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20. Die Hochzeit

Nicht weit entfernt vom Anlegeplatz der Dampfer in Paramatta stand das Steamer-Hotel. Es war ein nicht sehr großes Gebäude, das aber bislang allen Anforderungen genügt hatte. Aber jetzt waren die acht oder zehn Zimmer im Haus regelmäßig jeden Tag belegt. Wer ein Zimmer für einen bestimmten Tag haben wollte, mußte es vorher anmelden, und auch dann konnte es fehlschlagen.

So waren auch heute die Zimmer bestellt und ausnahmsweise auch pünktlich frei geworden. Um elf Uhr fuhr eine zweispännige, sehr elegante Kutsche vor und setzte einen Herrn und zwei Damen ab: Mr. Pitt mit seiner Frau und Tochter.

Seit einer Stunde lag schon ein abgegebener Brief für ihn bereit. Er kam von Charles, der ihm mit überschwenglichen Worten sein Glück schilderte und ihn bat, bis zwei Uhr alles bereitzuhalten. Kurz vor zwei Uhr würde er mit seiner Braut und in Begleitung von Mr. Sutton in Paramatta eintreffen.

Hochzeitsvorbereitungen brauchte man nicht sehr viel in Australien. Alle die entsetzlichen Scherereien mit Heimatschein, Aufgebot, Tauf- und Impfscheinen, Vermögensausweis und all den Dingen, die einem ehrlichen Menschen in Deutschland das Leben verbittern und das Heiraten verleiden können, fehlen hier. Man mußte nur zu einem Geistlichen gehen, und die Hochzeit konnte schon eine Stunde später stattfinden. Dazu kam, daß Mr. Pitt den Geistlichen persönlich kannte.

Das einzige, was Mr. Pitt außerdem tat, war, daß er eine Anzahl Kinder in den Busch schickte, um wilde Blumen und Blüten in großer Menge herbeizuholen. Der australische Busch hat davon ja überreichlich zu bieten, und Mrs. Pitt schmückte mit Pauline gemeinsam die kleine Kirche. Sie war bald in einen Blumengarten verwandelt.

Charles hielt pünktlich seine Zeit ein. Eben schlug es zwei Uhr, als der kleine Einspänner vor dem Hotel hielt. Mr. Sutton begleitete sie auf einem Pferd. Wenige Minuten später lag Gertrud in den Armen ihrer Schwiegermutter und Schwägerin. Sie wurde sehr herzlich von allen aufgenommen.

Schon nach ganz kurzer Zeit hatte Gertrud das Gefühl, nicht mehr allein zu sein. Die Familie Pitt brachte ihr soviel Herzlichkeit entgegen, daß sie förmlich aufblühte.

Aber auch Charles war glücklich. Die Angst, Gertrud würde sein Angebot ablehnen, war von ihm gewichen, wie eine Last von seiner Seele genommen. Er fühlte aber auch, daß Gertrud freier und glücklicher mit ihm sein würde.

Sie hatten nicht viel Zeit in Paramatta zu verlieren. Mr. Pitt hatte bestimmt, daß sie mit dem um vier Uhr abgehenden kleinen Dampfer nach Sydney zurückkehren wollten. Der Wagen fuhr leer in die Stadt zurück, und Charles' Einspänner konnte morgen abgeholt werden.

Die Kirche, in der die jungen Leute getraut werden sollten, lag kaum zweihundert Schritt vom Hotel entfernt und unmittelbar am Ufer des Paramattaflusses. Der Fluß war, wie fast alle australischen Flüsse, nur so weit schiffbar, wie Ebbe und Flut ihre Wirkung ausüben.

Es war ein reizender Punkt, und überall fiel das Auge auf freundliche Villen, eingezäunte Felder und grüne Wiesen. Den Fluß selbst belebten viele kleine und größere Fahrzeuge. Aber die glücklichen Menschen kümmerten sich jetzt nicht um diese Szenerie. Selbst Mrs. Pitt, deren Lieblingsplatz sonst diese Stelle war, achtete nicht darauf. Sie hatte nur Augen für die junge Braut, die schüchtern in ihrem einfachen Kleid am Arm von Mr. Pitt ging.

