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Der Geschichtsfreund

Ein anderer Herr suchte immer gern Rechtfertigung in den Tatsachen der Geschichte. Wenn ihn die Lust ankam, irgend etwas zusammen zu schwätzen, befahl er rasch einem dafür geeigneten Menschen:

»Jegorka, geh, klaub' mir passende Tatsachen aus der Geschichte heraus, zum Beweise, daß sie sich nie wiederholt. Und umgekehrt auch …«

Jegorka war sehr gerissen und klaubte flink alles zusammen. Der Herr schmückte sich mit historischen Tatsachen, je nachdem wie die Umstände es erforderten; er bewies alles, was zu beweisen war, und war einfach unverwundbar.

Er war aber nebenbei auch ein unzufriedener Nörgler. Zu einer gewissen Zeit waren alle Menschen bei uns unzufriedene Nörgler und erzählten sich gegenseitig sehr frech:

»Die Engländer haben ihr Habeas Corpus, und wir haben nur behördliche Verfügungen!«

Und sie höhnten mit viel Scharfsinn über diesen Unterschied zwischen den beiden Völkern.

Sie erzählten einander solche Dinge, ließen dann ihr bürgerliches Weh fahren, setzten sich hin und spielten Karten bis zum dritten Hahnenschrei. Als die Hähne den Morgen kündeten, befahl der Herr:

»Jegorka, klaub' mir etwas ganz Besonderes heraus, was dem Augenblick entspricht!«

Dann stellte sich Jegorka in Positur, hob den Finger und rezitierte vielsagend:

»Im heiligen Rußland krähn die Hähne schon,
Im heiligen Rußland graut der Morgen bald …«

»Richtig!« sagten die Herren. »Unbedingt, – es muß Tag werden.«

Und gingen zur Ruhe …

Also gut. Aber plötzlich wurde das Volk sehr unruhig. Der Herr bemerkte es und fragte:

»Jegorka, weshalb murrt das Volk?«

Jegorka meldete sehr befriedigt:

»Das Volk verlangt ein menschliches Leben …«

Da ward der Herr stolz:

»Aha! Wer hat das immer schon gesagt? Ich habe das gesagt. Fünfzig Jahre lang haben meine Vorfahren und ich gepredigt, es sei Zeit für ein menschliches Leben. Was?«

Und er kam in Eifer und hetzte Jegorka dauernd umher.

»Klaub' mir Tatsachen aus der Agrargesetzgebung in Europa … aus den Evangelien, über die Gleichheit der Menschen … aus der Kulturgeschichte, über die Entstehung des Privateigentums … Flink!«

Jegorka freute sich. Schweißbedeckt rannte er herum. Alle Bücher zerriß er, nur die Einbände blieben übrig. Haufenweise schleppte er dem Herrn anregendes Beweismaterial herbei. Der Herr belobte ihn:

»Gib dir rechte Mühe! Wenn wir erst die Konstitution haben, mach' ich dich zum Redakteur einer liberalen Zeitung.«

Und er wurde sehr dreist und redete persönlich vor ganz vernünftigen Bauern:

» Dann gab es noch«, sagte er, »die Gracchen in Rom … Und in England … In Deutschland … In Frankreich … Und das war alles historisch bedingt. – Jegorka – Tatsachen her!«

Er bewies an der Hand von Tatsachen, daß jedes Volk die Pflicht hat, nach der Freiheit zu streben, – auch wenn die Obrigkeit nicht danach strebt.

Die Bauern freuten sich natürlich und brüllten:

»Gehorsamsten Dank!«

Alles verlief sehr gut und freundschaftlich, in christlicher Liebe und in gegenseitigem Vertrauen. Aber plötzlich fragten die Bauern:

»Und wann gehen Sie weg?«

»Weg? Wohin?«

»Weg von hier.«

»Weg von wo?«

»Von unserm Land.«

Und sie lachten über den sonderbaren Kauz. Alles versteht er, nur gerade das Allereinfachste kann er nicht begreifen!

Sie lachten. Aber der Herr war böse …

»Erlaubt mal!« sagte er. »Warum soll ich denn weggehen, wenn das Land doch mir gehört?«

Aber die Bauern glaubten ihm nicht.

