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21. In Sydney

Es war ein stiller, aber doch glücklicher Hochzeitsabend im Hause von Mr. Pitt, den die kleine Familie in ihrem engsten Kreis feierte. Nur Mr. Sutton und der aus den Minen zurückgekehrte von Hafften waren dabei. Zunächst schien es, als wollte sich das junge Ehepaar der Gesellschaft gar nicht anschließen. Sie saßen mit Mr. Sutton zusammen und schienen viel mit ihm zu besprechen haben. Litt Gertrud noch?

Nein, mit dem Auftauchen des Mannes war das, wovor sie in vielen Stunden gezittert hatte, endlich wirklich geworden. Immer wieder hatte sie sich gefragt, wie sie sich wohl verhalten würde, und die Angst bedrückte sie dabei. Jetzt aber war diese Last von ihr genommen.

Charles hatte ihr seinen Tod so schonend wie möglich mitgeteilt. Als er sah, daß sie seinen Worten nur zögernd glaubte, hatte er den alten Herrn Sutton als Zeugen geholt und ihn damit zugleich zum Vertrauten ihres Schmerzes gemacht. Er hätte nicht besser handeln können, denn die Trostworte des Mannes, der Gertrud wie ein Vater liebgewonnen hatte, bewirkten ihre völlige Beruhigung. Die Tränen, die sie so lange zurückgehalten hatte, brachen sich Bahn. Mit den Tränen schien aber auch eine schwere, erdrückende Last von ihrer Seele gewichen zu sein.

Dann hatte sie ihre Schwäche überwunden und trat lächelnd ihren Schwiegereltern gegenüber. Besonders froh über diese Entwicklung war Mr. Pitt senior, der nichts mehr haßte als Frauentränen. Er hielt sie für ungeschäftsmäßig und hatte außerdem den Kopf heute voll mit allen möglichen Dingen.

Besonders bedrückte ihn der Verlust seines Kapitäns, den ihm der Steuermann gemeldet hatte. Er zweifelte keinen Augenblick daran, denn den Busch kannte er zu gut. Es traf ihn aber, daß Becker nun gerade jetzt ausfiel. Einmal mochte er den deutschen Seemann sehr gern, und dann vertraute er dem Steuermann nur ungern sein Schiff an. Allerdings erlaubte seine Gutmütigkeit auch nicht, einen anderen an dessen Stelle zu setzen.

Er genoß deshalb diesen Abend nur halb und war ziemlich zerstreut. Er hatte sich vorgenommen, gleich nach dem Essen zur Polizeistation zu gehen und zu fragen, ob Leutnant Beatty denn immer noch nicht zurückgekommen wäre, denn der müßte ihm doch nähere Auskunft geben können.

Eben hatte sich die kleine Gesellschaft an den Tisch gesetzt, als das Mädchen hereinkam und meldete, daß jemand draußen wäre, der den Hausherrn sprechen wollte.

»Aber heute nicht«, bat Frau Pitt. »Wenn es nicht etwas sehr Wichtiges ist, kann dein Besuch doch sicher morgen wiederkommen.«

»Wer ist's denn?« erkundigte sich Mr. Pitt und breitete die Serviette über seinem Schoß aus.

»Der Herr, der schon oft hier gewesen ist, der Deutsche. Ich glaube, er ist Schiffskapitän.«

»Becker?« schrie Mr. Pitt, der von seinem Stuhl aufsprang.

»Ja, so heißt er.«

»Soll hereinkommen! Hurra! Das ist das beste Hochzeitsgeschenk, was er uns heute bringen konnte – sein eigenes, dickes, rotes Gesicht...«

»Ja, wo ist das dicke Gesicht geblieben?« sagte der Kapitän, der dem Mädchen gefolgt war. »Guten Abend, Mr. Pitt, guten Abend, meine Damen und Herren. Sollte mir sehr leid tun, wenn ich störe, aber ich gehe sofort wieder und wollte mich nur bei Mr. Pitt. als ›eingetroffen‹ melden.«

»Stören?« riefen aber Mrs. Pitt und Pauline. »Sie hätten uns keine größere Freude machen können. Jetzt dürfen Sie nicht vom Weggehen reden, sondern müssen sich zu uns setzen und erzählen, wie es Ihnen ergangen ist.«

Kapitän Becker ließ sich nicht lange nötigen. Zuerst wurde er dem Brautpaar und Mr. Sutton vorgestellt. Dann setzte er sich dazu und erzählte in seiner drolligen Weise, oft auch in etwas verkehrtem Englisch, seine überstandenen Erlebnisse. Besonders die Schiffsjungenhetze erzählte er mit solchem Erfolg, daß selbst Gertrud über ihn lächelte, Mr. Pitt aber die Tränen über die Wangen liefen.