»Wie schön sie ist«, flüsterte sie leise Pauline zu. »Ich kann es Charles nicht verdenken, daß er sie sich ausgesucht hat. Sie sieht lieb und gut aus, hat aber irgendwie einen schmerzlichen Zug um den Mund. Armes Kind, was mag sie wohl in ihrem Leben schon mitgemacht haben, blutjung, wie sie ihre Heimat verlassen mußte, um ihr Brot bei fremden Menschen zu verdienen?«

Pauline antwortete nicht. Es war ihr heute selbst wehmütig zumute. Gerade heute trat wieder der Augenblick in ihre Erinnerung, in der Holleck entlarvt wurde. Wenn sie nun seine Frau geworden wäre und erst dann entdeckt hätte, welchen Beruf er eigentlich ausübte? Sie wäre für ihr Leben unglücklich gewesen.

Wieder andere Bilder tauchten vor ihr auf, eine andere, freundliche Gestalt. War es möglich, daß sie noch einmal vertrauen konnte, wo sie so schwer getäuscht war? Die Gedanken schwirrten ihr wild durch den Kopf, und sie stand in der Kirche vor dem Altar, ehe sie richtig wußte, wie sie dahin gekommen war.

Jetzt begann die Zeremonie, die der Geistliche mit einfachen Worten einleitete. Gertrud stand neben Charles wie ein bleiches, regungsloses Marmorbild. Schon einmal hatte sie so dagestanden, und sie wurde fast ohnmächtig, als diese Szene vor ihr wieder auftauchte. Mit aller Kraft mußte sie sich zusammenreißen, um stehen zu bleiben.

»Willst du dem Mann an deiner Seite folgen in Freud' und Leid? Willst du bei ihm ausharren in Kummer und Schmerz, in Krankheit und Trübsal und ihm eine treue Frau sein?«

»Ja.« Ihre Lippen hauchten das Wort nur, aber der Klang war klar und deutlich genug gewesen, um sie zu binden. Jetzt legte der Geistliche ihre Hände ineinander, Charles legte anschließend den Arm um sie und zog sie sacht an sich. Als sie zu ihm aufsah und einen Blick zu ihrer Schwiegermutter warf, da entdeckte sie dicht hinter den Familienangehörigen ein Paar dunkelglühender Augen, die sie zornig ansahen. Einen Augenblick stand sie starr vor Entsetzen, den Arm vorgestreckt, wie um das Bild von sich abzuwehren. Dann brach sie lautlos zusammen.

Jack hatte in dem kleinen Wirtshaus von Patrick O'Flannaghan gesessen, die Ellbogen auf dem Tisch, den Kopf in die Hand gestützt. Ein großes Blechgefäß mit Portwein stand auf dem mit Tabakasche, Bierresten und Pfeifenanzündern übersäten Tisch. Aber er brütete nicht lange so. Wild und trotzig flog sein Blick durch den kleinen Raum, um die ihn umgebenden Gesichter zu mustern.

Aber hier kümmerte sich niemand um den Fremden. Die Leute sprachen von nichts anderem als von Gold.

Die meisten Gäste gehörten zu den »Old Coves«, Leuten, die »ihre Überfahrt nicht bezahlt hatten« – also auf Staatskosten herübergeschafft wurden. Es waren »Ticket of leave men« und Leute, die ihre Zeit hier in Australien abverdient und dann vorgezogen hatten, im neuen Weltteil zu bleiben, statt in den alten mit neuer Arbeit und Sorgen zurückzukehren. Aus allen Teilen von Neusüdwales kamen sie hier zusammen. Fast jeder hatte eine Vergangenheit, die einen Romanautor glücklich gemacht hätte, aber keiner war stolz darauf oder prahlte damit. Alle lebten nur für die Zukunft, die ihnen goldene Schätze versprach.

Aber selbst mit diesen Leuten unterhielt sich der einsame Trinker nicht. Wenn er auch in Verbrechen groß geworden war, widerte ihn das rohe, wüste Volk an, mit dem er nie eine Gesellschaft bildete, ausgenommen, er brauchte sie für seine Zwecke. Ein paar an ihn gerichtete Fragen beantwortete er kurz und ausweichend. Er schien überhaupt nur gezwungen hier zu sein und jemand zu erwarten, denn wenn ein neuer Gast eintrat, sah er rasch zur Tür.