»Wieso gehört es dir? Du hast doch eben selbst gesagt, daß es nur Gott gehört, und daß noch vor Jesus Christus etliche Gerechte das schon wußten.«

Er verstand sie nicht, und sie verstanden ihn nicht. Der Herr gab wieder Jegorka einen Rippenstoß:

»Jegorka, lauf, klaub' mir aus allen Geschichtsbüchern …«

Aber Jegorka antwortete ihm in dreistem Tone:

»Ich habe alle Geschichtsbücher in Beweise für das Gegenteil zerrissen.«

»Das ist ja gelogen, du frecher Nörgler.«

Aber es war doch wahr. Der Herr lief in seine Bibliothek und sah, daß von den Büchern nur noch die leeren Deckel und Rücken da waren. Er geriet ordentlich in Schweiß bei dem Anblick und rief tief bekümmert seine Vorfahren an:

»Wer hat euch bloß auf den Gedanken gebracht, so einseitig Geschichte zu machen? Da habt ihr was angerichtet, ächma! Was ist das für eine Geschichte, zum Teufel?«

Die Bauern blieben bei der alten Leier:

»Du hast uns das so wunderschön bewiesen,« sagten sie, »also jetzt mach', daß du fortkommst. Sonst jagen wir dich weg …«

Jegorka aber ging ganz zu den Bauern über, und wenn er den Herrn traf, schnaubte er sogar los:

»Habeas Corpus!! Jawohl … Libera-al!! Jawohl …«

Es war ganz schlimm. Die Bauern fingen an, Lieder zu singen, und fuhren vor lauter Freude einen Heuschober des Herrn in ihre eigenen Höfe ein.

Da, plötzlich, fiel dem Herrn ein, daß er noch etwas in Reserve hatte. Im Zwischengeschoß bei ihm saß seine Urgroßmutter und wartete auf den unausbleiblichen Tod. Sie war schon so steinalt, daß sie alle menschlichen Worte vergessen hatte, – sie konnte nur noch sagen:

»Nichts gibt's …«

Seit dem Jahre 1861 1861 – das Jahr der Bauernbefreiung konnte sie nichts anderes mehr sagen.

Er eilte zu ihr, in großer Erregung der Gefühle, sank ihr in kindlicher Ehrerbietung zu Füßen und rief:

»Mutter der Mütter, du bist die lebende Geschichte …«

»Nichts gibt's …«

»Ja aber – was soll ich tun?«

»Nichts gibt's …«

»Sie werden mein Hab und Gut plündern? …«

»Nichts gibt's …«

»Soll ich gegen meinen inneren Wunsch den Gouverneur benachrichtigen?«

»Nichts gibt's …«

Er gehorchte der Stimme der lebenden Geschichte und sandte im Namen der Urgroßmutter ein rührendes Telegramm um Hilfe. Er selbst trat zu den Bauern hinaus und verkündete:

»Ihr habt die Alte erschreckt. Sie hat nach Soldaten geschickt. Seid aber ganz ruhig, euch geschieht nichts; ich gestatte nicht, daß euch die Soldaten etwas tun.«

So kamen also dräuende Krieger zu Rosse angesprengt. Es war mitten im Winter, die Pferde waren unterwegs sehr heiß geworden und zitterten jetzt; Reif setzte sich an. Dem Herrn taten die Pferde leid, und er brachte sie bei sich auf dem Gutshof unter, – er brachte sie bei sich unter und sprach zu den Bauern:

»Das Heu, das ihr nicht ganz berechtigterweise bei mir weggeholt habt, das bringt rasch zurück, für die Pferdchen, – die Tiere haben ja doch keine Schuld, nicht wahr?«

Das Militär war hungrig, es verzehrte alle Hähne im Dorfe und stellte sich still um den Herrn herum auf. Jegorka ging natürlich schleunigst wieder auf die Seite des Herrn über, und der Herr benutzte ihn wie früher für seine Geschichtsforschungen: er kaufte neue Bücher und befahl alle Tatsachen schwarz zu überschmieren, die zum Liberalismus verleiten konnten, und denjenigen, die man nicht überschmieren konnte, einen neuen Sinn beizulegen.

Was machte das Jegorka groß aus? Er war zu allem imstande: rein aus guter Gesinnung befaßte er sich jetzt sogar mit Pornographie. Aber ein heller Punkt blieb doch in seiner Seele. Während er ängstlich und gewissenhaft das Geschichtsbuch verschmierte, schrieb er Klagegedichtchen, die er unter dem Pseudonym B. K. – das bedeutete »Besiegter Kämpfer« – drucken ließ:

»O Morgenbote, roter Hahn!
Weshalb verstummt' dein stolzer Ruf?
Ich sehe, abgelöst hat dich
Der finstere Kauz.

Die Zukunft wünscht nicht unser Herr,
Vergangenheit herrscht wieder jetzt …
Gebraten wurdest du, o Hahn,
Und dann – verspeist …

Wann lockt's zum Leben wieder uns?
Und wer wird uns am Morgen krähn?
Ach, wenn es keinen Hahn mehr gibt, –
Verschlafen wir!«

Die Bauern aber beruhigten sich natürlich rasch, lebten friedlich weiter und machten aus Langerweile zotige Liedchen:

»Äch, … Mutter!
Das Frühjahr kommt, –
Stöhnen wir ein Weilchen
Und verhungern dann!«

Ja, – die Russen sind ein lustiges Volk …


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