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Mit den Hosen ging es rasch.
Nun trat aber was Wichtiges hervor, eine wahre Lebensfrage, die Frage über den Proviant, der mitzunehmen sei. Da müsse man zu essen mitnehmen, sagte Johannesli, viel, viel, sonst stünde man es nicht aus, so weit wie es sei. Das meinte die Großmutter auch, aber wegen dem Quantum konnten sie sich nicht verständigen. Johannesli wollte an Brot, Äpfeln, Birnen, Pfannkuchen so ziemlich einen Tragkorb voll oder einen Karren; indessen mußte er es sich endlich gefallen lassen, daß man bloß mitnahm, was man füglich in die Taschen bringen konnte. Als man das im Reinen hatte, gings unerwartet noch einmal los. Der Junge wollte nun auch einen Stock, und zwar Großättis Stock, den langen, dicken, den die Großmutter zum Andenken aufbewahrt hatte.
Endlich ließ sich der kleine Held beschwichtigen mit dem Versprechen, daß die Großmutter im nächsten Zaune ihm einen großen, dicken Stock schneiden wolle; dann zogen sie endlich von dannen in die Welt hinaus, zwei Stunden weit!
Es war ein gar schöner halb Winter-, halb Herbstmorgen, kurz vor Martinstag, so einer von den duftigen Tagen, wo wie in träumerischem Glanze die Erde schwimmt, ein durchsichtiger Schleier die Welt verhüllt wie helle Ahnung die zukünftige Welt.
Es war tiefe Sabbatsstille, als die beiden wanderten in die Welt hinaus, kühn und stolz der Junge, bang die Alte, aber beide neugierig, was die Welt zum jungen Helden sagen werde, und neugierig die Großmutter noch, wie die Welt dem jungen Recken gefallen und wie er über sie urteilen werde. Anfangs hatte er auch Augen für die Welt, zeigte der Großmutter große Tannen, große Bäche, späte Birnen an den Bäumen, Hühner vor den Häusern, und die Großmutter freute sich sehr, was der für Augen habe und wie er alles sehe.
So hatte er anfangs ein weites Herz und Augen für vieles; aber nach und nach, wie es auf der Reise durch die Welt geht, zog sich ihm das Herz zusammen, er dachte mehr und mehr an sich allein, und seine Augen sahen nur sein eigen Persönchen. »Großmüetti, du zerdrückst doch das Essen nicht, und die Birnen, hast du die nicht zermatscht?«
Als er sich vergewissert hatte, daß die Vorräte noch wohlbehalten seien, sagte er, es dünke ihn, er möchte was, es sei da ein Apfel gewesen, der hätte ihm bsunderbar gefallen. Die Großmutter schälte ihn, Johannesli aß ihn, und bald darauf sagte er, es dünke ihn, er möchte absitzen, er sei ein wenig müde.
Endlich ging es weiter, aber nicht weit. Es klagte Johannesli: »Großmüetti, hab ein Steinchen im Schuh.« Die Großmutter meinte, Johannesli solle es ertragen, das werde nicht viel machen. Aber das half nichts, sie mußte dran; sie schlug den Schuh wacker aus, rieb die Sohlen an den Strümpfen rein und schraubte den Schuh unter vielen Seufzern wieder an den Fuß. Kaum waren sie hundert Schritte gegangen, so lamentierte Johannesli aufs neue: »Großmüetti, du kannst nichts, der Stein ist noch im Schuh, ui! ui!« Was die Großmutter auch sagte, es half nichts, sie mußte aufs neue an die Operation; unter schweren Nöten vollbrachte sie dieselbe, aber kaum war der Schuh an seinem Orte, fing das Jammern des Buben von neuem an. Jetzt begriff die Großmutter den Stand der Dinge. »Schweig, Bübchen, schweig«, tröstete sie, »das ist kein Stein, das ist eine Blase, die kann man dir nicht aus dem Schuh machen; du mußt dich gedulden, bis wir beim Vater sind, dort zieht man dir dann den Strumpf ab, und vielleicht sticht sie dir der Vater auf.«
Aber das Bübchen wollte sich nicht gedulden; was es sich selbst angelaufen hatte, sollte die Großmutter wegmachen, geschwind, schnell, auf der Stelle; je weniger er wußte, was es war, desto wüster tat er – begreiflich. Als die Großmutter die Blasen nicht wegmachen konnte, schrie er, die Großmutter solle ihn tragen. Begreiflich trägt eine siebenzigjährige Frau einen fünfjährigen gewaltigen Jungen nicht lange; in den Schuhen wollte er nicht laufen, und da es ihn schmerzte, in den Strümpfen zu gehen, so mußten auch diese abgezogen sein, er wollte barfuß gehen. Und als er barfuß ging, tats ihm wieder weh und die Großmutter mußte ihn tragen, und auf der Großmutter Armen winselte er fort und fort, und die Großmutter hatte ebenfalls Lust dazu. Ach, sie waren im bittersten Jammer und dazu das Wetter so schön, und von schön geputzten Menschen waren die Straßen voll, und die meisten standen still bei ihnen, teilnehmend wegen dem Gewimmer.