»Dein Pferd hat sich lahmgelaufen, Mate«, sagte der Wirt, der zu ihm trat, beide Hände auf den Tisch stützte und ihn forschend ansah.

»Ich weiß es.«

»Willst du ein anderes kaufen? Ich habe gleich nebenan einen guten Rappen im Stall, den ich dir für einen Spottpreis lassen könnte. Er ist jetzt fünfundzwanzig Pfund Sterling unter Brüdern wert. Ich würde ihn dir für achtzehn lassen.«

»Danke. Wenn du mein Pferd kaufen willst, können wir eher einen Handel machen.«

»So?« brummte der Ire. »Scheint ein gutes Tier zu sein, ist aber mordsmäßig geritten worden. Du kommst wohl weit aus den Bergen herunter?«

»Ja.«

»Und bist in großer Eile, hehe?«

»Weshalb?«

»Na, ich meine nur. Hast du den Kaufbrief von dem Schimmel?«

Jack sah langsam zu dem Sprecher auf, um dessen Augen ein spöttisches Lächeln zuckte. Er war aber nicht in der Stimmung, auf einen Scherz einzugehen, und erwiderte finster:

»Wenn du besondere Lust hast, den Schimmel zu kaufen, kannst du auch das Papier bekommen. Bis dahin muß dich das nicht interessieren.«

»Oho, nichts für ungut«, lachte der Wirt. »War nur eine Anfrage und sollte nichts weiter bedeuten. Du bist hier unter Freunden.«

.»Das ist mehr, als mancher bessere Mann von sich sagen kann«, brummte Jack, strich sich die Haare aus der Stirn und drehte dabei den Kopf langsam zum Fenster. Im nächsten Augenblick fuhr er rasch empor, denn er hätte schwören können, daß er für einen kurzen Moment das Gesicht des Schwarzen erkannt hatte. Er konnte sich nicht geirrt haben, schon der Hut verriet ihn. Aber wie kam der hierher, und was wollte er?

Jack sprang rasch ans Fenster und sah hinaus, aber der Eingeborene war verschwunden – wenn er es überhaupt war. Trotzdem fühlte sich Jack nicht mehr behaglich. Er wollte Gewißheit haben, ob der Wilde nur zufällig hereingesehen oder ihn sogar aufgespürt hatte. Aber er verwarf den Gedanken wieder. Bei dem scharfen Galopp hätte der Schwarze Flügel haben müssen, um ihm zu folgen.

Trotzdem hielt es ihn nicht mehr lange in dem engen Raum. Er zahlte seine Zeche, griff seinen Hut auf und wollte das Zimmer verlassen.

»Soll ich dem Schimmel nicht lieber eine Handvoll Hafer geben?« fragte der Wirt. »Er sieht aus, als ob er's braucht.«

»Hast du einen Stall?«

»Den besten in der ganzen Nachbarschaft. Viele Gentlemen aus Sydney stellen ihre Pferde bei mir ein.«

»Gut, Mate, dann tu mir den Gefallen und bring den Schimmel unter Dach und Fach und behalte ihn hier, auch wenn ich heute nicht wiederkommen sollte. Fragen wird wohl niemand nach mir.«

»Fragen könnten sie schon, würden aber verdammt wenig von Patrick O'Flannaghan herausbekommen«, lachte der Wirt verschmitzt.

Jack wollte etwas erwidern, aber es war vielleicht besser, den Burschen als Freund zu haben. Er nickte ihm nur zu und verließ das Haus, bog in die Nebengasse ein und schlenderte langsam zum Anlegeplatz. Er wußte noch nicht, ob er mit dem Dampfer nach Sydney gehen sollte, und wollte sich erst einmal aus der Nähe Boot und Bootsleute ansehen.

