Jeremias Gotthelf
Leiden und Freuden eines Schulmeisters
Jeremias Gotthelf

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Zehntes Kapitel.

Der Abschied.

Mir war bange. Die Leute, zu denen ich kommen sollte, gefielen mir nicht recht, und daß ich nebenbei noch arbeiten sollte, behagte mir auch nicht. Nicht daß ich die Zeit für etwas anderes, etwa für meine Fortbildung, zu gebrauchen gewußt hätte: wie sollte damals einer, der beidweg lesen und schreiben und rechnen konnte (mit Ausnahme einiger großer Buchstaben und einigen Bedenklichen beim Multiplizieren und Dividieren) an Fortbildung gedacht haben! Fortbildung ist ein ganz neu entdecktes Wort, und darum noch nicht von allen begriffen, und von denen vielleicht am wenigsten, die es am meisten gebrauchen. Aber am meisten lag mir auf dem Herzen die Angst: wie wegkommen von meinen Leuten, wie es ihnen sagen, daß ich nicht mehr ihr Narr und Sklave sein wolle? Was wird die Mutter sagen, wie wird der Vater thun, wenn sie es vernehmen? wer soll es ihnen sagen? Während ich so sann und fast reuig ward, redete der Alte immer fort, aber was, weiß ich nicht. Endlich merkte er, daß ich nicht auf ihn achte und ein betrübt verblüfft Gesicht mache. Ich gestund ihm meine Sorge. Er lachte dazu und meinte: »Fressen werden sie dich nicht, u ds Balgen bist du gewohnt, und wenn's Prügel gibt, so wird es auch nicht das erste Mal sein – und dann hast du um so mehr Recht fortzugehen. Noch heute mußt du es ihnen sagen. Es macht sich am besten; es würde dir alle Tage schwerer werden. Wenn du heim kommst, werden sie mit dir aufbegehren – da wirf ihnen gleich den Bündel vor die Thüre. Aber Guraschi mußt du haben dazu; darum komm, mr wei no-n-e Halbi ha –« und aus einer wurden zwei. Als ich sie getrunken hatte, zitterte ich nicht mehr; mir bangte nicht mehr, gar aufrecht stund ich da, schief saß mir die Kappe auf einem Ohr, trutziglich schauten die Augen drein, und schalkhaft lachte der Alte und sagte: »So gfallst mr, gang jetz ume«.

Es ist kurios, wie der Mensch, in dem der Geist nicht eine besondere Macht übt, sich gestaltet und gebärdet bald so bald anders, je nachdem er etwas im Leibe hat oder auf demselben. Das bedenken die Menschen selten, sind deswegen selten behutsam gegen sich und billig gegen andere. Lustig ist's, wenn der Weingeist im Leibe spukt und ein ganz anderes Leben glüht auf. Aber eben weil man weder behutsam noch billig, ist, so beginnt er nur zu gerne Streiche, über denen, wenn der Geist ausgefahren ist, der Leib blutet oder die Seele weint. Nun so arg ging es mir diesmal nicht; nur männlicher als sonst trat ich auf und zur Stube herein, wo alle eben noch Äpfel rüsteten. Es war Windstille vor einem Sturm. Niemand dankte auf meinen Gruß; niemand bot mir etwas an oder rührte sich, um mir etwas Essen zu holen. Wahrscheinlich hatte man von mir geredet, war böse geworden über mein ungewohnt spätes Heimkommen, und wahrscheinlich die am meisten, die etwas hatten thun müssen, was sonst mir oblag. Das machte mich böse, war es doch erst 8 Uhr, war es doch das erste Mal, und kamen doch mein Vater, meine Schwestern oft später heim, und niemand hielt es ihnen vor, und fanden Essen. Da mir niemand das Essen anbot, niemand etwas zu mir sagte, protzte ich auf und wollte in meine Kammer gehen. Da platzte meine Mutter los: das wäre lustig, jetz ins Nest zu gehen, nachdem ich den ganzen Nachmittag verhudelt und sie noch alle rüsten müßten, damit ich ds Fresse hätte! Kaum hatte die Mutter ihr Solo fertig, fiel der ganze Chor ein; sogar der kleine Erbprinz schrie einen tüchtigen Diskant in den Baß des Vaters hinein. Nun blieb ich auch nicht stumm und begehrte auf, was ich konnte, und es hallte wieder an den Wänden der Stube das Schelten. In einer Pause kam der in mir wohnende Geist noch gewaltiger über mich und schrie laut aus meinen Entschluß, fort zu gehen und nicht mehr aller Hund sein zu wollen. Die Mutter belferte: ich solle nur gehen, es wäre ihr schon lange recht gewesen. Der Vater meinte: ihm sei es auch recht; nur schade sei es, daß so-n-e Lümmel niemand werde nehmen wollen; ich solle nur gehen und probieren, ich werde bald froh sein wieder zu kommen, aber dann wolle er es mir auch zeigen. Ich aber ward stille, nachdem ich meinen Entschluß einmal heraus hatte. Das Höchste, was meine Kraft vermochte, war gethan, und mit dem Heldenwort war auch der Heldengeist fort, und der da bleibende Überrest war ordentlich erschrocken über die vollbrachte Wagnis. Mich ärgerte nur, daß ihnen mein Weggehen so wenig mache, und daß der Vater so gar wenig Glauben an mich hätte, daß er meine, ich fände nirgends Platz. Am folgenden Morgen war ich gar fleißig am Webstuhle, um das Wubb noch fertig zu machen, welches aufgespannt war, und das nahm männiglich für ein Zeichen der Reue über mein Aufbegehren und behandelte mich gar höhnisch und puckt. Nun fing ich an meine Kleider zu erlesen, fand zerrissene und beschmutzte Wäsche, überhaupt meine ganze Garderobe in elendem Zustande.