Mehr als vier Stunden zaaggeten sie so aneinander, da stand endlich das Haus, in welchem der Vater diente, vor ihnen. Es war Essenszeit, die hätte Käthi gerne vorübergelassen; allein der Kleine, der Speise und Trank nach ihrer Bedeutung in der heutigen Kriegskunst zu würdigen wußte, der wollte nicht. Ihr Proviant war trotz des Jammers aufgezehrt, und jetzt wollte er hinter die Fleischtöpfe Ägyptens. Freilich sagte er dieses nicht, sondern mitten im Jammer war er diplomatisch und schrie, der Vater könnte hintenaus und fort, und dann kämen sie nicht zu ihm, und was Käthi dagegen sagen mochte, das Bubi schrie das Gleiche immerzu.
Käthi mochte wollen oder nicht, sie mußte vorrücken zur Türe und klopfen daran, und zwar zweimal, denn bekanntlich machen Dienstboten so wenig gerne eine Pause im Essen als ihre Herrschaften, geschweige denn, daß sie aufstehen von demselben. Endlich, wahrscheinlich auf Geheiß der Bäurin, öffnete sich ein Schiebfensterchen, eine hässige Jungfernstimme fuhr heraus und frug: »Was habt Ihr wollen?« »Der Johannes soll herauskommen«, antwortete Käthi, welche nur an einen Johannes in der Welt dachte, zog sich dann neben die Türe zurück, im nicht wie eine Bettlerin davorzustehen.
»Johannes, du sollest hinaus«, sagte die Magd. »Wer ists?« frug eine Frau, welcher man die Meisterfrau alsbald ansah, obgleich sie unten am Tische saß. »Eine alte Frau mit einem Buben«, war die Antwort. »Es wird deine Mutter und dein Kind sein«, sagte die Frau. »Geh, heiße sie hinein, sie kann mit uns essen.« Johannes war ganz rot geworden im Gesicht und sagte: Er sei fertig mit Essen, wolle hinaus und sehen, wer es sei, vielleicht sei es jemand ganz anders. Da ward auch die Bäurin rot im Gesicht, stand auf und ging hinaus. Während sie draußen war, munkelte Johannes vieles, was die Bäurin nicht hörte und doch vernahm. Es dauerte einige Zeit, bis sie wiederkam, denn Käthi machte sehr Komplimente, und zwar von Herzen, während der Bub zuerst dumm tat, der Bäurin nicht die Hand geben wollte, sich unter der Großmutter Schürze verkroch, dann aber unter derselben hervor rief: »Wohl, wir wollen hinein, wollen zum Ätti, zum Ätti will ich!« Da lächelte die Bäurin und sagte: »Du wirst müssen, magst wollen oder nicht«, und Käthi ward auch rot; sie fühlte, wie die Sünden der Eltern an den Kindern zutage kommen. Da streckte die Bäurin die Hand dem Johannesli dar. »Komm, ich will dich zum Ätti führen«, sagte sie. In die Stube zu müssen, wo alle zu Tische saßen, war Käthi fast, als müsse sie aufs Hochgericht.
»Kennst du den Ätti?« frug die Frau, als sie in die Stube traten, den Jungen, welchen sie an der Hand führte. Als derselbe mit dem Finger auf den Ätti zeigte, sagte sie: »So geh zu ihm, er solle dir zu essen geben.« Das ließ der Bube sich nicht zweimal sagen, desto größere Not dagegen hatte man mit Käthi, bis man sie beim Tische hatte.