Dadurch kam frisches Leben in die etwas stille Gesellschaft. Mr. Sutton erzählte ein paar Erlebnisse aus seinem Leben. Schließlich gab auch von Hafften sein Erlebnis mit dem Wahnsinnigen und dem Goldsee zum Besten.

Besonders Pauline hörte ihm dabei sehr aufmerksam zu. Als aber die Stimmung durch den traurigen Ausgang zu ernst zu werden drohte, sorgte Becker wieder für eine heitere Richtung, indem er über sein Goldsuchen berichtete, ehe ihm dabei Leutnant Beatty mit seinem unbarmherzigen Spott zuvorkommen konnte. Als Mr. Sutton um zehn Uhr das Zeichen zum Aufbruch gab, trennte sich die kleine Gesellschaft in der besten Laune.

Mr. Pitt senior ließ den Kapitän aber noch nicht so schnell schlafen gehen. Es war klar, daß er bei ihnen im Haus übernachten würde, denn heute Abend konnte er nicht mehr an Bord seines Schiffes fahren. Außerdem hatten sie noch viel Geschäftliches zu besprechen. Mit einer Flasche Sherry zwischen sich und einer guten Zigarre saßen sie noch stundenlang und plauderten zusammen über die nächste Reise der »Susanna Baxter«.

Besonders interessierte sich der Kapitän für seinen Steuermann, der so schnell von seinem Tod überzeugt war und sich die größte Mühe gegeben hatte, das Schiff segelfertig zu machen. Übrigens war der Steuermann für den nächsten Tag um zehn Uhr zu Pitt bestellt, um zu berichten, wie weit er mit der Mannschaft war und ob am Sonnabend die Reise beginnen könnte.

»Ich fürchte nur, daß uns die Leute noch einen Strich durch die Rechnung machen, denn mit vier Mann können Sie nicht auslaufen, oder wir riskieren Schiff und Mannschaft«, sagte Mr. Pitt und füllte sein Glas wieder.

»Ich habe Leute, Mr. Pitt«, sagte der Kapitän und nickte still vor sich hin.

»Sie haben noch Matrosen angeworben?«

»Soviel wir brauchen.«

»Und wo sind die?«

»Ich denke, hier in Sydney. Jedenfalls sind sie bis übermorgen da, und wir können dann segeln, wann wir wollen.«

»Gott sei Dank!« rief der Kaufmann, dem damit ein Stein vom Herzen fiel. »Wo in aller Welt haben Sie die aber herbekommen?«

»Hm, in den Minen«, meinte der Kapitän ausweichend. »Es ist mehreren so wie mir gegangen. Sie fanden keine Freude am Hacken und Graben, und man begegnet da oben ja oft einer buntgemischten Gesellschaft.«

»Und sind Sie nie diesem Halunken, dem Holleck, begegnet? Er ist da oben nämlich gesehen worden«, sagte Mr. Pitt leise und bog sich zu dem Kapitän hinüber.

Der Kapitän schüttelte den Kopf, er dachte an sein Versprechen.

»Lieber Gott, die Berge sind weitläufig. Da drin können viele stecken, ohne daß man ihnen über den Weg läuft. Was kümmert uns der Mensch, lassen Sie ihn laufen. Seine Strafe wird ihn schon ereilen.«

»Und wissen Sie auch, was er getan hat?« fragte Mr. Pitt.

