Friedrich Gerstäcker
Unter den Pehuenchen
Friedrich Gerstäcker

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12. Kapitel

Reiwald und der Doktor verbrachten eine elende Nacht; denn der Lärm der trunkenen Indianer, wenn er auch nie in Streit oder Zank ausartete, sondern vollkommen harmloser Natur blieb, wuchs doch mit jeder Stunde, und an Schlafen war fast nicht zu denken.

Bis gegen drei Uhr morgens dauerte das Gelage, das heißt, so lange hielt der Vorrat im Faß an, oder die Indianer würden die ganze Nacht fortgetrunken haben. Ein Teil der Rothäute konnte natürlich nicht mehr fortgeschafft werden; sie hatten sich so voll getrunken, daß sie liegen bleiben mußten, wo sie lagen, und man ließ sie liegen. Selbst der alte Kazike, der aber noch fest auf seinem Posten aushielt und sich sogar das Faß umdrehen ließ, ob er nicht ein letztes Glas herauspressen könne, schwankte auf sein dicht neben seinem Sitz bereitetes Lager, rollte sich in seinen Poncho und schnarchte im nächsten Augenblick, als ob es ihm die Brust zersprengen müßte.

Jetzt war Ruhe – selbst die Hunde hatten ihr rastloses Wandern aufgegeben und sich ihren Schlafplatz in der warmen Asche des ausgehenden Feuers zurechtgewühlt. Draußen heulte der Wind, schüttelte an dem Dach und pfiff durch die Äste der Waldbäume; aber damit allein begnügte er sich nicht lange, denn zuerst kamen einzelne große Tropfen mit schwerem Fall auf das Dach nieder – die ersten Vorboten der nahenden Regenzeit, und dann plötzlich goß ein Strom vom Himmel herunter, dem das den Sommer über getrocknete Dach nicht mehr Trotz bieten konnte, und die Flut erst langsam, dann immer rascher in das Innere der Hütte ließ.

In der Mitte hielt es sich noch so ziemlich dicht, da es dort steiler auflief, aber gegen die Seiten zu, wo es flacher wurde, saugte es das Wasser ein, und Reiwald fuhr erschreckt in die Höhe, als ihm plötzlich ein kalter Strahl auf die Stirn mit schweren Tropfen niederfiel und über sein Gesicht hinüberpritzte. Anfangs war er auch noch so im Schlaf, daß er selbst davon nicht munter wurde und nur den Kopf hin und her drehte; aber lange hielt er das nicht aus und rückte sich mit einem: »Großer Gott, was für ein Zustand!« etwas zur Seite – unter eine andere Traufe. Aber hier war die Grenze seines Bereiches, denn dort lag ihm ein Indianer, der schon in einer förmlichen Lache schwamm, quer im Weg. Er mußte aushalten, und durch seine halbe Betäubung auch unempfindlich gegen das Elend einer solchen Nacht gemacht, zog er sich endlich eins der Schaffelle über das Gesicht und ließ es regnen, so lange es wollte.

Und auch diese Nacht nahm ein Ende – die schrecklichste, wie Reiwald glaubte, die ein Mensch überstehen könne; der Tag brach an, und wenn auch die meisten Schläfer, noch regungslos und unfähig, sich zu bewegen, auf der Erde in den unglaublichsten Stellungen ausgestreckt lagen, so wurden doch die Haustiere lebendig und begannen ihr gewöhnliches Konzert.

Don Enrique war ebenfalls munter geworden. Er stand auf, sah sich um, warf seinen Poncho über und verließ das Haus, ohne mit seinen Reisegefährten ein Wort zu wechseln. Diese fanden auch nichts Außerordentliches darin, denn erstens konnten sie sich überhaupt nicht gut mit ihm verständigen, und dann wußten sie, daß er überhaupt nie mit einem Menschen sprach, wenn er nicht eben einen Auftrag zu geben oder etwas zu erfragen hatte. –

Der Kazike Kajuante schlief noch sanft und hatte auch, da das neue Trinkgelage für heute in der Hütte an der Lagune erst etwa um drei Uhr nachmittags beginnen konnte, gar nichts zu versäumen, als ein Indianer auf einem kleinen, kurzbeinigen Klepper vor der Hütte hielt und ihn zu sprechen verlangte. Er trug ein Stück Papier in der Hand und erklärte, Auftrag zu haben, es ihm selber zu übergeben.