Aber er konnte den Gedanken an den Eingeborenen nicht loswerden. Er mußte auf alle Fälle vorsichtig vorgehen. Deshalb trat er noch einmal in ein kleines Wirtshaus am Flußufer, eine Matrosenkneipe wie die frühere. Von hier aus konnte er die Passage besser übersehen. Nichts Verdächtiges fiel ihm hier auf. Einmal ging ein Polizist vorbei und kehrte um, betrat das Lokal und ließ sich ein Glas Brandy geben. Aber Jack achtete nicht auf ihn. Er blieb mit seinem Glas am Fenster sitzen, und der Mann schien keine Notiz von ihm zu nehmen. Er trank seinen Brandy aus, zahlte und verließ das Zimmer wieder, ohne mit einem der Gäste ein Wort zu wechseln.

Jack sah ihm nach, wie er langsam die Straße herunterging, als plötzlich eine größere Menschenmenge seinen Blick fesselte. Es war ein kleiner Zug, vorweg ging ein älterer Herr mit einem jungen Mädchen. Ihnen folgten ein etwas beleibter Mann mit einem geschmückten Mädchen. Dieses Gesicht – er schreckte von seinem Stuhl empor, als hätte ihn ein elektrischer Schlag getroffen. Aber es ging alles zu rasch. Die kleine Gruppe war schon vor dem Fenster vorbeigegangen, ehe Jack einen Gedanken fassen konnte.

Neben ihm stand der Wirt, der ebenfalls auf die Straße hinausgesehen hatte und schmunzelnd sagte:

»Ein wirkliches Prachtmädchen, Charles Pitt hat doch wirklich einen guten Geschmack.«

»Wer war das?« erkundigte sich Jack, der wie in einem Traum auf die Straße starrte.

»Das? Mr. Pitt aus Sydney, dessen Sohn heute ein junges Mädchen von Mr. Suttons Station heiratet. Kennen Sie Charles Pitt nicht? 's ist einer der reichsten Leute in Sydney. Er hat heute die Kirche da drüben so mit Blumen und Laub tapezieren lassen, daß man kaum noch etwas von der Wand sieht. 's ist aber nett von den Leuten, daß sie ihren Jungen ein so armes Mädchen heiraten lassen. Stammen auch nicht von was Großem ab, der alte Pitt, na, den werden Sie doch kennen, Mate, oder Sie haben schon von ihm gehört. Bei den ›old coves‹ hieß er immer nur der Pumpkin.«

Jack hörte gar nicht mehr, was der Wirt sagte. Sein Blick haftete noch immer an der Stelle, an der er die Braut gesehen hatte.

»Wollen wir uns die Hochzeit mit ansehen?« sagte der Wirt. »Die Kirche ist nebenan, keine dreißig Schritt von hier. Das war auch eine merkwürdige Geschichte, wie der junge Pitt seine Braut kennengelernt hat. Gerade als die Mail, die uns die erste Nachricht von der Goldentdeckung mit herunterbrachte...«

Jack griff seinen Hut auf und wandte sich der Tür zu.

»Warten Sie, ich komme mit«, rief der Wirt, »und erzähle Ihnen die Geschichte unterwegs. Ist das ein komischer Kauz!« brummte er aber lachend vor sich hin, als Jack in seiner Aufregung gar nicht auf ihn achtete und schon aus der Tür stürzte, so daß er ihm kaum folgen konnte. Im Freien suchte sein Blick sofort wieder die Gruppe. Er achtete auf nichts anderes, sah nicht die kleinen Gruppen, die sich sammelten und zur Kirche drängten, sah nicht einmal seinen alten Feind, den Eingeborenen mit Frack und Hut, der sich scheu hinter einen der Uferkräne drückte, als er ihn entdeckte. Von diesem Augenblick ließ er den Weißen nicht mehr aus den Augen, bis er ihn in der Kirchentür verschwinden sah.

»Donnerwetter, Mate«, lachte der Wirt, der ihn hier wieder eingeholt hatte. »Sie brennen ja richtig darauf, dabei zu sein. Aber was hilft's uns – wir haben nur das Nachsehen und können uns den Mund wischen.«

Sie betraten den kleinen, hübsch geschmückten Raum. Aber ein Gespräch ließ sich hier nicht mehr führen. Es war in Paramatta bekannt geworden, daß der Bräutigam der junge Mann sei, der bei einem Mailüberfall von den Bushrangern lebensgefährlich verletzt wurde und auf English Bottom seine Frau kennengelernt hatte.