Kapitän Becker verneinte. »Geht mich auch nichts an, bin nicht neugierig. Man hat den Kopf voll genug mit seinen eigenen Geschichten.«

»Das betrifft Sie aber auch mit«, sagte Mr. Pitt. »Denn der Schuft war fast die Ursache, daß Charles beinahe nie hätte mit Ihnen reisen können. Er war es, der damals mit einer Bande von Verbrechern die Post überfiel. Als er von Charles erkannt wurde, hatte er ihn niedergeschossen und dabei lebensgefährlich verletzt.«

»Alle Teufel!« rief Kapitän Becker erschrocken aus. »Das ist... das ist ja eine verfluchte Sache!«

»Sie können sich denken«, fuhr Mr. Pitt fort, »daß ich mein halbes Vermögen dafür geben würde, den Schurken zu fassen und seiner gerechten Strafe zu überliefern. Aber Sie scheinen müde zu sein, Kapitän. Es ist spät geworden. Wollen Sie schlafen gehen?«

»Wenn's Ihnen recht ist, ja«, sagte Becker, dem der Kopf von dem Gehörten wirbelte. »Habe eigentlich noch keine Nacht Ruhe gehabt, seit ich von Bord bin.«

Leuchter wurden gebracht, und eine Viertelstunde später streckte sich Kapitän Becker behaglich auf einer Stahlfedermatratze aus. Er wollte noch über die zuletzt gehörten Neuigkeiten nachdenken, aber die Augen fielen ihm zu, die Bilder tanzten ihm kraus und wild durch den Sinn, und wenige Minuten später war er fest eingeschlafen.

Und wie lange schlief er am nächsten Morgen! Es war neun Uhr, als Mr. Pitt zu ihm ins Zimmer trat und lachend ausrief:

»Na, Gott sei Dank, Kapitän, Sie haben einen gesunden Schlaf! Aber jetzt müssen Sie heraus. Ihr Steuermann ist unten. Er weiß aber noch nichts davon, daß Sie wieder da sind!«

»Der Steuermann, alle Wetter!« sagte der Kapitän, überrascht und noch immer schlaftrunken. Er fuhr in seinem Bett in die Höhe. »Ich... ich komme sofort hinunter... halten Sie ihn nur einen Augenblick auf, Mr. Pitt – aber sagen Sie nichts.«

»Keine Silbe. Wollen Sie Ihren Kaffee hier oben haben?«

»Nein, vielen Dank, ich trinke ihn unten. Ich bin gleich fertig.«

»Lassen Sie sich nur Zeit, er darf doch nicht fort, bis Sie da sind.«

Kapitän Becker wusch und zog sich an, und dabei zuckte ein ganz eigenes Lächeln um seine Lippen. Jetzt war er fertig und stieg langsam die Treppe hinunter. Im Vorsaal hörte er schon Mr. Pitts Stimme, der sich im Lager mit dem Steuermann unterhielt.

»Und von Ihrem Kapitän immer noch keine Spur?« erkundigte sich Mr. Pitt, der Becker auf der Treppe gehört hatte. »Es ist doch merkwürdig, daß der Mann so verschwunden sein sollte.«

»Du lieber Gott, Mr. Pitt«, sagte der Seemann mit tiefem Bedauern im Ton. »Sie sollten nur den wilden Busch da oben erleben. Kein Wunder, wenn da jemand zugrunde geht, wenn er vom Weg abkommt. Armer Kapitän – ich gäbe meinen kleinen Finger dafür, wenn wir ihn hätten retten können. So ein guter Mann und in der Blüte seiner Jahre – und ein so tüchtiger Seemann. Es wird für mich recht einsam auf der ›Susanna Baxter‹ sein, wenn er fehlt.«

»Na, wissen Sie was, Steuermann«, sagte der Kapitän, der hinter ihm leise die Treppe heruntergekommen war, »dann kann ich Ihnen vielleicht dafür Gesellschaft leisten.«

»Kapitän!« schrie der Steuermann und drehte sich wie der Blitz nach ihm um. Er starrte ihn an wie einen Geist, so fest hatte er mit seinem Tod gerechnet. »Kapitän! Sie in Sydney – das... das freut mich! Das freut mich richtig, daß Sie wieder da sind. Wo um Gottes willen haben Sie denn die ganze Zeit gesteckt?«