Da ich von Wäsche rede, so könnte eine Herrenfrau vielleicht meinen, ich rede da von 5–6 Dutzend Hemden, dito Strümpfen, dito Nas- und Halstücher. Nein, meine liebe Herrenfrau, ich rede von 5 Hemden, 1 Paar wollenen Strümpfen ohne Ferseren (der Vater kaufte jedem ein Paar Strümpfe am kalten B. Markt, und der war noch nicht vorbei), 1 Halstuch und 2 Nastüchern. Das war alles, was ich hatte, und das meiste war noch sehr schlecht. Die übrige Kleidung paßte dazu. Mich dünkte nun in meiner Einfalt, die Mutter könnte mir gar wohl pläßen und waschen, und der Vater wenigstens Schuhe und wohl auch Strümpfe mir anschaffen. So aufzuziehen ins neue Amt und zu fremden Leuten schämte ich mich.

Als die erste Woche vorbei war und der Vater an einem Dienstag nach Langenthal wandelte, brachte ich mein Anliegen vor. Potz Gueg, was vernahm ich wieder von allen Seiten und hatte dazu keinen Wein im Leibe! Von allen Seiten hieß man mich nur gehen, aber es sei mir nicht Ernst, ich wolle nur drohen und neue Schuhe und neue Strümpfe erhalten, um chönne uf dr Gasse ume z'gheye. Kleinmütig nahm ich alles hin und tröstete mich damit, daß ich die beschmutzten Hemden verkehrt anziehen und wohl noch vierzehn Tage tragen, Nastücher selbst waschen, und als Schulmeister mit meinen alten Holzschuhen den Winter wohl durchmachen könne. So ergab ich mich in mein Schicksal, ungewaschen und ungeplätzet ausziehen zu müssen und packte am abgeredeten Sonntag morgens meine Sachen zusammen, nistete in allen Ecken herum, ob ich nicht noch etwas finde, das ich mit Recht als mein Eigentum könne mitlaufen lassen, und setzte mich gsuntiget an den Tisch. Die Mutter hatte dem Treiben verwundert zugesehen, aber nichts gesagt; der Vater war nicht zu Hause und kam erst, als wir am Essen waren. Nachdem ich meinen Löffel am Tischtuch und den Mund am Ärmel abgewischt hatte, ging ich hinauf in die Kammer, holte den Bündel herunter, stellte ihn glücklicherweise vor die Thüre und ging hinein, Abschied zu nehmen. Man hatte mich in den letzten Tagen so oft gehen heißen und sich über mein Fortgehen so lustig gemacht, daß ich wohl Erneuerung des Spottes erwartete, aber nichts anders. Den wollte ich ertragen, und fest hatte ich mir vorgenommen, ihnen nicht zu sagen, wo ich hingehe, und daß ich schon einen Platz hätte. Sie sollten mich alle Tage umsonst zurück erwarten, sollten von Tag zu Tag meinen Verdienst mehr missen, von Tag zu Tag gwundriger werden nach meinem Aufenthalt, und wenn er ihnen endlich bekannt würde, merken, daß ich es machen könne ohne sie. So hatte ich es mir ausgedacht, das sollte meine Rache sein.