Besonders die Frauen interessierten sich für diesen Fall. Keine wollte versäumen, das Brautpaar zu sehen, das sich auf so eigentümliche Weise gefunden hatte. Die einfachen Tatsachen genügten natürlich den Leuten schon lange nicht mehr. Sie mußten dazuerzählen, bis schließlich eine kleine Novelle daraus entstand, die begierig aufgenommen und weitergetragen wurde.

Die Klänge der Orgel hallten voll und melodisch durch den gewölbten Bau. Was nur vordrängen konnte, drängte vor, um das Gesicht des Bräutigams und der Braut während der Zeremonie beobachten zu können. Seit die Kirche stand, war sie selten so mit Zuhörern gefüllt gewesen wie zu dieser Hochzeit.

Jetzt schwieg der Choral, der Geistliche hielt eine Ansprache, die mancher Frau und manchem Mädchen die Tränen in die Augen trieb. Jetzt kam der eigentliche Höhepunkt, die Formel selbst, mit der das Bündnis geschlossen wird. Wie lieb dabei die Braut aussah, aber auch wie totenbleich! Sie sah fast aus, als erwarte sie von den Lippen des Geistlichen ihr Todesurteil.

»Eine Seele von einem Mädchen«, flüsterte eine alte Frau einer anderen zu. »Sie weiß, welch wichtigen Schritt sie heute tut und damit ein Leben gebunden ist. Und noch so jung ist das arme Ding!«

»Na, jetzt hat sie ihn!« sagte die andere, die den Augenblick abgewartet hatte. »Jetzt beißt keine Maus mehr einen Faden ab.«

»Mein liebes Herz«, flüsterte Charles, als er seine Frau in den Arm nahm und an sich preßte. »Aber du zitterst ja!«

»Gertrud, mein liebes Kind«, sagte die Mutter Pitt und streckte die Arme nach ihr aus. Hinter der Gruppe drängte sich jetzt ein Mann heran, der während der Zeremonie keinen Schritt vorwärts machen konnte. Er wollte der Braut ins Gesicht sehen. Dicht hinter Mrs. Pitt stand er jetzt unbeachtet. Als Gertrud sich umdrehte, um ihre Schwiegermutter zu umarmen, begegnete ihr Blick dem Fremden. Ebenso rasch brach sie auch zusammen. Mr. Pitt behielt kaum noch Zeit, sie aufzufangen und vor dem Sturz auf die Steine zu bewahren.

Nur Charles war dem starren Blick Gertruds gefolgt. Dabei blieb sein Blick auf dem bleichen und starren Gesicht des Fremden haften. Wer um Gottes willen konnte der Mann sein? Eine wilde Ahnung durchzuckte ihn. Als er sah, wie sich der Mann abwandte, drängte er ihm fast unwillkürlich nach, faßte seinen Arm und sagte mit vor innerer Wut kaum hörbarer Stimme:

»Wer sind Sie?«

Jack war im Begriff, die Kirche wieder zu verlassen. Er mußte seine Gedanken sammeln, ehe er handeln konnte. Sein Verdacht hatte sich bestätigt. Er hatte Gertrud erkannt, und daß er sich nicht geirrt hatte, wurde durch ihr Verhalten bestätigt. Aber was konnte er hier tun? Durfte er als gesuchter Verbrecher sein Recht geltend machen, das ihn nur dem Gericht in die Hände geliefert hätte? Er preßte die Zähne so fest zusammen, daß sie knirschten. In dem Augenblick hatte ihn Charles erreicht.

Höhnisch sah er ihn an.

»Wer ich bin, wollen Sie wissen?«

Charles nickte, denn er konnte keinen Laut herausbringen.

»Narr!« lachte der Bushranger, beugte sich zu ihm hinüber und brachte seine Lippen dicht an sein Ohr. »Wenn Sie's denn absolut wissen wollen – der Mann von der Frau da.«

Er machte seinen Arm frei und drängte sich rasch durch die Umstehenden und war im nächsten Augenblick aus der Kirche.