»Na, Steuermann, das erzähle ich Ihnen alles unten an Bord, wenn wir wieder beisammen sind«, schmunzelte der Kapitän, der wohl gemerkt hatte, daß sein Steuermann mehr erschrocken als erfreut über sein Erscheinen war. »Gehen Sie jetzt so schnell wie möglich wieder an Bord und machen Sie alles klar. Wir wollen reisen, sobald die Ladung an Bord ist.«

»Ja, Kapitän«, sagte der Steuermann und kratzte sich hinter dem Ohr. »Ich habe aber nur die drei Mann, die bei der Wasserpolizei sitzen.«

»Machen Sie nur alles klar, damit wir aus dem verdammten Nest herauskommen. Leute hab ich, an denen soll's nicht fehlen.«

»Sie haben Leute?«

»Genug. Bis wann kann die Fracht an Bord sein?«

»Bis morgen abend, spätestens übermorgen früh, dafür sorge ich«, sagte Mr. Pitt.

»Gut, dann gehen wir am Sonnabend, um elf Uhr in See. Haben Sie mich verstanden?«

»Jawohl, Kapitän. Sonst noch was?«

»Ist genug Wasser an Bord?«

»Das Wasserboot kam gerade, als ich losfuhr.«

»Wir bekommen drei Passagiere mit, daß der Steward die Kojen klarmacht, und ein bißchen frischen Proviant!«

»Das schick ich alles an Bord«, sagte Mr. Pitt. »Darum müssen Sie sich nicht kümmern.

»Also, Gott befohlen, Steuermann, machen Sie, daß Sie hinüberkommen. Und jetzt wollen wir Kaffee trinken, Mr. Pitt, wenn's Ihnen recht ist.«

Der Steuermann verabschiedete sich verlegen und ging hinaus. Als er die George Street hinunterging, war er keineswegs so gut gelaunt wie am Morgen.

»Na, da ist er wieder«, brummte er verdrießlich vor sich hin. »Als ob ich es mir nicht schon gedacht habe. Daß so einem Kapitän einmal etwas Menschliches zustößt, Gott bewahre – kommt nicht vor –, aber wenn ich's gewesen wäre... Ich habe kein Glück, und hol der Teufel die ganze Fahrerei!«

»Haben Sie von dem großen Nugget gehört, das da oben in den Bergen gefunden wurde?« sprach ihn plötzlich ein wildfremder Mensch an. Er glühte förmlich vor Aufregung. »Sieben Pfund schwer und reines Gold!«

»Geht alle zum Teufel mit eurem Gold!« knurrte der Seemann und machte sich vom Arm des Fremden los. Er dachte an das Hacken in den Bergen. »Nee, dann doch noch lieber Steuermann!«

Der Kapitän hatte an diesem Tag außerordentlich viel zu tun und konnte kaum zu Atem kommen. Trotzdem wollte ihm die Geschichte mit Holleck nicht aus dem Kopf. Er wußte nicht, was er tun oder lassen sollte. Wie war es jetzt möglich, diesen Lump zusammen mit Charles Pitt auf das gleiche Schiff zu bringen? Was würde Mr. Pitt dazu sagen, wenn er später erfuhr, daß er dem Verbrecher zur Flucht verholfen hatte? Aber was konnte er sonst tun? Er hatte freiwillig sein Wort gegeben, und der ehrliche Seemann verstand nicht, daran herumzudeuten.

Außerdem unterstützte ihn sein eigenes Interesse, das stets ein gewaltiger Hebel bei unseren Handlungen ist. Wie die Sache stand, hätte er ohne die versprochenen Leute gar nicht an eine baldige Abfahrt denken können. Sollte er noch länger in Sydney liegenbleiben?

Wenn er nur Holleck einmal sprechen könnte, um ihm zu sagen, daß Charles Pitt die Reise auf seinem Schiff mit ihm machen würde. Holleck wäre dann sicher selbst weggeblieben. Von den anderen kannte er niemand. Aber wo sollte er ihn finden, wenn er wirklich Sydney schon erreicht hatte?

Heute mußte er den Zettel in Shakespearehaus abgeben. Wenn er nun darauf ein paar für Holleck verständliche Zeilen vermerkte? Wenn er ihn aber um ein Treffen bat, konnte er kaum damit rechnen, daß Holleck kam, denn der hätte einen Verrat befürchtet.

