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Der Unheimliche

Schon seit dem Morgen rauschte der Regen in Strömen herab, aber gegen Mittag versiegten die Wolken. Vorher eine dichte, dunkle Decke, wurden sie jetzt heller, durchsichtiger; der Wind zerriß sie in dunstige Fetzen und trieb sie aufs Meer hinaus; dort ballten sie sich wieder zu einer blaugrauen Masse zusammen und warfen einen dunklen Schatten auf das durch den Regen beruhigte Meer.

Im Osten ist der Himmel dunkel und von Blitzen durchzuckt, über der Insel aber strahlt in vollem Glänze die herrliche Sonne.

Wenn man von weitem, vom Meere her, auf die Insel schaut, so gleicht sie einer prächtigen Kirche an einem Feiertage: reingewaschen, mit bunten Blumen reichgeschmückt, mit schimmernden Regentropfen besät, wie Topase glänzen sie auf dem gelbgrünen, jungen Weinlaub, wie Amethyste auf den Trauben der Glyzinien, wie Rubinen auf dem Purpur der Geranien und wie Smaragde im Gras, im dichten Grün der Büsche und auf dem Laub der Bäume.

Es ist so still, wie immer nach einem Regen; kaum hört man das leise Raunen des Baches, der sich unsichtbar zwischen den Steinen und unter den Wurzeln der Wolfsmilch, der Brombeersträucher und der duftenden, zerzausten Waldrebe hinschlängelt. Unten rauscht sanft das Meer.

Hoch empor ragen die goldenen Pfeile des Ginsters, sie schwanken leise unter der Last der Tropfen, die sie lautlos von ihren seltsam geformten Blüten abschütteln.

Auf saftig grünem Hintergrund wetteifern die hellvioletten Glyzinien mit den blutroten Geranien und Rosen, der rötlich-gelbe Brokat der Wolfsmilch mit dem dunklen Samt der Schwertlilien und Levkojen; alles ist so hell und farbig, man hat das Gefühl, daß die Blumen singen, wie Geigen, Flöten und leidenschaftliche Celli.

Die feuchte Luft ist würzig und betäubend wie alter, starker Wein.

 

Unter dem grauen Felsen, der durch Explosionen zerrissen und zerborsten und in den Spalten mit fettglänzendem Eisenoxyd überzogen ist, zwischen den gelben und grauen Steinen, die den säuerlichen Geruch des Dynamits ausströmen, sitzen vier Steinbrecher und essen; es sind kräftige Männer in feuchtgeschwitzten Lumpen.

Bedächtig und mit Appetit essen sie aus einer großen Schüssel das feste Fleisch des mit Kartoffeln und Tomaten in Olivenöl gebratenen Tintenfisches und trinken der Reihe nach direkt aus der Flasche den roten Wein.

Zwei von ihnen sind rasiert und sehen sich ähnlich wie Brüder, ja sogar wie Zwillinge; der dritte ist klein, einäugig und krummbeinig und erinnert mit seinen hastigen Bewegungen an einen alten, gerupften Vogel; der vierte ist ein breitschulteriger, bärtiger Mensch in mittleren Jahren mit einer gebogenen Nase und stark ergrautem Haar.

Er bricht große Stücke vom Brot ab, mit denen er seinen vom Wein feuchten Schnurrbart glättet, dann steckt er sie in seinen dunklen Mund und sagt, während er gleichmäßig die behaarten Kinnbacken bewegt:

»Das sind Märchen, Lügen! Ich habe nichts Schlimmes getan …«

Seine braunen Augen unter den dichten Brauen blicken unlustig, spöttisch; seine Stimme ist heiser und schwer, er redet langsam und ungern. Der Hut, das behaarte Räubergesicht, die großen Hände, der blaue Anzug sind mit weißem Steinmehl bestäubt; er wird es wohl sein, der die Löcher für die Dynamitladungen in den Felsen bohrt.