Das war übrigens ein schweres Stück Arbeit, den alten Mann wachzubekommen, und die ganze Familie mußte sich daran beteiligen, würde es auch in der Tat heute morgen nicht unternommen haben, wäre das Papier nicht gewesen, das jedenfalls von der Regierung herrührte und den Frauen besonders stets etwas Unheimliches hatte. Das Papier sprach – es konnte Worte sagen, die in kleinen schwarzen Punkten und Strichen darauf standen, und je weniger sie selber imstande waren, sich einen Begriff von der Sache zu machen, desto ehrfurchtsvoller betrachteten sie ein solches Blatt, von dem man nie vorher wissen konnte, was es eigentlich brachte.

Kajuante betrachtete das Blatt, erst von innen, dann von außen, wo nur die Aufschrift stand: An den Kaziken Kajuante; dann drehte er es so, dann so herum, und als er endlich zu dem Resultat gekommen war, daß er nichts damit anfangen könne – denn vom Lesen hatte er natürlich gar keinen Begriff – sagte er: »Wo ist Cornelio? – Gut, daß wir den gerade hier haben. – Cornelio soll kommen und mir vorlesen.«

Jetzt mußte die Arbeit noch einmal von vorn beginnen, denn Cornelio – jener Dolmetscher, der gestern Don Enrique bei dem Kaziken eingeführt – und ein sogenannter Capitan de Amigos hatte ja ebenfalls weit mehr getrunken, als er vertragen konnte, und lag ausgestreckt auf dem Gesicht in der anderen Ecke, und als sie ihn endlich zur Besinnung brachten, blieb er auf der Erde sitzen, hielt sich seinen Kopf und stöhnte, daß es einen Stein hätte erbarmen können – und in dem Zustand sollte er lesen.

Er nahm endlich das Papier, das ihm der Kazike selber reichte; aber die Buchstaben tanzten ihm vor den Augen herum, wie er sagte, und vorher müßte er sich den Kopf waschen und die Kehle ausspülen, ehe er zu irgend etwas anderem fähig sei. Er war auch verdrießlich, daß man ihn schon geweckt hatte; das Unglück aber war nun einmal geschehen, und seinen Hut in die Stirn drückend, wie seinen Poncho ergreifend, schlich er zum Bach hinüber, um sich dort erst zu erfrischen.

Die Bewohner der chilenischen Hütte oben am Hügel waren indessen ebenfalls munter geworden. Der Alte freilich lag noch immer auf der Erde und stöhnte, und die Mutter hatte ebenfalls die Decke über ihren Kopf gezogen und regte sich nicht – es war ein trauriges Bild des Elends, das die beiden boten, und Meier wandte sich mit Ekel von ihnen ab. Wo aber stak das arme Mädchen, das allein und schutzlos all' diesen Jammer ertragen und jetzt Tag für Tag durchmachen mußte? In dem benachbarten Feld traf er sie nicht, als er aber quer durch einen schmalen Waldstreifen schritt, um von da hinunter zum Bach zu gelangen, wohin er glaubte, daß sie gegangen sein könne, fand er sie dort, nicht weit vom Haus, neben einer kleinen Quelle sitzen, deren Wasser sich in einem ausgehauenen Troge fing – und bitterlich weinen. Sie bemerkte auch sein Nahen gar nicht. Erst als er dicht zu ihr trat und seine Hand auf ihre Schulter legte, fuhr sie erschreckt empor, blitzte scheu zu ihm auf, und als sie ihn erkannte, barg sie ihr Antlitz wieder in den Händen.

Und wie bildhübsch sie heute morgen aussah! Sie mußte früh aufgestanden sein, um sich zu waschen und ihr Haar zu ordnen, das sie in schweren, glatten Zöpfen aufgebunden hatte – und wie blütenweiß ihr Teint heute war, und wie gut und doch wie unglücklich ihn das große, dunkle Auge anschaute.