Der arme Kapitän war noch nie in seinem Leben in einer solchen Verlegenheit. Nichts lag seiner ehrlichen, einfachen Natur ferner, als hier eine kunstvolle Intrige zu spinnen. Er ging wie im Traum umher und wußte nicht, wie er sich verhalten sollte.

Er wollte fort, und er wollte sein gegebenes Wort halten. Was mußte aber Mr. Pitt darüber denken, wenn er den Zusammenhang später erfuhr! Der Versuch mit dem Zettel mußte jedenfalls gemacht werden. Wenn der verzweifelte Bursche dann aber doch dickköpfig blieb? Na, vielleicht gab es dann Mittel und Wege, Holleck »vor dem Mast« so gut zu verstecken oder aus der Sicht zu halten, daß er während der Fahrt mit Charles nicht zusammenkam. Er brauchte ihn ja nur nicht ans Steuer oder überhaupt aufs Quarterdeck zu lassen, dann war es doch wohl möglich, einer Entdeckung vorzubeugen.

So verging der Tag für den Kapitän, an dem er einmal hinaus auf sein Schiff gefahren und mindestens zehnmal bei Pitts vorgesprochen hatte, weil er den Kopf noch immer voll hatte und wieder etwas anderes vergaß.

Heute abend sollte bei Pitts die nachträgliche Hochzeitsfeier stattfinden, zu der viele Gäste geladen waren. Becker hatte zusagen müssen. Mr. Pitt meinte, ob er die Nacht nun noch einmal an Land oder in seiner Koje schliefe, bliebe sich ja gleich. Die Feier begann aber erst um acht Uhr, und bei Dunkelwerden ging der Kapitän zunächst die Pitt Street hinunter, um den Zettel abzugeben. Die Ladung war heute mit solcher Hast an Bord geschafft worden, daß er die Abfahrt sicher auf Sonnabend früh ansetzen konnte. Wenn er dann das Signal am Vormast aufzog, sollten die Leute an Bord kommen.

Pitt Street war um diese Zeit bis etwa nachts um elf Uhr der belebteste Teil der Stadt. Hier befand sich nicht nur das Theater, sondern ihm gegenüber lagen auch einige der berüchtigsten Spelunken und Tanzhäuser. Das war der Sammelplatz für leichtfertige Schöne und Matrosen, aber auch das Stadtvolk mischte sich unter sie. Besonders jetzt, wo die Goldgerüchte Menschen aus allen Teilen Australiens nach Sydney lockten, wogte es in diesen Stunden auf und ab. Die Tanzsäle waren überfüllt, und in den Lokalen zankten und prügelten sich die zukünftigen Goldsucher nach Herzenslust.

Mitten zwischen diesen Häusern, dem Theater schräg gegenüber, stand das größte und offensichtlich anständigste Haus von allen, das sogenannte Shakespearehaus, das seinen Namen durch den Tanzsaal erhalten hatte.

Dort war nämlich Shakespeare in Lebensgröße auf eine Kalkwand gemalt. Drum herum hatte der wenig begabte Künstler weitere Personen und Szenen aus den Dramen des Meisters gemalt. Er hatte damit eine Sammlung Karikaturen geschaffen. Aber er schien seinen Zweck erreicht zu haben, denn man wußte wenigstens, was er eigentlich malen wollte. König Lear mit dem Narren war nicht zu verkennen, wenn sich auch einmal ein paar Matrosen eine Zeitlang darüber stritten, welches der König und welches der Narr sein sollte. Falstaff mit einem riesigen Bauch und einem Krug »Sekt« stand auch da; Hamlet mit einem Totenkopf, Romeo und Julia und eine Szene aus dem »Sturm«.

An der anderen Wand stand ein vollkommen totgeschlagenes Klavier. Ein stundenweise verpflichteter »Musiker« machte darauf musikalischen Spektakel, während ihn ein sehr junger Violinspieler unterstützte.