Käthi mußte essen, und als die andern die Löffel abwischten am Tischtuche und Käthi es auch tun wollte, sagte die Frau: »Noch nicht, iß du nur; die haben lange vor dir angefangen, und mit deinen alten Zähnen ißt man nicht mehr so schnell wie mit jungen. Bist du draußen im Stalle fertig, so komm herein«, sagte sie zum Korporal, der mit dem Buben ebenfalls hinausging. Nun legte die Bäurin Käthi vor, was für alte Zähne am besten paßte und sagte: »Das ist brav, daß du einmal kömmst; wirst es nicht gewagt haben, dein Bub wird mich verklagt haben, wie ich eine Böse sei?« Käthi wollte begreiflich dies nicht glauben, sondern sagte, sie komme sonst nicht von Hause, und sie wisse sich nicht zu erinnern, wann sie eine so große Reise getan, und wenn nicht der Kummer sie getrieben hätte, sie hätte den Weg kaum mehr unter die Füße genommen.
Hier war der Punkt, wo wahrscheinlich die Bäurin Käthi haben wollte, denn sie war auch ein Weib und wußte gern alles. »Hast was Ungerades?« frug sie. Nun erzählte Käthi ihre Lage, wie sie jetzt fürchte, aus dem Häuschen zu müssen, was ihr Tod wäre, und wie, wenn Johannes nicht helfe, es werde sein müssen, dieweil ihr Bauer, seit er sich mit dem neuen Zeug abgebe, ein gar Harter gegen die Armen geworden sei. »Johannes wird dir ein Tischgeld geben für das Kind?« frug die Bäurin. »Er gibt mir, was er kann, er ist gar ein Guter gegen mich«, sagte Käthi ausweichend. »In diesem Jahre, wieviel gab er dir?« frug die Frau. »Kanns nicht bestimmt mehr sagen, das Gedächtnis hat mir gar grusam gschwachet«, antwortete Käthi. »Doch sorgt er für den Hauszins?« setzte die Frau wieder an. »Bhüetis, was denkt Ihr, Frau; der fremdest Mensch hätte es ja wohlfeiler, und ich bin die Großmutter und muß auch was für ihn tun, wie recht und billig. Und mir ist es nicht einmal ein Muß, es ist meine Freude; wenn man mir das Bubi nehmen würde, es wüßte kein Mensch, was ich anfinge. Hergegen der Sohn ist noch jung, e grusam ein Militärischer und ein Postierter, und ein solcher hat das Geld nötiger als eine alte Frau, wenn er nicht ganz verachtet sein will. An Böshaben bin ich gewöhnt, und es ist mir wohler dabei als manchem, der Haus und Hof hat und Geld am Zins.« »Du bist eine rare Frau«, sagte die Bäurin, »Solche finden sich heutzutage selten. Jetzt will jeder seine Bürde dem Nachbar auf die Achseln legen, du aber nimmst noch einem Andern seine ab und entschuldigst dich, daß du nicht doppelt trägst, während manche Jüngere als du für niemand sorgt, dem Bettel nachläuft oder der Gemeinde zur Last liegt. Aber für deinen Jungen ists eine blutige Schande, daß er dir nicht besser hilft!«
Da erschrak Käthi sehr, merkte erst jetzt, was sie eigentlich geoffenbaret, bat dringlichst, die Bäurin möchte doch ja nichts merken lassen; er sei der beste Mensch unter der Sonne, aber wie Feuer und Büchsenpulver; er wäre imstande, er nähme ihr das Kind auf der Stelle fort, und das wäre ihr schrecklicher, als wenn man ihr bei lebendigem Leibe das Herz aus der Brust risse.
Ehe die Bäurin antworten konnte, kamen Vater und Sohn zur Türe herein. »Gehe mit der Mutter in die Hinterstube«, sagte die Frau, »die ist warm, und wann sie wieder fort will, so sage es mir.« Johannes meinte, vielleicht daß die Mutter lieber draußen an der Sonne wäre. Die sei heute lange genug an der Sonne gewesen, meinte die Bäurin, und Johannes mußte mit der Mutter gehen, aber er tat es unwillig. Er war sehr böse, daß die Mutter gekommen war, er schämte sich ihrer, fürchtete das Gespött seiner Mitdiensten. Er fürchtete Vorwürfe von der Bäurin, welche ihn schon lange gemahnt hatte, einmal wieder zur Mutter zu gehen, was er unter allerlei Vorwänden immer abgelehnt hatte. Er fürchtete sich, mit der Mutter allein zu sein.