»Mein armes Mädchen!« sagte Meier, wirklich gerührt; und wie er seinen Arm jetzt um sie legte, als ob er sie beruhigen wolle wie ein Kind, zuckte es ihm durch Mark und Bein, denn er konnte das Schlagen ihres Herzens fühlen; »das war freilich eine schreckliche Nacht für Sie, und ich kann mir recht gut denken, wie weh Ihnen zu Mute sein muß. Kommt denn das öfter vor?«

Tadea weinte stärker, und Meier drückte sie leise an sich, was sie ruhig duldete; er sprach auch kein Wort weiter, sondern blieb in der Stellung. Endlich sagte sie leise: »Ich halte es nicht länger aus – ich springe in die Lagune, denn Vater bringt uns sonst doch noch beide um.«

»Das verfluchte Trinken,« zürnte der Deutsche, »wenn man ihm das nur abgewöhnen könnte!«

»Er läßt es nicht – er läßt es nicht – Tag für Tag immer das nämliche, und selbst die nötigste Feldarbeit vernachlässigt er. – Oh, wie soll das werden – wie soll das werden?«

»Und haben Sie gar keinen Freund hier? Niemanden, der Sie wenigstens vor Mißhandlungen und dem Messer Ihres eigenen Vaters schützen kann?« fragte Meier, und seine Stimme war dabei merkwürdig weich und bewegt geworden. – Er hatte sich zu ihr übergebogen – ihr Haupt berührte seine Brust, und er fühlte, wie es leise dagegen lehnte.

»Keinen,« sagte sie traurig, »wer soll sich hier eines armen Mädchens annehmen? Unsere wenigen Landsleute hier sind fast noch schlimmer als die Eltern selber und fürchten den Vater auch – von ihnen würde keiner wagen, ihm entgegenzutreten –, oh, ich bin recht, recht unglücklich!«

Meier kämpfte mit einem Entschluß – er hatte fast unwillkürlich den Kopf gesenkt, und seine Lippen berührten dabei ihr Haar, er preßte einen Kuß darauf, was sie ruhig geschehen ließ. »Don Carlos, Don Carlos!« ertönte da plötzlich, gar nicht so weit, Cruzados Stimme, »wo zum Teufel steckt Ihr denn?« Und in den Büschen raschelte es.

Zu einer ungelegeneren Zeit hätte ihm die Störung nicht kommen können. – Das arme Mädchen fuhr erschreckt empor und wischte sich die Tränen aus den Augen, der Deutsche aber, sie noch einmal an sich pressend, sagte leise: »Wartet hier einen Augenblick, Tadea, ich habe Euch noch etwas zu sagen, muß aber den Störenfried erst fortschicken, ich bin gleich wieder da«, und sie loslassend, eilte er nach der Richtung zu, wo er den Kameraden gehört hatte.

»Don Carlos! Don Carlos!« rief die Stimme noch einmal.

»Hier! Aber wer zum Henker schreit denn meinen Namen über die ganze Ansiedlung? Was gibt's?«

»Weil ich Euch nirgends finden konnte!« sagte Cruzado; »und die Zeit drängt, wir müssen fort. Ich habe mit dem Alten heute morgen gesprochen: er ist seelensfroh, uns zur Begleitung zu bekommen, und stellt die glänzendsten Bedingungen; wir haben aber nicht viel Zeit zu verlieren, denn der Wind wird unstät. Heute morgen hat er allerdings wieder nach Südwest umgesetzt. Die Nacht aber wehte er rein von Norden, und der Regenschauer war die erste Warnung, die uns der Herbst zukommen ließ. Sind wir erst einmal über den Limaï drüben oder nur wenigstens auf der anderen Seite, dann mag's meinethalben losgehen; aber erwischen uns die einsetzenden Regen noch auf dieser Seite im Tal, wo wir alle Augenblicke den vermaledeiten Witchi-Leufu kreuzen müssen, um den Felsen auszuweichen, so können wir, mitten im Walde, einregnen und nach und nach unsere Pferde schlachten, um nur nicht zu verhungern. Ich kenne den Platz und habe schon vor fünf Jahren eine solche Tour durchgemacht.«

Meier hatte ihm schweigend zugehört und dabei nur nachdenkend auf die Erde gesehen, jetzt sagte er ruhig, aber ganz bestimmt: »Ich will Euch etwas sagen, Compañero, ich habe mir die Sache anders überlegt, ich werde nicht mitgehen, sondern eine Weile bei den Indios bleiben, bis sich die Geschichte in der Kolonie ein wenig ausgetobt hat. Die Otra Banda soll in dieser Jahreszeit der Teufel holen.«