Rings unter den Bildern standen Sofas und Bänke, auf denen eine sehr gemischte Gesellschaft Platz genommen hatte. »Damen« in schwerer Seide und bunten Kattunkleidern, Herren im Frack und im roten Minerhemd. Sie tanzten mit der Zigarre im Mund oder hielten ein Glas heißen Punsch in der Hand. Kellner eilten mit gefüllten Präsientierteller hindurch und wichen den Gästen nicht von der Seite, bis das bestellte Glas bezahlt war. Es war ein Lärmen, Tosen, Lachen, Schreien und Jubeln in dem Raum, daß man sein eigenes Wort kaum hören konnte.

Mitten dazwischen wogte der Tanz, dem sich alles mit ausgelassener Fröhlichkeit hingab. So rücksichtslos und wild schwenkten sich die Paare herum, daß Kapitän Becker ständig angestoßen wurde, als er durch den Saal gehen wollte. Er war froh, sich zwischen die Bänke klemmen zu können, wo er einen Kellner im Vorbeigehen abfangen wollte.

Er hatte nämlich den Zettel für Holleck geschrieben, wußte aber nicht, wem er ihn übergeben sollte. Bald stellte er fest, daß keiner der Leute damit etwas zu tun haben wollte. Fünf verschiedene Kellner sprach er an, aber alle erklärten, daß sie keine Zeit für ein Blatt Papier hätten.

»Und wo ist der Wirt?« fragte Becker endlich, ungeduldig werdend.

»Unten«, lautete die lakonische Antwort. Also mußte er sich wieder hinunterarbeiten, um seinen Auftrag zu erledigen. Und wenn ihm nun der Wirt den Zettel auch nicht abnehmen würde? Er wußte selbst nicht, ob er das wünschen oder fürchten sollte. Jedenfalls hatte er dann sein Wort gehalten und brauchte sich keine Vorwürfe zu machen.

Im unteren Teil des Hauses befanden sich eine Kegelbahn, eine Trinkstube und ein kleines Wartezimmer für Damen. Endlich fand er den Wirt in der Kegelbahn. Der war gerade dabei, einem Angetrunkenen die Rechnung über drei Glas Brandy hot, sechs Gläser Punsch, die er dem Kellner vom Tablett gestoßen hatte, und zwei zerbrochene Fensterscheiben zu machen.

Kapitän Becker ließ ihn das beenden, dann nahm er ihn beiseite und sagte:

»Sir, ich habe den Auftrag bekommen, hier bei Ihnen einen Zettel ohne Adresse abzugeben und nur dabei zu sagen, daß ich der Kapitän eines Schiffes bin.«

Der Mann antwortete nicht gleich, nahm auch den Zettel nicht, den Becker in der Hand hielt, und sah ihn erst mißtrauisch an. Endlich brummte er: »Bei mir?«

»Ja.«

»Und was steht drauf?«

»Wann ich segle.«

»Und was geht mich das an?«

»Vielen Dank«, sagte Kapitän Becker und schob den Zettel wieder ruhig in die Tasche. »Ich bin nun bei allen Ihren Leuten herumgelaufen, Sie wollen ihn auch nicht, also lassen wir es. Ich bin wenigstens nicht schuld daran, wenn der Betreffende den Zettel nicht bekommt. Guten Abend.«

Damit drehte er sich um und wollte den Ort verlassen. Das schien aber dem Wirt nicht recht zu sein. Er hatte jedenfalls einen Auftrag bekommen, wollte sich aber keiner Gefahr aussetzen. Er ergriff deshalb den Arm des Kapitäns und sagte:

»Bitte, zeigen Sie mir einmal das Papier!«

Kapitän Becker sah ihn einen Augenblick forschend an, dann gab er ihm den Zettel, ohne ein Wort zu sagen. Der Wirt las leise:

»Ich segele Sonnabend früh, elf Uhr. Habe vorher H. eine wichtige Mitteilung zu machen. Wo kann ich ihn sprechen? Ich hole mir die Antwort morgen, elf Uhr hier ab. Becker.«

»Na?« sagte Kapitän Becker endlich, als der Wirt noch immer auf den Zettel starrte.