Die meisten Mütter verstehen sich auf die Mienen ihrer Herren Söhne und kümmern sich darum häufig mehr als um die Mienen ihrer Männer. So ging es auch der guten Käthi. Mit schwerem Herzen betrat sie die Hinterstube, und mit Entschuldigungen begann sie die Unterhandlungen. Entschuldigungen recht zu würdigen, dazu muß man etwas mehr sein als bloß simpler Korporal; es vermögen dieses sehr viele hochgebildete Leute nicht, es vermögen dieses nur eigentliche Christen. Alsbald entlud sich auch unseres Korporals Zorn, doch nicht über die Mutter, sondern zuerst über die verfluchten Bauern.
Das sei ein verfluchter Zwang, dem aber bald ein Ende gemacht werden würde, daß die Bauern ihre Häuser vermieten wollten, und gerade nur denen, welche ihnen anständig seien und schmeicheln könnten; wen Gott geboren werden lasse, der hätte ein Recht an eine Wohnung, und das sei eine verfluchte Ungerechtigkeit noch aus der alten Zwangzeit her, daß die einen Häuser hätten, die andern nicht; Gott hätte die Welt für alle geschaffen und nicht bloß für Großgrinde, Geizhälse und Gerichtsäße, polterte der Korporal.
»Aber Johannes, aber Johannes, schweig dr tusig Gottswille; du weißt nicht, wie leicht man sich versündigen kann für Zeit und Ewigkeit. Hast gehört, ich will mich ja leiden, der alte Gott lebt noch und wird mir ja schon helfen; es ging am Ende immer besser, als ich dachte.«
»Mutter, habt nicht Kummer, das versteht Ihr nicht, das ist nicht halb so bös«, antwortete der Sohn. »Aber verflucht ists, daß man immer die Hand im Sack haben soll, um Geizhunden und Gerichtsäßen ihren Reichtum zu mehren, ihnen alles wiedergeben muß, was wir mit saurem Schweiße ihnen abverdient haben. Das ists, warum wir nie zu was kommen. Haben wir ein paar Krönlein verdient, so ist ein Hund da und bellt sie uns ab, bald wegem Holz, bald wegem Zins, bald wegen diesem oder jenem.« »Deswegen bin ich doch kein Hund«, sagte Käthi traurig, »und habs dir ja gesagt, ich wolle mich leiden, dir nicht Ungelegenheit machen.« »Mutter, das geht Euch nicht an«, sagte Johannes, »Euch habe ich nicht gemeint. Wieviel hättet Ihr nötig?« »Wenns vier Taler wären, oder auch nur drei«, sagte die Mutter, die eigentlich an den ganzen Hauszins gedacht hatte, »so könnte ich es machen.« Jetzt, gegenüber dem aufbegehrischen Sohne, fielen ihr die Kartoffeln ein, von denen sie wohl etwas entbehren konnte, um daraus die überbleibenden drei und einen halben Taler zu bezahlen.
»Geld müßt Ihr haben, nur ists mir zuwider, daß ich es der Meisterfrau abfordern muß. Habt Ihr mich etwa bei ihr verklagt?« »Bewahre«, sagte Käthi. »Ich will sehen, wo sie ist«, sagte Johannes, »aber es wäre mir lieber, wenn Ihr mir ein andermal Bescheid machen ließet, statt selbst zu kommen. Das Gehen wird mir leichter als Euch, und mir ists lieber, sie stecke die Nase nicht auch noch in unsere Sache; sie hat sie schon zu viel an Orten, wo es sie nichts anginge.«
Als Johannes zur Bäurin gegangen war, seufzte Käthi: »Ach Gott, wie hat sich der doch geändert, ich muß mich fast fürchten vor ihm. Einen Kummer habe ich fortgetragen, zwei trage ich mit mir heim. So kommt es ihm nicht gut; aber ich will den lieben Gott Tag und Nacht bitten, daß er es ihm nicht anrechne, sondern ihn bekehre.«
Johannes erschien vor der Frau halb verlegen und halb zornig, akkurat wie einer, dessen Gewissen nicht ganz eingeschlafen ist, dem aber der Zeitgeist eine Art von Blendung fabriziert hat, so daß er seine Schuld großenteils an andern sieht, den Widerschein für die Sache selbst nimmt. Auf sein kurzes Gesuch um Geld antwortete sie: »Wenn du es der Mutter geben willst, so mußt du den Rest deines Jahrlohnes haben, besser kannst ihn nicht anwenden, aber groß ist er nicht mehr. Hast gerechnet, wieviel ich dir noch schuldig bin?« »Zwei Fünffränkler« (zwanzig Kreuzer weniger als fünf Gulden), sagte Johannes kleinlaut.