»So?« sagte Cruzado gedehnt, »und Ihr glaubt wohl, daß sie Euch hier nicht finden würden, wenn Sie Euch haben wollen? Der Capitan de Amigos – und ich kenne den Lumpen von früher her – reitet wohl morgen nicht nach der Ansiedlung zurück, und wird dort wohl nicht erzählen, daß er uns beide hier gesehen hat? Und wenn er hört, was dort unten vorgegangen ist, sind Euch die Polizisten im Handumdrehen auf der Fährte.«

»Ich werde kein Esel sein und so lange warten, bis sie heraufkommen können«, sagte Meier trocken. »Ehe der Kapitän nur die Ranco-Lagune hinter sich hat, bin ich sicher irgendwo am Rio Bueno, wo ich ein vortreffliches Versteck weiß, und wo mich kein Teufel sucht. Von dort aus kann ich auch eher erfahren, wie die Geschichte neulich nachts abgelaufen, und ob noch überhaupt davon gesprochen wird. Vielleicht ist ja auch unsere ganze Vorsicht unnütz, und es denkt kein Mensch mehr daran.«

»Hört einmal, Ton Carlos,« sagte Cruzado – und in seinem Blick lag etwas Spöttisches, als er die Worte sprach –, »soll ich Euch erzählen, weshalb Ihr nicht mit über die Berge wollt?«

»Nun?« fragte Meier doch etwas verlegen.

»Weil Ihr Euch hier in das Mädel verguckt habt und bei der zu bleiben gedenkt«, sagte der Halbindianer trocken. »Das ist das Lange und Kurze von der Sache, und wenn Ihr es mir nicht übelnehmen wollt, so kann ich Euch sagen, daß Ihr im Begriff steht, einen verdammt dummen Streich zu begehen.«

»Und weshalb?« rief Meier rasch, »ich bin frei und unabhängig.«

»So? – Und Eure Frau – von der Ihr mir unterwegs erzählt habt?«

»Bah! Ist mir die nicht vor zwei Jahren auf und davon und nach Valparaiso gelaufen, und habe ich noch irgendeine Verpflichtung gegen sie? Hat sie sich nicht selber von mir losgesagt?«

Cruzado erwiderte nicht gleich etwas darauf und starrte nachdenkend vor sich bin. Plötzlich drehte er den Kopf zur Seite, denn er hatte Schritte gehört und sah jetzt zwei Gestalten den Weg heraufkommen, in denen er den Kaziken Kajuante und den Kapitän erkannte, die sie zu suchen schienen, denn der alte Kazike winkte, wie er die beiden dort bemerkte, schon von weitem mit der Hand.

»Und was wollen die?« sagte Cruzado finster.

»Es wundert mich, daß der Alte schon draußen herumläuft,« lachte Meier, »der hatte einen Hauptbrand gestern abend.«

»Ah, Cruzado und Don Carlos – Bueno!« rief Kajuante, indem er freundlich auf sie zukam und ihnen die Hand entgegenstreckte; »das ist vortrefflich, daß wir euch finden. Könnt Ihr lesen, Cruzado?«

»Ich?« sagte dieser, eben nicht in der besten Laune, »quien sabe – ich weiß es nicht – möglich ist's, habe aber noch niemals den Versuch gemacht. Übrigens habt Ihr ja da Euern Capitan de Amigos, den Señor Cornelio, bei Euch – der wird doch lesen können!«

»Kann er auch,« erwiderte der Chilene, aber doch etwas verlegen, »kann er auch, Amigo; aber dann muß es wenigstens so geschrieben sein, daß man imstande ist, die einzelnen Buchstaben zu erkennen. Auf dem Wisch ist es jedoch nicht einmal möglich, zu sehen, ob es Kastilianisch oder Französisch sein soll, – ich bring's wenigstens nicht heraus und – der Kopf ist mir auch noch so wüst von gestern abend, gerade als ob er springen wollte und nicht könnte.«

Meier hatte nach dem Blatt hinübergesehen – es war wirklich nur ein »Wisch«, der Kapitän hatte ganz recht, – ein irgendwo aus einem Buche herausgerissenes Blatt und ziemlich undeutlich beschrieben.