Seine drei Kameraden hören aufmerksam, ohne ihn zu unterbrechen, zu, aber sie heften ihre Blicke auf ihn, als wollen sie sagen:

»Weiter!«

Und er erzählt, während er seine ergrauten Brauen bewegt:

»Dieser Mensch, er hieß Andrea Grasso, kam wie ein Dieb nachts zu uns ins Dorf; er sah aus wie ein Bettler, sein Hut hatte dieselbe Farbe wie seine Schuhe und war ebenso zerrissen. Er war gierig, schamlos und grausam. Sieben Jahre später zogen alte Leute als erste den Hut vor ihm, und er nickte kaum mit dem Kopf. Und auf vierzig Meilen im Umkreis waren alle seine Schuldner.«

»Ja, solche Leute gibt es,« sagte der Krummbeinige und schüttelte seufzend den Kopf.

Der Erzähler blickte ihn an und fragte spöttisch:

»Bist du ihnen schon begegnet?«

Der Alte machte schweigend eine Handbewegung; die Rasierten lächelten beide zugleich; der mit der Adlernase trank einen Schluck Wein und fuhr fort, während er mit den Augen den Flug eines Falken im blauen Himmel verfolgte.

»Ich war dreizehn Jahre alt, als er mich und einige andere anstellte, um Steine für das Haus, das er sich bauen ließ, zu schleppen. Er ging mit uns grausamer um als mit Tieren, und als mein Freund Luchino ihm das sagte, antwortete er: ›Der Esel gehört mir, du bist mir aber ganz fremd, warum soll ich Mitleid mit dir haben?‹ Diese Worte trafen mich bis ins Innerste, und ich begann ihn aufmerksamer zu beobachten. Ich sah, daß er mit allen brutal und zynisch umging; ob es ein alter Mann war oder eine Frau, das war ihm ganz gleich. Und wenn achtbare Leute ihm sagten, daß das schlecht sei von ihm, so antwortete er lachend: ›Als ich arm war, hat auch mit mir keiner Mitleid gehabt.‹ Er verkehrte nur mit den Priestern, den Karabinieri und den Polizeibeamten; die anderen Leute sahen ihn nur in den Tagen ihrer bittersten Not, wenn er mit ihnen machen konnte, was er wollte.

»Ja, solche Leute gibt es,« wiederholte der Krummbeinige leise, und alle drei blickten ihn teilnahmsvoll an; einer der beiden Rasierten reichte ihm die Weinflasche; der Alte nahm sie, hob sie gegen das Licht und sagte, bevor er sie an die Lippen setzte:

»Ich trinke auf das heilige Herz der Madonna! –

Er pflegte oft zu sagen: ›Die Armen haben immer für die Reichen gearbeitet und die Dummen für die Klugen, und so soll es auch immer sein.‹«

Der Erzähler verzog den Mund zu einem Lächeln und streckte die Hand nach der Flasche aus, – sie war leer. Er warf sie achtlos auf die Steine, wo die Hämmer und die Hacken herumlagen und ein Stück Zündschnur sich wie eine Schlange am Boden ringelte.

»Mir – ich war ja noch so jung – und meinen Kameraden war es besonders schmerzlich, solche Worte zu hören: sie töteten alle unsre Hoffnungen und Wünsche auf ein besseres Leben. Einmal nun trafen mein Freund Luchino und ich ihn abends auf dem Felde, als er langsam dahinritt und sagten ihm höflich aber mit Nachdruck: ›Wir bitten Sie, besser zu den Menschen zu sein.‹«

Die Rasierten begannen laut zu lachen, auch der Einäugige lächelte ein wenig, und der Erzähler seufzte tief auf.

»Ja, natürlich, es war dumm! Aber die Jugend ist ehrlich Die Jugend glaubt an die Macht des Wortes. Ich werde euch sagen: die Jugend ist das Gewissen des ganzen Lebens.«

»Na und er?« fragte der Alte.