»Hör, Johannes, ich muß dir was sagen in Liebe und Ernst. Noch lange nicht Weihnacht, der Lohn so groß, hast ihn schon eingezogen, und gibst deiner Mutter wenig, sie muß fast allein dir dein einzig Kind erhalten. Sie hat es mir nicht gesagt, aber du weißt, ich habe meine Augen nicht hinten am Kopf, und Merks muß man mir nicht einschütten wie einer Kuh einen Trank. Aber denk, wenn es die Leute wüßten, was würden sie von dir halten, und wenn du noch einen Tropfen gutes Blut hast, so schämst du dich vor dir selbst. Sieh, statt zwei Taler will ich dir vier geben, zwei Trinkgeld, aber gib sie deiner Mutter! Jetzt sag der Mutter, sie solle kommen, es sei ein Kaffee bereit.« Es gramselte Johannes im Kopf, aber sein Dienst war gut und die Zeit schlecht; er faßte sich daher, dankte wenig und ging trotzig.
Käthi machte starke Komplimente, ehe sie sich zum Kaffee setzte; aber als sie einmal dran saß, da zitterte ihr das Herz vor Behagen, denn derselbe war sehr gut. Als der Kleine von Heimgehen hörte, begann er wüst zu tun, sagte, er möge nicht gehen, der Fuß tue ihm weh, er wolle dableiben. Käthi tröstete, wie sie konnte und mochte. Die Bäurin bot ihnen das Übernachten an, was aber Käthi ausschlug, weil sie nicht wüßte, wie ihr wäre des Nachts an einem fremden Orte. Dazu müsse sie morgens an eine Wäsche, da gäbe es einen Kreuzer zu verdienen, und das sei nicht zu versäumen. »Es wäre gut, es dächten alle so, darum will ich dich auch nicht aufhalten,« entgegnete die Frau. »Geh, schirre die Mähre,« sagte sie zu Johannes, »die hat wohl Zeit und in vergangener Woche wenig getan, und fahre ein Stück mit ihnen! Es ist mir sonst zuwider, am Sonntag die Rosse aus dem Stalle zu nehmen, es ist ihnen Ruhe geordnet so gut als dem Menschen; aber ich denke, hie und da eine Ausnahme, und nicht wegen Hochmut und Hoffart, sondern einer alten Frau zulieb, werde keine große Sünde sein.« »Die Mähre ist nicht gut beschlagen und das Wägeli nicht gesalbet,« sagte Johannes. »Das Wägeli schmier ein, der Mähre ziehe die Eisen ein wenig an, und wenn was fehlt, so sags ein andermal zu rechter Zeit und nicht erst, wenn man die Sache brauchen will,« sagte die Bäurin unwillig.
Johannes hätte gerne noch was gesagt, allein er kannte den Ton und ging.