»Und warum geht Ihr nicht zu dem alten Señor, der gestern abend gekommen ist, der versteht gewiß jede Schrift zu lesen; gebt es mir, ich will mit ihm sprechen.«

»Gott weiß, wo der steckt,« sagte Kajuante; »er ist, glaub' ich, nach seinen Pferden gegangen oder nach dem Fluß hinüber, um zu sehen, ob der gefallen ist. – Könnt Ihr's nicht lesen, Don Carlos? Die Alemanes können doch immer alles.«

»Gebt einmal her,« sagte Meier, »ich will's versuchen, daß wir wenigstens herausbekommen, was darauf steht.«

Er nahm das Blatt und überflog es mit den Blicken; es war in der Tat nichtswürdig geschrieben, aber einzelne Worte ließen sich trotzdem entziffern. – »Al Kazike Kajuante«, las er.

»Ja, soviel haben wir auch heraus,« brummte Cornelio; »es ist lästerlich, einem so viel zuzumuten – und mit den Kopfschmerzen.«

Meier verwandte aber kein Auge von dem Blatt, und das Herz fing ihm an stärker zu klopfen, denn er hatte in den kritzelnden Schriftzügen Cruzados wie seinen eigenen Namen, Don Carlos, entdeckt.

»Das müßte doch mit dem Bösen zugehen,« brummte er dabei, »wenn man das nicht doch nach und nach herauskriegen sollte – laßt es mir einmal einen Augenblick; ich bring's doch fertig.«

»Ein Teufelskerl, der Don Carlos,« nickte Kajuante vergnügt, »der könnte auch alle Tage Capitan de Amigos werden.«

»Ja,« brummte Meier vor sich hin, »wenn ich zu nichts anderem gut mehr wäre« – aber seine Gedanken waren bei dem Papier, und nur einen flüchtigen Blick warf er auf Cornelio, und als er sah, daß dieser ihn nicht beachtete, sah er rasch und warnend zu Cruzado hinüber. Der Halbindianer bedurfte auch nicht mehr, denn der Blick allein bestätigte seinen schon gefaßten Verdacht. Vor allen Dingen mußte er Don Carlos allein lassen, und Kajuante war auch bald überredet, dem Deutschen eine kurze Zeit zu gönnen, um die Schriftzüge zu entziffern. Nur den Kapitän wurde er noch nicht los, der zu ihm getreten war und ihm helfen wollte.

»Was ich euch sagen wollte,« bemerkte Don Cruzado ruhig, »hat einer von euch hier einen Fuchs mit einem weißen und einem schwarzen Hinterbein und einem Stern vorn an der Stirn?«

»Das ist mein Pferd!« rief Cornelio auffahrend.

»Eures? So,« sagte der Halbindianer, mit dem Kopf nickend, »na, da seht Euch nur beizeiten danach um, denn das schlug heute morgen den Weg nach der Lagune ein.«

»Caracho!« rief der Bursche, in die Höhe fahrend, »das wäre ein schöner Spaß, denn ich will heute mittag fort. Ob mir die Bestie das nicht schon ein paarmal gemacht hat! – Kajuante, kann ich eins von euren Pferden nehmen, um nachzureiten?«

»Drei, Amigo,« sagte der Kazike gutmütig, »wenn Euch das nicht zu unbequem ist.«

»Aber wo sind sie?«

»Ja,« lachte der Alte, »das ist mehr, als ich Euch sagen kann. Wie wir gestern herüberkamen, waren wir sehr fidel und haben uns nach den Tieren eben nicht besonders umgesehen, denn die laufen nicht fort. Aber irgendwo im Walde stecken sie hier herum, darauf könnt Ihr Euch verlassen.«

Der Kapitän bekümmerte sich nicht mehr um den Brief, ja, war vielleicht froh, mit guter Manier davon loszukommen, und eilte jetzt nach dem Hause hinunter, um dort noch irgendeinen nüchternen Indianer aufzutreiben, der ihm suchen helfen konnte. Cruzado folgte ihm mit Kajuante langsamer, und Meier blieb mit dem Brief allein, hatte aber auch für den Augenblick alles andere, selbst Tadea, in dem Interesse vergessen, das er an dem Schreiben nahm; einzelne Worte brachte er allerdings gar nicht heraus, aber in den Zusammenhang fand er sich bald, und der lautete so beunruhigend als möglich, etwa folgender Art:

