichste Weise von der Welt wächst im Kinde ebenfalls die Selbstsucht. So wie es größer wird, fängt es an zu denken: es müsse auch zu sich selbsten sehen, bei den Eltern komme es nicht zu Gelde, so manches erregte Gelüsten zu befriedigen, nicht einmal zu ordentlichen Kleidern. Es sei nicht billig, daß es alles dargeben solle für die andern, ohne daß ihm ›Danke Gott‹ dafür gesagt werde. Diese Gedanken regen sich weit früher als man glaubt. Schon das Bettlerkind ißt die besten Bissen, verthut die meisten Kreuzer, ehe es heim kömmt, gibt den Eltern je länger je weniger ab. Diese Gedanken werden aber immer mächtiger, legen sich immer feindseliger zwischen Eltern und Kinder, bis die erstern von den letztem entweder ausgesogen oder verlassen sind. So wie früher die Kinder den Eltern Plage und Last waren, so werden die Eltern den Kinbern Plage und Last, die sie so ungern als möglich tragen, so schnell als möglich von sich ab auf die Gemeinde wälzen, um zu sich selbsten zu sehen.

Wie Liebe die Liebe zahlt, so zahlt auch Selbstsucht die Selbstsucht mit gleicher Münze. Wirklich ist es oft recht schauerlich, die Hartherzigkeit der Kinder zu sehen, zu sehen, wie sie unbewegt und ungerührt der Eltern Not und Elend zusehen können, ohne sich im Geringsten etwas abzubrechen. Aber eben so schauerlich wäre es gewesen, wenn man früher zugesehen und der Erziehung oder vielmehr Verwahrlosung dieser Kinder mit aufmerksamem Auge gefolgt wäre. Über solche hartherzige gefühllose Kinder erhebt nun die Welt ein Geschrei, die Eltern schimpfen, die Gemeinde oder wenigstens die, welche teilen müssen, begehren auf, und alle klagen über die gottlose Zeit, und daß es allbets nicht so gewesen, daß Welt und Leute immer schlechter würden. Aber eines bedenken alle diese Schreier nicht: daß jede Wirkung eine Ursache, jeder Baum seine Wurzeln, jede Erscheinung ihre vorbereitenden Vorgänge habe. So ist diese Zeit, in welcher wir leben, von einer früheren geboren, und die in ihr hervortretenden Erscheinungen sind Kinder der Vergangenheit. Aber auch diese Zeit zeuget fort und fort an dem Kommenden und die Zukunft wird Zeugnis ablegen: ob das, was unsere Zeit geboren und der Zukunft überliefert, nicht edlerer Art sei, als was die letzte Vergangenheit uns als Erbteil Übermacht hat und was jetzt in der Masse hervortritt.

Die frühere Zeit, für uns Schweizer die Helvetik, ist die Mutter der Irreligiosität, der Lauheit in allen höhern Interessen, der eigennützigen sinnlichen Gemeinheit, welche heute so häufig im Familienleben und in den Ratssälen hervortrittet; die Helvetik ist die natürliche Tochter der verwesenden Aristokratie, von dieser aber natürlicherweise nicht anerkannt, nicht legitim erklärt. Schon sieht man viele in stummem Zorne bleich oder in edler Scham rot gewordene Gesichter vor der zu Tage getretenen Gemeinheit sich abwenden, und diese blaßroten Gesichter sind die Morgenröte neuer Tage, die Erzeuger reinerer Erscheinungen.

Aus dieser etwas weitläufig geratenen Durchführung wird hoffentlich männiglich klar geworden sein, daß an dem ganz natürlichen aber nicht christlichen Betragen vieler Kinder die Eltern eine große Schuld tragen. Für arme Eltern ist es allerdings viel schwerer als für reiche, von dieser Selbstsucht sich fern zu halten, die durch die Kinder verursachten Opfer freudig zu bringen, die Entbehrungen geduldig zu tragen, den Kindern nichts anders zu zeigen als treue Liebe, und aus dem ganzen Betragen hervorleuchten zu lassen den innigsten Wunsch: zu sorgen für ihr künftiges zeitliches und ewiges Wohl. Aber das Leben hienieden ist ein Kampf und es wird niemand gekrönet, er kämpfe denn recht. Und wie dem Reichen Kämpfe anderer Art bereitet sind, so findet sie der Arme außer sich, besonders in seinen nächsten Umgebungen, im heiligen Familienkreise und in sich mit der einfachen und also kenntlicher hervortretenden Selbstsucht. Das ist sein Saatfeld, und was einer säet, wird er auch ernten; wer ernten will, ehe er treulich ausgesäet, ist eben ein Thor, und wird zur Erntezeit heulend und zähneklappend am verödeten Acker stehen. Nichts anders also als innigere Religiosität, eine klarere lebendigere Auffassung der Bestimmung des Menschen und ihrer Verhältnisse unter einander wird auch diese Quelle der sich vermehrenden Armenlasten versiegen lassen. Denn das Christentum ist auf der einen Seite die einzig wahre Lehrerin der Ausbildung der menschlichen Kräfte, und dasselbe allein vermag sie hinwiederum in Liebe zu verbinden zu mächtiger Anstrengung und gegenseitiger Hülfsleistung. Man mag daher in Wirtshäusern und Ratssälen lange kannengießern über Armenwesen und Armengesetze, man drescht nur leeres Stroh so lange, bis die Schoppentrinker und Ratsherren zur Einsicht kommen, daß ächt christlicher Sinn im Hause, in der Gemeinde, im Staate das erste Heilmittel alles überall hervortretenden Übels ist; und bis sie mit ihrem Beispiele vorangehen, sind alle ihre Reden umgekehrte Windbüchsen, d. h. sie knallen tüchtig, treffen aber nichts.