»Er schrie uns ziemlich tapfer an: ›Laßt das Pferd los, ihr Nichtsnutze!‹ Und er drohte uns beiden mit dem Revolver. Wir sagten ihm: ›Sie brauchen keine Angst vor uns zu haben, Grasso, Sie brauchen auch nicht so wütend zu sein, wir geben Ihnen ja nur einen Rat!‹«

»Das ist gut!« sagte einer von den Rasierten, der andere nickte zustimmend; der Krummbeinige preßte die Lippen zusammen und begann mit seinem krummen Finger aufmerksam einen Stein zu betasten.

Sie waren mit dem Essen fertig. Der eine begann mit einer dünnen Gerte die glasklaren Wassertropfen von den Grashalmen zu schlagen, der andere beobachtete ihn und reinigte sich inzwischen die Zähne mit einem dürren Halme. Es wurde immer trockener und heißer. Immer kürzer wurden die Schatten. Das Meer rauschte leise, und langsam fielen die ernsten Worte:

»Diese Begegnung hatte schlimme Folgen für Luchino. Sein Vater und sein Onkel waren Grassos Schuldner. Der arme Luchino wurde immer magerer, preßte seine Lippen fest zusammen, und seine Augen gefielen den Mädchen nicht mehr. ›Ach,‹ sagte er mir einmal, ›das haben wir damals dumm gemacht. Worte können nichts bewirken, wenn man sie einem Wolf sagt!‹ Mir fiel ein: ›Luchino ist imstande, ihn zu ermorden.‹ Es tat mir leid um den Burschen und seine liebe Familie. Und ich war doch ein einsamer und armer Mensch. Damals war gerade meine Mutter gestorben.«

Der Steinbrecher mit der Adlernase strich glättend mit seinen von Kalk ganz weißen Händen über seinen Bart, auf dem Zeigefinger seiner linken Hand glänzte ein heller Silberring, der sehr schwer zu sein schien.

»Meine Tat hätte für die Menschen sehr nützlich sein können, wenn ich sie bis zu Ende durchgeführt hätte, aber ich bin zu weichherzig. Als ich einmal Grasso auf der Straße traf, folgte ich ihm und sagte ihm kurz: ›Sie sind ein schlechter und habsüchtiger Mensch, es ist schwer für die Menschen, mit Ihnen zu leben; wenn Sie jemandem einen Stoß versetzen, so wird er vielleicht nach dem Messer greifen. Ich sage Ihnen: verlassen Sie uns, gehen Sie fort.‹ ›Du bist dumm, Kleiner!‹ sagte er, aber ich blieb hartnäckig. Er fragte lachend: ›Wieviel soll ich dir geben, damit du mich in Ruhe läßt, genügt dir eine Lira?‹ Das war sehr kränkend, aber ich beherrschte mich. ›Ich sage Ihnen, gehen Sie fort!‹ Ich ging an seiner linken Seite, Schulter an Schulter mit ihm. Ohne daß ich es merkte, hatte er sein Messer hervorgeholt und stieß es mir in die Seite. Aber mit der linken Hand kann es nicht so gefährlich werden, und so drang mir das Messer auch nur etwa zolltief in die Brust. Ich schleuderte ihn natürlich zu Boden und trat ihn mit den Füßen, so wie man es mit Schweinen tut. ›Du gehst also!‹ sagte ich zu ihm, als er auf dem Boden herumkroch.«

Die Rasierten blickten ihn mißtrauisch an und senkten die Augen. Der Krummbeinige saß gebückt da und knotete die Lederriemen seiner Schuhe zusammen.

»Am nächsten Morgen, als ich noch schlief, kamen die Karabinieri und führten mich zum Marschall, einem Gevatter des Grasso. ›Du bist ein ehrlicher Mensch, Ciro,‹ sagte er, ›und du wirst doch nicht leugnen, daß du diese Nacht Grasso ermorden wolltest.‹ Ich sagte, daß das nicht wahr sei, aber in solchen Sachen haben sie ja ihre eigenen Ansichten. Zwei Monate saß ich im Gefängnis bis zur Gerichtsverhandlung, und dann wurde ich zu einem Jahr und acht Monaten verurteilt. ›Gut,‹ sagte ich zu den Richtern, ›aber ich betrachte die Sache noch nicht als abgeschlossen!‹«

Er holte zwischen den Steinen eine noch ganz volle Flasche hervor, steckte ihren Hals zwischen seinen Schnurrbart und trank in langen Zügen: sein behaarter Adamsapfel bewegte sich gierig, seine Barthaare sträubten sich. Streng und schweigend beobachteten ihn drei Augenpaare.