Als Käthi das Wägeli besteigen wollte, sah man wohl, daß sie dasselbe nicht in der Übung hatte. Sie wußte nicht recht, sollte sie der Mähre über den Kopf steigen oder von unten herauf auf den Sitz kommen. Als man sie endlich an die rechte Stelle gebracht hatte, gabs Mühe, ehe man sie oben hatte, und als sie oben war, seufzte sie schwer auf: »Ach Gott, wenn ich nur wieder unten wäre!«
Der Kleine hatte große Freude am Fahren und an der Mähre, sein Geplauder hinderte den Korporal am Loslassen seiner Galle. An einer einsamen Stelle der Straße hielt Johannes, von wo sie noch eine gute halbe Stunde bis nach Hause zu gehen hatten. Es kostete viele Mühe wieder, ehe Käthi den Boden ergriffen hatte. Unterdessen hatte der Sohn aus dem Kasten des Sitzes ein Säcklein genommen und sagte: »Hätts bald vergessen, die Frau hats hineingetan für Euch, hätte es auch können bleiben lassen; aber sie möchte die Gute machen und man soll nicht merken, wer sie ist, und denen nicht glauben, wo es sagen können. Adieu«, schloß er und hörte nicht den Dank der Mutter und alle die Aufträge, welche sie ihm nachrief, ebenfalls nicht. Eine Handvoll dürre Äpfelschnitze, welche im Säcklein waren, tröstete Johannesli über die davonsprengende Mähre und machte ihn recht liebenswürdig, solange er Äpfelschnitze zu essen hatte.
Unterdessen war von der Aare her ein dichter Nebel, den man mit dem Messer hätte schneiden können, einer ungeheuren Schlange gleich das Land herauf gekrochen, hatte sich die Emme herauf links und rechts in die Täler hineingewunden. Dunkel, ja finster ward es auf Erden, unheimlich, und Angst kam über unsere Wanderer. Die Angst fängt innerlich an, dann kriegt sie Augen, dann sieht sie Gespenster, dann schreit sie, dann läuft sie, wenn sie nämlich noch die Beine rühren kann. Erst schwiegen beide, dann begann der Junge zu jammern über Nacht und Nebel und daß sie den Weg nicht finden würden.
Da Käthi nicht rennen konnte, begann sie zu beten, und zwar stark, und obendrein machte sie noch das Kreuz, so viel sie konnte. Sie hatte einmal gehört, das sei bsunderbar gut gegen die bösen Geister. Da niemand kam, niemand sie nahm, erholten sich beide langsam; der Schlotter verließ sie jedoch nicht, mit Beben gingen sie weiter. Bekanntlich streckt sich die Zeit einem Menschen, welcher Angst hat, unendlich, darin ist sie ähnlich dem Golde. Jeder Schritt schien ihnen eine Viertelstunde lang, es schien ihnen daher, sie sollten längst zu Hause sein, und rundum schien ihnen alles fremd; sie mußten verirrt sein oder verhext, eins von beiden. Wohin sollten sie sich wenden in der trüben Nebelnacht? Und das Ding wollte kein Ende nehmen, immer lebendiger ward der Nebel und scheußlicher, eine Ewigkeit glaubten sie gewandert zu sein, und nirgends eine Spur eines Fetzleins bekannter Welt! Schon redeten sie davon, das Beste wäre, wenn sie ein trocken Plätzlein fänden, da zu bleiben und den Kopf zu verhüllen; erleiden möchten sie es wohl, dieweil es so kalt noch nicht sei. Da glaubte Käthi was Helleres zu sehen, einen bessern Weg. »Komm, besser links wollen wir gehen«, sagte sie zu Johannesli, und kaum hatte sie das gesagt, plumps, so lag sie im Wasser, stieß einen greulichen Schrei aus, und Johannesli, als er die Großmutter plumpsen hörte, schrie noch viel greulicher, denn an natürliches Wasser dachten beide nicht. Dazu färbte sich vor ihnen der Nebel rot, ward ganz wie Feuer, und mitten im Feuer sahen sie noch eine Flamme, und die Flamme kam näher und näher; Käthi konnte vor Schreck nicht aus dem Bache und betete und bekreuzte sich immer heftiger, und Johannesli tat ebenso, und jetzt kriegte die Flamme noch eine Stimme und rief: »Wo seid ihr?« Da war ihnen nicht mehr zu helfen. »Mein Gott, so gebt doch Antwort, wo seid ihr?« riefs wieder.