Der Mann faltete das Papier ruhig zusammen, steckte es in seine Brusttasche und fragte:

»Wollten Sie ein Glas Punsch oder einen St. Gris – ich habe es nicht verstanden.«

Kapitän Becker lachte. »Einen St. Gris.«

»Johnny, ein Glas St. Gris für den Herrn da«, und damit kehrte er sich ab und schritt wieder langsam zur Kegelbahn, ohne sich weiter um den Seemann zu kümmern. Becker lächelte still vor sich hin, bezahlte und trank das gebrachte Glas und sah dabei den Keglern zu. Der Lärm wurde ihm hier aber zu groß. Dichter, unangenehmer Tabaksqualm lagerte außerdem in dem dunstigen, menschengefüllten Raum. Er ging wieder nach vorn zur Trinkstube.

Der Kapitän hatte sich nämlich vorsichtshalber einen Mann von der Wasserpolizei mitgenommen. Der Beamte in Zivil wartete auf ihn in der unteren Trinkstube. Man wußte nie, was an solchen Orten vorfiel, und außerdem konnte ihm ja auch der eine oder andere seiner weggelaufenen Matrosen in einer solchen Kneipe über den Weg laufen. Dann war es erforderlich, rasch die gesetzliche Hilfe zur Hand zu haben.

In der Trinkstube ging es inzwischen zu wie in einem Bienenstock. Viele kleine Trupps mit Matrosen schwärmten da ein und aus. Viele »Damen« waren ebenfalls anwesend. Sie tranken ihren Brandy, rauchten ihre Zigarren und gingen dann und wann einmal hinauf in den Tanzsaal. Eine wirklich erstickende Luft herrschte in dem engen Raum. Der Kapitän trat deshalb nur in die Tür, um sich nach seinem Begleiter umzusehen und ihm zuzuwinken.

Er konnte ihn nicht gleich in dem Gewirr entdecken, denn der Mann hatte sich mit einem Glas Grog in eine Ecke gedrückt und saß da still beobachtend, ohne sich anscheinend um irgend etwas zu kümmern.

Am Schanktisch hatten auch ein paar ganz junge Burschen gestanden und sich ihr Glas Grog wie die älteren geben lassen. Dazu rauchten sie, schon weniger zuversichtlich, eine Zigarre. Jetzt waren sie mit ihrem Getränk fertig und drängten durch die Menge zur Tür, um das Lokal zu verlassen. Hier stand ihnen für einen Moment der Kapitän im Wege, der eben auf die Schwelle trat.

Der Polizist, der schon den Kopf seines Begleiters gesehen hatte, war aufgestanden und kam auf ihn zu. Einer der Burschen sah zu dem Seemann und sagte: »Please, Sir!« Er wollte vorbeigehen, blieb aber wie ein Bild des Entsetzens stehen. Mit weit aufgerissenen Augen und geöffnetem Mund starrte er den Kapitän an.

Kapitän Becker hatte gleichgültig dem Burschen Platz machen wollen, als er zu seinem großen Erstaunen seinen weggelaufenen Schiffsjungen erkannte, der ihm in die Fänge gelaufen war. Vor Schreck schien er unfähig, sich zu bewegen und schien noch nicht einmal an Flucht zu denken.

»Na, Hannes, mein Junge«, sagte da Kapitän Becker. Sein Gesicht glühte vor Vergnügen. Er bückte sich leicht, um in das Gesicht des armen Teufels zu sehen. »Ist es denn die Möglichkeit? Und wie geht's denn? Wie war's denn oben in den Minen? Hübsch?«

Das brachte den Jungen wieder zu sich. Rettung war nicht mehr möglich, das Entsetzlichste war geschehen und er jetzt nur der Gnade seines Vorgesetzten ausgeliefert. In diesem Gefühl handelte er.