»Es ist langweilig, davon zu sprechen,« sagte er, während er die Flasche den Kameraden weiterreichte und seinen bespritzten Bart glättete.

»Als ich ins Dorf zurückkehrte, sah ich bald, daß ich hier nicht bleiben durfte: alle hatten Angst vor mir. Luchino erzählte mir, daß das Leben im letzten Jahre noch schlimmer geworden sei. Der arme Kerl sah so trostlos aus wie ein halbverkohlter Baum. ›So, so,‹ dachte ich – und ging zu Grasso; er erschrak sehr, als er mich sah. ›So,‹ sagte ich, ›ich bin zurückgekehrt, jetzt mußt du gehen!‹ Er griff nach seinem Gewehr und schoß, aber es war nur mit Schrot geladen, und außerdem zielte er auf die Beine. Ich fiel nicht einmal hin. ›Wenn du mich auch getötet hättest, so wäre ich aus dem Grab zu dir gekommen, ich habe der Madonna geschworen, daß ich dich von hier vertreiben werde. Du bist halsstarrig, – und ich bin es auch.‹ Wir wurden handgemein, und ich brach ihm zufällig den Arm. Ich wollte es nicht, aber er ging als erster auf mich los. Leute liefen zusammen, ich wurde abgeführt. Diesmal saß ich drei Jahre und neun Monate im Gefängnis. Als die Frist abgelaufen war, redete mein Aufseher, der die ganze Geschichte kannte und mich sehr gern hatte, mir sehr zu, nicht wieder nach Hause zurückzukehren, sondern nach Apulien zu seinem Schwager zu gehen und mich bei ihm als Arbeiter zu verdingen; sein Schwager hatte dort sehr viel Land und einen Weinberg. Aber ich konnte mein Vorhaben natürlich nicht mehr ändern. Ich kehrte nach Hause zurück mit der festen Absicht, nichts Überflüssiges zu reden, denn ich hatte eingesehen, daß von zehn Worten neun überflüssig waren. Nur ein Gedanke erfüllte mich: ›Geh fort!‹ Es war Sonntag, als ich ins Dorf kam; ich ging direkt in die Kirche zur Messe. Grasso war auch dort, er bemerkte mich sofort, sprang auf und begann laut zu schreien: ›Dieser Mensch ist gekommen, um mich totzuschlagen, ihr Leute, der Teufel hat ihn nach meiner Seele geschickt!‹ Man umringte mich, ehe ich ihn auch nur berührt hatte, ehe ich ihm gesagt hatte, was ich wollte. Aber es war auch nicht mehr nötig, er sank auf die Steinfliesen, – der Schlag hatte ihn getroffen, seine ganze rechte Seite und seine Zunge waren gelähmt. Sieben Wochen später ist er gestorben … Das ist alles. Und die Leute erzählen solche Märchen von mir … sie sind sehr unheimlich, aber gar nicht wahr.«

Er verzog den Mund zu einem schwachen Lächeln, warf einen Blick auf die Sonne und sagte:

»Es ist Zeit anzufangen.«

Die drei Leute erhoben sich langsam und ohne Eile, der mit der Adlernase starrte die rotbraunen, fettglänzenden Felsspalten an und wiederholte:

»Wir wollen weiterarbeiten.«

Die Sonne steht im Zenit und hat alle Schatten verzehrt.

Die Wolken am Horizont haben sich auf das Meer gesenkt, dessen Fläche noch blauer und noch ruhiger geworden ist.


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