Das Wort »Mein Gott« kam über sie wie das Wort Gnade über einen armen Sünder, welcher schon einen Fuß in der Hölle hat. Ein guter Geist wars also, der da aus der Flamme sprach, und da er noch näher kam, erkannten sie ihn. Es war ein Geist, der einstweilen noch Fleisch und Blut hatte, es war Andrese Anne Bäbi, welche sagte, sie hätte schon lange nach ihnen gebanget, die Laterne angezündet, um ihnen entgegenzugehen, und, als sie hätte schreien hören, gleich gedacht, daß sie es seien. »Sag um Gotteswillen, wo sind wir, wie konntest du uns finden?« frug Käthi. »Aber mein Gott, Mutter, was ist mit Euch?« frug Andrese Anne Bäbi und konnte sich nicht erwehren, an ein Gläschen zu viel zu denken, »Ihr seid ja daheim, nicht zwanzig Schritte weit steht Euer Häuschen.« »Nein, aber nein«, sagte Käthi, »daheim sein und es nicht wissen, das ist mir doch noch nie begegnet! Jetzt weiß ich, was Verhexen ist: laufen und immer laufen, laufen eine Ewigkeit lang, und nicht heimkommen können! Du mein Gott, was soll das wohl zu bedeuten haben, bös Wetter oder gar Krieg?« »Kommt, Mutter, heim und geht ins Bett, daß Ihr wieder erwarmen könnt! Unterdessen will ich Euch Kaffee machen oder Tee, wenn Ihr glaubt, der mache Euch besser.« »Du denkst doch nicht, Meitschi, daß ich zu viel getrunken! Nicht ein Tropfen Wein oder sonst was Hitziges kam heute über meine Zunge; aber wenn du erlebt hättest was wir, Meitschi, dann dächtest du nicht mehr an einen Rausch, dann wüßtest du, was Ungeheuer sind und was verhexet sagen will. Was ist wohl für Zeit? Es wird bald Mitternacht sein oder doch zehne?« »E aber, was denkst, Mutter, nicht vor langem hat es sieben geschlagen drüben an der Kirche, halb achte ists noch nicht.« »Aber nein, aber nein, war das möglich«, sagte Käthi, »und sind wir doch gelaufen, es dünkte mich, viel, viel Stunden lang, und jetzt noch nicht achte!« Das war ein sicherer Beleg der Schrecken, die sie erlebt, und daß sie verhext gewesen.
Wem es so recht weh geworden ums Herz in der Fremde, der erst weiß, was die Heimat ist, der geht nicht mehr in die Fremde, wo eine Angst ihn ergriffen hatte, als ob von dort kein Weg zum Himmel führe.
Ähnlich war Käthi und dem Kleinen, als sie vom Bache sich losgemacht, des Häuschens Schwelle ergriffen hatten und daheim saßen, behaglich, wohlig, vor ihnen ihr Tisch, hinter ihnen ihr Bett. Ach Gott, solch Glück zu erleben hatten sie nicht mehr gehofft, und jetzt saßen sie, seit Käthi andere Strümpfe angezogen, im Trocknen, und zwar daheim, und jetzt kam Andrese Anne Bäbi mit warmem Kaffee, stellte denselben vor sie auf den Tisch; hinter ihnen wartete das warme Bett, in demselben süße Ruhe für viele Stunden und am Morgen ein Erwachen mit dem seligen Bewußtsein, daheim zu sein, daheim bleiben zu können. Daheim bleiben zu können, ist doch immer das Schönste für alle, welche Ruhe gefunden haben für ihre Seele. Und all diese Wonne und das Glück, zu begreifen, was Daheimsein sei, hatten sie mit einer Stunde Angst erkauft.
Dem Weltmeer entronnen, war Käthi glücklich am Gestade ihrer Hütte gelandet, vor den Gefahren der Welt geborgen, und so bald wage sie sich nicht mehr so weit hinaus, sagte sie, es sie denn, man trage sie hinaus, und der Kleine werde einstweilen der Welt auch satt sein. Bei jedem Schlucke Kaffee sagte sie, wenn sie ihr Kacheli absetzte: »Eh gottlob, daß wir wieder daheim sind! Oh, es weiß kein Mensch, wie wohl es einem daheim ist, bis man fort gewesen ist und geglaubt hat, man komme nie mehr heim!« Glücklich ist, wer vom Reisen als die beste Beute den Spruch heimbringt: Gottlob, daß ich wieder heim bin. Und als am folgenden Morgen Käthi erwachte, war wieder das Erste, was sie sagte: »Ach gottlob, daß ich wieder daheim bin!«