»An den Kaziken Kajuante die Nachricht, daß zwei Individuen, ein Halbindianer und ein Deutscher, die in der Kolonie ein Verbrechen begangen, in das Innere geflüchtet sind. Der eine heißt Cruzado, der andere Don Carlos. Sie werden entweder an die Mayhue-Lagune kommen oder sich nach dem Rio Bueno hinüberziehen. Nach beiden Plätzen geht morgen, vielleicht noch heute abend von hier Polizei ab. Sollten sie dort eintreffen, so haltet sie fest und verwahrt sie gut. Der Gouverneur hat eine Belohnung auf ihren Fang gesetzt.«

Die Unterschrift war nicht zu entziffern, aber auch ganz unnötig, und Meier erschrak jetzt wirklich selber vor der Gefahr, in der sie sich befanden.

Wenn er den Wisch nun jetzt zerstörte! Eine Ausrede dafür hätte er bald gefunden, und Verdacht konnten sie auf ihn unmöglich haben – aber was half das? Morgen früh schon, vielleicht gar heute abend traf der Schreiber selber mit einer Anzahl von Polizeidienern ein, und war wirklich in jener Nacht irgendeiner von den Beamten durch den abgefeuerten Schuß getötet worden oder durch das Ingrundrennen des Bootes ertrunken, dann konnte aus der ganzen Sache noch ein recht bitterer, fataler Ernst werden. – Arme Tadea! – Und das liebe, holde Mädchen, das ihm augenscheinlich von Herzen gut war, sollte er jetzt in diesen schrecklichen Verhältnissen zurücklassen? – Aber was anderes konnte er tun – wenigstens für den Augenblick? Nur eine Hoffnung blieb ihm noch.

Jetzt mußte er fort von hier, das war keine Frage mehr, und so rasch als möglich über die Berge; ja, wenn Don Enrique nicht so schnell mit seinen Vorbereitungen fertig werden konnte, so durften sie – er und Cruzado – nicht einmal auf ihn warten, sondern mußten vorausreiten, daß sie nur erst einmal die Kordilleren zwischen sich und ihre Verfolger brachten. Aber daß er Tadea jetzt gleich mit sich führen konnte, in die Pampas hinein, ging unmöglich an, und dann traute er auch den dortigen Indianern zu wenig, um ihnen selber eine so liebliche Blume zuzuführen. Nein, noch eine kurze Zeit mußte er sie in ihrer traurigen Lage lassen – er konnte ihr ja im Augenblick nicht helfen, wenn er es auch so gern gewollt hätte – dann aber kehrte er zurück, und nachher – schon fing er sich im Geist an, allerlei bunte Pläne aufzubauen und hatte den Brief fast darüber vergessen, als er Cruzado mit eiligen Schlitten zurückkehren sah. Schon von weitem rief er Meier entgegen: »Nun – was steht in dem Brief, Don Carlos?«

»Weiter nichts,« erwiderte dieser, »als daß sie uns beide, wo wir uns sehen lassen, einfangen und an die Polizei abliefern sollen, die heute abend oder morgen früh eintreffen wird.«

»Ob ich's mir nicht gedacht habe,« nickte Cruzado still vor sich hin, »ein Glück nur, daß der Holzkopf von Kapitän nicht lesen konnte – und aus einem solchen Esel machen sie einen Beamten.«

»Und was nun?«

»Zerreißt vor allen Dingen den Wisch, daß er niemandem in die Hände fällt.«

»Das geht nicht, das würde Verdacht erregen«, sagte Meier; »aber es gibt ein anderes Mittel, um ihn unleserlich zu machen. Ein paar von den Worten kriegt ohnehin kein Mensch heraus, und wenn ich hier und hier« – und dabei strich er mit dem angefeuchteten Finger über einzelne Buchstaben – »ein klein wenig nachhelfe, so möchte ich nachher den Professor sehen, der noch einen Sinn daraus errät.«

»Und unsere Namen stehen darin?«

»Jetzt nicht mehr«, lachte Meier.