Ich ging also hinein und sagte: »I will jetz gah, bhüet ech Gott u zürnet nüt.«

Da drehten sich alle Gesichter nach mir um; in ihren Augen fing es an zu sprühen wie in Katzenaugen, und als ich der Mutter, die zu unterst am Tisch saß, die Hand geben wollte, schlug sie mir sie weg und sagte, ich könne gheye, wo ich wolle; aber ds Herrgetts solle ich nicht sein, etwas von meinem Zeug mitzunehmen, das sei ihres. Ich sagte nichts darauf und dachte: »Guet, daß dr Büntel vor dr Thür isch.« Niemand wollte mir die Hand geben, und als ich zum Vater oben am Tisch kam, donnerte mich der ganz unerwartet an: das wär ihm afe lustig, we dChing, dene me ds Fresse gä heig u se bchleidet, wo sie nüt heige chönne vrdiene-n-u bös gha drby, ds Mul wüsche wetti u gah, we si afe ueuis mache chönnti! »Pack di i Cheller u mach es neus Wubb uf oder i nime di bim Gring!« Verdutzt stund ich da, wußte nicht recht, wie das gemeint sei und sagte endlich, es sei mir ernst, ich wolle fort, ich könne ihnen doch nichts recht machen. Da ging grob und klein Geschütz los. Der Vater sprang auf und rief, er wolle mich lehren, für mich zu lugen! Die Mutter schrie: »Gib ihm ume, gib ihm, bis er gnue het, dem Sch...bueb!« Aber ich wartete den Vater nicht ab, sondern stürzte zur Thüre hinaus, überrannte den kleinen Bruder, der mir sie zuhalten wollte, ergriff meinen Bündel und machte, daß ich den Vorsprung bekam. Der Vater lief mir nach bis in den Baumgarten, mir die gräßlichsten Flüche nachschickend, mir keine gesunde Stunde anwünschend und sich hoch und teuer verfluchend, er erwürge mich, sobald er mich in die Hände kriege; er wolle zum Landvogt und sehen, ob Kinder so fortlaufen könnten; das sei der Dank, den man von ihnen habe und es wäre einem nützer, sie verreckten alle, ehe man ihnen einmal das F... gewischt. So tobte der Vater und aus allen Läusterlene der Fenster guckten Köpfe und gaben als Echo die Laute des Vaters wieder, und wenn dem der Atem ausging, so war, was die Mutter zusetzte, noch gräßlicher, als was der Vater sagte.

Das war der Segen, den ich von Vater und Mutter erhielt, als ich ihr Haus verließ. Er brannte mich heiß auf dem Herzen, dieser Segen; er lähmte meine Füße mir, dieser Segen; sie erstarrten, wollten mich kaum weiter tragen. Ein einzig freundlich Wort und ich wäre stille gestanden, wäre umgekehrt, hätte an den Webstuhl ruhig mich hingesetzt und säße ruhig wahrscheinlich heute noch dort. Aber es wollte nicht kommen, dieses freundliche Wort, und die immer noch schallenden Flüche schreckten die Füße weiter und weiter, während sie das Blut im Herzen stocken ließen. Es schauderte mich durch und durch, und Adam und Eva kamen mir in Sinn, als sie liefen vor des Engels flammendem Schwerte, und fast wie Kain kam ich mir vor, den das Wort Mörder, das Gottes Hauch ohne Unterlaß durch seine Seele dringen ließ, unstät über die Erde trieb. Aber endlich erstarben die Flüche, ehe sie mein Ohr erreichten; spurlos verrannen sie in die Luft, das Blut löste sich wieder im Herzen, der blinde Schrecken wich, dem Geiste kam die Besinnung wieder. Ich fühlte tief die Schrecknis, mit solchen elterlichen Verwünschungen belastet in die Welt zu gehen. Aber gegen das Gefühl erhob sich der Verstand und wollte mir begreiflich machen, daß ich recht gehabt. Er rechnete mir vor, daß ich den Eltern wohl so viel verdient, als ich sie gekostet, daß sie mich schnöde behandelt und eigennützig, daß ich auf diese Weise zu Grunde gegangen wäre und diese Behandlung mich aller Dankbarkeit enthoben hätte. Er zeigte mir, daß ich die Eltern früher geliebt und durch sie selbst um diese Liebe gebracht worden sei. Er zeigte mir, daß, je dankbarer, je unterwürfiger ich mich gezeigt hätte, desto mehr ich mißbraucht worden wäre. Es zeigte mir dieses alles der Verstand; er bewies mir, daß er und ich recht, die Eltern unrecht hätten. Aber ein gewisses Brennen im Herzen konnte er nicht löschen, ein tiefes Bangen nicht aus der Seele tilgen, ein Bangen vor den Wirkungen dieses gräulichen Segens, vor den Wirkungen dieses schauerlichen Begleiters, den Eltern an die Fersen des Kindes geheftet. In Mark und Bein blieb mir dieses Bangen, und als ich bei meinem neuen Meister über die Schwelle strauchelte und wo ich sonst noch strauchelte im Leben und wo sonst das Leben hart mich anstieß, da hörte ich der Eltern Flüche wieder und ihnen schrieb ich zu das Straucheln und die Stöße, und bangte vor noch tieferem Fallen, zermalmenderen Stößen, und nur eines, das man später lesen wird, aber nicht der Verstand, konnte mir reinigen von diesem Eiter das Herz.

Ist es aber doch nicht traurig, wenn man mit solch eiterndem Herzen die Eltern verlassen oder mit zerdrücktem Herzen bei ihnen untergehen muß?


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