Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Fischer und das Meer

Der alte Giovanni Tuba hatte schon in früher Jugend das Festland um des Meeres willen im Stiche gelassen. Diese weite, blaue Fläche, die bald still und zärtlich blickt wie ein sanftes Mädchen, bald wild und gärend stürmt wie das entzündete Herz eines leidenschaftlichen Weibes; diese Wüste, die eine Welt von sonnenlosen Geschöpfen in ihrem Schoße birgt, während sie droben im lebendigen, goldenen Licht nur strahlende Schönheit und bestrickenden Glanz gebiert; dieses arglistige Meer, das ewig etwas Märchenhaftes vorgaukelt und unwiderstehlich in seine Fernen lockt, hat viele schon dem steinigen, stummen Festlande entrissen, das ständig befruchtendes Naß vom Himmel und schöpferische Arbeit vom Menschen verlangt und ach! so wenig Freude und Lust dafür schenkt.

Noch als Knabe hatte Tuba bei der Arbeit im Weinberge, der von grauen Mauern geschützt, zwischen Feigen- und Olivenbäumen, im dunklen Grün der Apfelsinen und im Gewirr der Granaten am Abhang des Berges sich hinzog, inmitten der grellen Sonnenstrahlen, der dampfenden Erde und der heiß duftenden Blumen, mit geweiteten Nüstern auf das blaue Meer hinausgestarrt. Er blickte dorthin wie ein Mensch, unter dessen Füßen der Boden schwand; die salzige Seeluft umnebelte ihm die Sinne, er wurde zerstreut, faul und ungehorsam, wie alle, die vom Meere umstrickt und in die Ferne gelockt werden, wie alle, die mit ganzer Seele das Meer liebgewonnen haben …

An Feiertagen, in der ersten Morgenfrühe, wenn die Sonne noch nicht hinter den Bergen bei Sorrento ganz emporgestiegen und der Himmel rosig angehaucht war wie eine Pfirsichblüte, jagte Tuba, zerzaust wie ein Schäferhund, wie ein Bündel knochenloser, elastischer Muskeln von Stein zu Stein springend, mit Fischangeln auf dem Rücken, den Berg hinunter, dem Meere zu. Mit seinem breiten, sommersprossigen Gesicht lachte er ihm von weitem entgegen, wenn durch den süßen Atem der erwachenden Blüten das scharfe Aroma, das leise Rauschen der Wellen zu ihm drang, die dort unten gegen das Ufergestein schlugen und wie Nymphen lockten …

Nun hängt er über dem Rand des rötlichgrauen Felsens, baumelt mit den bronzefarbenen Beinen über dem Abhang und senkt die pflaumengroßen, schwarzen Augen in das durchsichtige, grüne Naß. Welch' wunderbare Welt, schöner als alle Märchen, sieht er durch dieses flüssige Glas! Goldigroten Seetang sieht er auf dem Meeresgrunde, zwischen Felsenriffen, die mit Teppichen bedeckt scheinen, und aus dem wirren Gesträuch des Seetangs schwimmen buntfarbige Violen, diese lebenden Blüten des Meeres, empor; wie trunken kommt der Barsch hervor, mit stumpfen Äuglein, fein gezeichneter Nase und einem blauen Fleck auf dem Bauche; Goldfische jagen vorüber, kleine schwarze Fischlein, lustige Teufelchen, durchschneiden die Wogen, und gleich silbernem Geschirr glänzen die Meerbrassen und anderen Schönheiten der Meerestiefe – wer kennt ihre Zahl! – in der Sonne; sie sind alle schlank und durchtrieben und bevor sie den Wurm am Angelhaken schlucken, zwicken und rupfen sie ihn mit ihren kleinen Zähnchen von allen Seiten.

Wie Vögel in der Luft schwimmen Flohkrebse in diesem hellen, sonnigen Wasser umher. Einsiedlerkrebse kriechen auf den Felsenriffen, ihre buntgeschmückten Behausungen hinter sich herschleppend; langsam bewegen sich die blutroten Meeressterne fort; stumm schaukeln die Glocken der lilablauen Medusen; hie und da streckt sich der bösartige, mit scharfen Zähnen versehene Kopf einer Muräne zwischen dem Gestein hervor; ein bunter, rotgesprenkelter Schlangenleib ringelt sich, gleichsam eine Hexe im Märchen, auf dem Felsen; noch furchtbarer und grausiger aber ist das Bild, wenn plötzlich ein grauer Seepolyp wie ein schmutziger Lappen auftaucht und einem Raubvogel ähnlich sich auf einen Punkt hinstürzt; daneben schwimmt in gemächlichem Tempo eine Languste, ihre langen Bartfäden bewegend; noch eine Unzahl anderer Wunder lebt in diesem durchsichtigen Wasser, unter einem Himmel, ebenso klar, aber noch viel öder als das Meer.

Die See aber atmet wie ein lebendiges Wesen, gemessen hebt und senkt sich ihre blaue Brust. Die grünen, weißgekrönten Wellen schlagen gegen den Felsen, sie spielen, plätschern und wollen bis an die herabhängenden Beine des Burschen hinaufspringen; zuweilen gelingt es ihnen, Tuba zuckt zusammen, lächelt, und die Wellen lachen, laufen gleichsam erschreckt zurück, um sich gleich wieder auf den Felsen zu stürzen. Ein Sonnenstrahl senkt sich tief, die Brust der Wellen durchschneidend, in das Wasser hinein und bildet einen hellglänzenden Lichttrichter. Die Seele schläft und träumt hier einen süßen Traum; sie denkt nicht, sie wünscht nichts, sie nimmt nur stumm und freudig alles ringsum in sich auf; auch in ihr wogen lichtdurchtränkte Wellen auf und ab, und allumfassend ist sie schrankenlos frei wie das Meer.