»Ach, Käptn, ach Käptn!« schrie er und fiel vor ihm auf die Knie. »Ach bester, schönster Käptn, Gnade, Gnade! Ich will ja nie wieder weglaufen!«

»Sieh sich einer diesen lieben Jungen an«, schmunzelte der Kapitän, der den Jungen fast zärtlich betrachtete. »Was ist das doch für ein Vergnügen, wenn sie ein paar alte Freunde unverhofft wieder begegnen. Wo geit et denn, min Jong?«

»Ach, Käptn, Käptn, ich will's ja in meinem ganzen Leben nicht wieder tun«, beteuerte der Junge. Ihm war das Freundliche seines Kapitäns viel schrecklicher, als wenn er ihn am Kragen gefaßt und geschüttelt hätte. Was ihm jetzt hier geschenkt wurde, würde er zehnfach an Bord erhalten. »Ich bin ja verführt worden. Die anderen haben mich mitgenommen, damit ich nichts verrate. Wenn ich nicht gegangen wäre, hätten sie mich alle verhauen!«

»Armer Junge«, sagte der Kapitän mit lakonischem Bedauern. »Was du für ein Pech hast! Die eine Partei haut dich, wenn du nicht mit willst, die andere, wenn du mit willst. Also, jetzt bin ich dran, nicht wahr, mein Hannes?«

»Ach, Käptn, ich kann ja nichts dafür«, klagte der unglückliche Junge weiter. »Ich will's ja auch nicht wieder tun. Ich will's in meinem Leben nicht wieder tun, wenn Sie mir diesmal vergeben!«

Natürlich hatte sich bei diesem kleinen Intermezzo sofort eine Masse der Müßiggänger um die beiden versammelt. Wo jeder wußte, wie viele Matrosen von den Schiffen flohen und die Offiziere jeden Abend die Stadt nach den Flüchtlingen absuchten, erriet auch jeder im Zimmer, um was es hier ging.

Besonders die Frauen nahmen für den Schiffsjungen Partei. Mit lauten Ausrufen bekundeten sie ihr Mitleid, während ein paar in der Nähe stehende Matrosen auf praktischere Art helfen wollten.

»So lauf doch, du Holzkopf!« flüsterte ihm einer zu und bückte sich dabei halb. »Wir helfen dir!«

Der Junge warf ihm einen scheuen, zweifelnden Blick zu, als wenn er auch nicht recht an dessen Worte glauben dürfte.

»Halt, Gentlemen!« sagte in diesem Augenblick der Polizist, der hinzugetreten war. Er zog sein Hutband mit der Aufschrift »Waterpolice« aus der Tasche. »Der Junge ist mein Gefangener, im Namen der Königin! Ihr laßt die Finger von ihm, wenn Ihr keine Unannehmlichkeiten haben wollt!«

»Aha, Mr. Haltfest!« brummte der Matrose und zog sich scheu zurück. »Nichts für ungut, was geht mich der Junge an?«

»Ist das einer davon, Kapitän?« erkundigte sich der Polizist bei Becker, ohne den Matrosen weiter zu beachten. Der Mann wußte recht gut, daß sich niemand offen der Polizei widersetzen würde.

»Das ist der größte Lump«, bestätigte der Kapitän. »Lassen Sie gerade den nicht wieder entkommen.«

»Keine Angst«, beruhigte der Mann und legte dem Schiffsjungen Handschellen an. »Den haben wir sicher genug. Gehn wir jetzt?«

»Gehen wir«, erwiderte Becker vergnügt. »Mit so viel Glück hatte ich nicht gerechnet. Bis übermorgen früh müssen Sie ihn festhalten. Denn an Bord darf ich ihn nicht eher nehmen, als bis wir zum Auslaufen fertig sind.«

»Er kommt zu den anderen. Die werden sich freuen, wenn sie wieder alle zusammen sind.«

Die Anwesenden hätten dem Jungen gern geholfen, und Kapitän Becker hätte ihn nie allein aus dem Zimmer über die Straße gebracht. Mit der Polizei war aber nicht zu spaßen. Was die einmal hatte, hielt sie, und die beiden Männer konnten mit ihrem Gefangenen unbehelligt das Haus verlassen.

Eine Viertelstunde später saß Hannes bei seinen früheren Kameraden, dem Segelmacher, dem Koch und Christian. Er hatte den Kopf zwischen den Knien und vergoß bittere Tränen. Alle waren wohl verwahrt hinter eisernen Stäben und doppelten Eichentüren. Kapitän Becker ging vergnügt die George Street hinauf, um zur vereinbarten Zeit bei Mr. Pitt einzutreffen. Er hatte über dem glücklichen Fang die fatale Geschichte mit Holleck ganz vergessen.


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