Bin ich nun wohl nicht entschuldigt, wenn die kindliche Liebe erlosch, wenn ich die Pflicht vergaß, Stütze der Eltern zu sein, und nur an mich selbst zu denken anfing, weil niemand anders an mich dachte. Das an mich denken bestund aber nicht sowohl darin, daß ich mir Pläne machte, etwas für mich selbst zu beginnen; dazu fehlte mir die Spannkraft der Seele, die Energie, die ich früher, als ich mit dem Götti drohte, in höherem Grade besessen. Und wenn ich schon wünschte, aus diesem Elend wegzukommen, so wußte ich weder wie, noch was beginnen. Die Weberei war mir grenzenlos erleidet, wie jede Arbeit erleiden muß, bei der man nur ausgescholten wird und nichts davon hat.

Nun konnte ich aber wenig anders als weben, und zum Herdknecht fehlte mir Geschick und besondere Lust. Es gibt Stimmungen im Menschenleben, wo man zu gar nichts mehr Lust hat, und das sind wohl die trübseligsten. Des Morgens erwachte ich mit Eckel an der Arbeit, zu der ich mußte; bei jeder Elle, die ich wob, dachte ich an den Lohn dafür, was der Vater damit anfangen, wie die Mutter ihn brauchen werde, und was ich wohl daraus kaufen, genießen könnte. Aber am traurigsten war ich, wie gesagt, des Sonntags, wenn ich so einsam blieb mit dem verlangenden Herzen, mit meinen trüben Gedanken alleine. O das ist wohl das Traurigste, wenn es trübe wird außer uns und in uns, wenn Mißgeschick, Unglück, eine harte Lage auf uns drücken und diese das Gemüt verfinstern, den lieben Sonnenschein des Frohsinns uns nehmen, wenn das Herz der Spiegel wird des äußern Schicksals. Da ist dann Trübseligkeit ringsum, kein Trost, keine Hoffnung mehr. Es giebt Menschen, die in der glückseligsten Lage finster werden in sich, es ist eine Krankheit des Gemütes, zuweilen gerade Folgen allzu großer Sättigung, allzu reichlichen Genusses ihrer Glücksgüter. Sie sind zu bedauern, daß ihnen die Kraft der Seele fehlt, die Finsternis zu verjagen; aber ihr Unglück ist doch nicht so groß als jenes, wo mit der innern Not noch die äußere sich gattet. Aber wie glücklich der Mensch wohl wäre, wenn er sein Inwendiges unabhängig bewahren könnte von dem wechselnden Geschick, wenn er in jeder Lage froh und freudig bleiben könnte im Bewußtsein, daß jede aus des lieben Gottes lieber Hand kömmt!

Wäre dieses nicht die wahre Unabhängigkeit, köstlicher als Silber und Gold? Würden an ihr nicht die Worte Unglück und Mißgeschick ihre Bedeutung verlieren? Wäre das wohl nicht der glücklichste Mensch, der sie besitzt? Ist sie aber möglich? Dem Christen ist sie verheißen; es ist der Friede Gottes, der über allen Verstand geht. Aber ich armes Weberknechtlein besaß sie nicht, ich kannte sie nicht, und doch konnte ich alle Fragen und das halbe Testament auswendig. Jetzt kenne ich sie und ringe darnach. Aber diese Siegeskrone des Kampfes, die Gott schon im zeitlichen Leben bietet, hängt gar hoch oben, und an die Füße hängt sich mit Bleigewicht der irdische Sinn und die irdische Not. Aber ich verzweifle nicht.


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