So brachte Tuba seine Feiertage zu, später zog es ihn aber auch an Werktagen hinaus, denn wenn der Mensch sein Herz an das Meer verschenkt, wird er selbst zu einem Teilchen von ihm. Schließlich überließ Tuba sein Stückchen Land dem Bruder und zog mit einer Schar Genossen, deren Sinn gleichfalls in die Ferne ging, an die Küsten Siziliens, um dort Korallenfischerei zu treiben. Es ist eine schwere, aber herrliche Arbeit; man läuft zehnmal täglich Gefahr zu ertrinken, aber wieviel Schönes sieht man auch, wenn man aus den blauen Wellen das schwere Netz emporzieht, halbkreisförmig, mit eisernen Spitzen am Rande, in dem sich, wie Gedanken im Schädel, Lebewesen mannigfachster Form und Farbe regen, und, das begehrte Geschenk des Meeres, die rosigen Verästelungen der kostbaren Korallen emporragen.

So ward für immer dem Festlande ein Mensch entrissen, den das Meer in seine Fesseln geschlagen hatte. Auch die Frauen liebte er nur wie im Traume, kurz und wortlos, denn er wußte nur darüber zu sprechen, was ihm wohl vertraut war, – über Fische und Korallen, über das Spiel der Wellen und die Tücken des Windes, über die großen Schiffe, die in weite, unbekannte Fernen hinauszogen. Er war sanftmütig auf dem Festlande, ging vorsichtig und argwöhnisch umher, war den Menschen gegenüber stumm wie ein Fisch, betrachtete alles mit den scharfen Augen des Fischers, der gewohnt ist, verräterische Tiefen vor sich zu sehen und ihnen zu mißtrauen. Auf dem Meere jedoch zeichnete er sich durch eine stille Heiterkeit aus, er war aufmerksam zu den Kameraden und flink wie ein Delphin.

Wie geschickt aber auch der Mensch sein Leben auserwählt hat, es währt nicht länger als einige Jahrzehnte. Als der mit Salzwasser durchtränkte Tuba die Achtzig überschritten hatte, gehorchten ihm die Arme nicht mehr, – sie waren vom Rheumatismus gelähmt und hatten genug gearbeitet! Die gekrümmten Beine hielten kaum den gebückten Körper aufrecht. Traurig betrat der verwitterte Greis seine Insel und stieg den Berg hinauf, zu der Hütte seines Bruders, zu dessen Kindern und Enkeln, die viel zu arm waren, um gut zu sein. Jetzt konnte der alte Tuba ihnen nicht mehr wie früher schmackhafte Fische zum Geschenk bringen, diese Zeit war nun vorbei.

Dem Alten fiel der Aufenthalt unter diesen Leuten immer schwerer, die allzu aufmerksam jeden Bissen Brot zählten, den er mit seiner krummen braunen Tatze in den zahnlosen Mund schob. Bald sah er ein, daß er hier überflüssig war. Trübsal ergriff ihn, sein Herz zog sich in unbekannter Trauer zusammen, noch tiefer gruben sich die Falten in seine Haut ein, und in den Knochen sagte sich ein fremder Schmerz an. Tagelang, vom Morgen bis zum Abend, saß er auf den Steinen vor dem Eingang der Hütte und blickte mit seinen alten Augen auf das leuchtende Meer hinaus, wo sein Leben zerschmolzen war, auf dieses blaue, funkelnde Meer, schön wie ein Traum.

Fern von ihm lag das Meer, und schwer war es für den Alten, zur Küste hinabzusteigen. Aber eines Tages faßte er den Entschluß und kroch in den stillen Abendstunden wie eine zertretene Eidechse über die scharfen Steine zum Meer hinab. Als er die Wellen erreichte, begrüßten sie ihn mit vertrautem Gemurmel, – freundlicher als die Menschen, – und schlugen plätschernd an das Ufergestein. Der Alte sank auf die Knie, blickte hinauf zum Himmel und in die weite Ferne, betete kurz und wortlos für die Menschen, die ihm sämtlich fremd geblieben waren, zog seine zerfetzten Kleider aus, die nie zu ihm gepaßt, schüttelte den grauen Kopf, ging ins Wasser hinein und schwamm, die Augen zum Himmel gerichtet, in die Ferne, wo der dunkelblaue Himmelvorhang den schwarzen Samt der Meereswellen berührte, und die Sterne so niedrig hingen, daß man sie scheinbar mit den Händen ergreifen konnte.

In stillen Sommernächten ist das Meer ruhig wie die Seele eines Kindes, das von den Spielen des Tages ermüdet ist; kaum atmend schlummert es und sieht gewiß wunderbare Traumbilder vorüberziehen. Schwimmt man nachts in dem schweren warmen Wasser, springen blaue Funken unter den Händen empor, ein blauer Flammenkreis breitet sich ringsum aus, und die Seele des Menschen schmilzt langsam in diesem Feuer, das sanft und zart ist wie ein Märchen der Mutter.


 << zurück weiter >>