»Und wollt Ihr jetzt noch hier bei Eurer Donna bleiben, Don Carlos, und warten, bis sie Euch abholen?«

»Ich denke nicht,« sagte der Deutsche kopfschüttelnd, »denn wie ich fast fürchte, haben wir in jener Nacht Schaden angerichtet.«

»Gut, dann macht, daß Ihr zu Eurem Pferde kommt und bringt das meine gleich mit. Einen alten Freund von mir habe ich schon auf Posten gestellt – ich dachte mir fast, daß 'was im Winde sei, und treffen noch mehr ungebetene Gäste vor der Zeit ein, so bekommen wir wenigstens Warnung. Dann folgt mir nur, denn ich kenne hier jeden Fuß breit Boden in den Bergen.«

»Und jetzt?«

»Helfe ich dem alten Chilenen sein Gepäck schnüren und will sehen, daß ich noch eine Partie Indianer dazu bekomme. Ich habe dem Alten angst vor dem Regen gemacht, und er ist mit seinem Peon gleich selber hinaus, um die Pferde zusammenzutreiben. Ich glaube, da hinten kommen sie schon mit den Tieren an.«

»Was war denn das vorher mit des Kapitäns Fuchs?«

»Nichts – ich wollte den Burschen nur aus dem Weg haben. Der Fuchs ist noch in dem nämlichen Corral, in den er ihn gestern abend hineingetan hat.«

»Aber er wird wütend darüber sein.«

»Bah, was kümmert's uns – jetzt fort, Don Carlos, fort, in einer Viertelstunde müssen unsere Pferde gesattelt sein.«

Cruzado hatte sich abgewandt und war rasch den Weg hinabgeschritten; Meier wußte auch, daß die eben gegebene Anordnung genau befolgt werden mußte, wenn sie sich nicht der größten Gefahr aussetzen wollten. Aber er hatte Tadea versprochen, gleich zu ihr zurückzukehren – ein Abschiedswort mußte er ihr sagen, so kurz das auch sein mochte, und wie der Freund nur hinter den nächsten Büschen verschwunden war, wandte er sich ab und eilte nun, so rasch ihn seine Füße trugen, der Hütte des Chilenen zu – und wie ihm das Herz schlug, als er sich ihr näherte.

Vor dem Eingang stand Tadea, als ob sie auf ihn gewartet hätte. Meier ergriff zugleich ihre Hand und sagte herzlich: »Tadea – ich hätte Euch so gern noch einmal allein gesprochen, aber Ihr habt mich nicht an der Quelle erwartet.«

»Señor!« bat das junge Mädchen.

»Glaubt Ihr, daß ich es ehrlich mit Euch meine?«

Tadea sah ihn mit den großen dunklen Augen ernsthaft an und erwiderte lange kein Wort, endlich sagte sie einfach: »Ja – ich glaube es.«

»Gut,« sagte Meier rasch, »dann vertraut mir auch. Ich gehe jetzt nach der Otra Banda, kehre aber bald von dort drüben zurück.«

»Und dann?«

»Wollt Ihr mir folgen, wohin ich Euch führe, und glauben, daß ich alles tun werde, was in meinen Kräften steht, um Euch glücklich zu machen?«

»Mich glücklich zu machen?« sagte das arme Mädchen bitter, »als ob ich noch auf dieser Welt glücklich werden könnte!«

»Hofft und vertraut«, flüsterte Meier leise, denn eben trat ihr Vater in die Tür. Tadea stand ihm gegenüber und sah ihn mit den großen, lieben Augen so bittend an – er wäre ihr gar zu gern zum Abschied um den Hals gefallen, aber es ging nicht; der alte, wüste Bursche mit dem verwilderten, übernächtigen Gesicht wandte den Blick nicht von ihm ab. »Adios, Señor,« rief er dabei, »Adios, Señorita«, und er reichte ihr noch einmal die Hand hinüber. Tadea gab sie ihm und fühlte dabei, daß er ihr einen kleinen Ring an ihren Finger steckte. – »Tausend Dank, mein liebes Herz, für genossene Gastfreundschaft – lebt wohl, auf baldiges Wiedersehen!«

Über Tadeas Antlitz hatte sich tiefes Rot gelegt, aber sie wies den Ring nicht zurück und sagte leise: »Lebt wohl, Señor. Gott schütze Euch auf Eurem langen Ritt – ich werde für Euch beten!«

»Tausend Dank – lebt wohl!« Und rasch ablenkend, schritt er die Straße hinab. An der Biegung derselben wandte er noch einmal den Kopf zurück – das Mädchen stand vor dem Haus und winkte ihm mit der Hand, und er hätte laut aufjubeln mögen vor lauter Glück und Seligkeit.

 


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