In der Kirche hatte sich niemand weiter um Jack gekümmert, denn alle Augen hingen an dem ohnmächtigen Mädchen. Und Charles? Wie ein Blitzschlag hatten ihn die wenigen Worte getroffen. Bleich, zu keiner Bewegung fähig, stand er mit ausgestrecktem Arm und sah der Gestalt nach.

Jack hatte bereits die Tür erreicht. Noch einmal drehte er den Kopf zurück. Niemand folgte ihm, alles drängte mechanisch nach vorn. Mit einem höhnischen Lachen trat er ins Freie.

Kein Zuschauer in der Kirche ahnte die Ursache des Zwischenfalls oder hatte den Fremden beachtet. Alle sahen nur auf das blasse Mädchen, und ein frohes »Ah!« ging durch die Runde, als sich die dunklen, großen Augen wieder öffneten und sich erschrocken umsahen.

Damit schwand aber auch das Interesse der Umstehenden. Ein neues Gerücht zuckte plötzlich von Mund zu Mund. »Draußen vor der Kirchentür haben sie einen Bushranger gefangen!« Jetzt drängte alles hinaus, um sich ja den neuen Genuß nicht entgehen zu lassen. Wieder waren es besonders die Frauen, die nach draußen stürzten, um den gefangenen Bushranger zu sehen.

Die Familie blieb mit dem Geistlichen allein zurück. Auch Charles hatte seine Besonnenheit zurückgewonnen. Er kniete neben seiner Frau und flüsterte ihr ins Ohr:

»Nur Mut, du gehörst jetzt zu mir, und alles wird gutgehen. Ich schütze dich, vertraue mir und mach dir keine Sorgen!«

Wieder schloß Gertrud die Augen, die Erinnerung an den furchtbaren Blick erfüllte sie. Aber gewaltsam schüttelte sie das ab und drückte die Hand ihres Mannes. Lächelnd sagte sie leise:

»Seid mir nicht böse, daß ich euch so einen Schrecken eingejagt habe, aber ich konnte mir nicht helfen – es kam so plötzlich über mich...«

»Liebes Kind«, sagte Mrs. Pitt und zog sie an sich. »Sprich nicht davon, es ist überstanden. Laßt uns jetzt nach Hause fahren. Das Boot muß bald abgehen, und in unserer Mitte wirst du dich bald von der natürlichen Aufregung erholen.«

»Möchten Sie nicht lieber die junge Dame erst einen Augenblick in die Sakristei führen?« wandte der Geistliche ein. Er stand dem jungen Paar gegenüber und hatte den Mann gesehen. Unwillkürlich brachte er ihn mit dem eingefangenen Verbrecher in Verbindung. Aber er war mitfühlend genug, um keinen Verdacht in diese Richtung auszusprechen. »Draußen hat es einen Auflauf gegeben, und bei dem Gedränge sind Sie besser hier aufgehoben. Bis zur Abfahrt des Dampfers bleibt Ihnen noch eine gute halbe Stunde.«

»Sie haben recht, herzlichen Dank für den Rat«, sagte Charles, der unter allen Umständen ein erneutes Zusammentreffen vermeiden wollte.

»Aber was ist denn geschehen, weshalb drängen die Menschen so plötzlich hinaus?« fragte Frau Pitt.

»Es ist nichts«, antwortete Charles abwehrend. »Ich glaube, sie haben einen Taschendieb erwischt.«

»Der wird sich wahrscheinlich das Gedränge zunutze gemacht haben«, sagte Mr. Sutton. »Gehen wir in die Sakristei.«

»Wenn Sie wollen, können Sie auch von dort aus die Kirche durch eine kleine Tür verlassen«, bemerkte der Geistliche. »Sehen Sie, die junge Dame ist schon wieder kräftig genug, um zu gehen. Es war eine vorübergehende Schwäche, die genauso schnell geht, wie sie kommt. Sie werden sehen, daß Sie sich in einer halben Stunde...«

Er hielt plötzlich inne, denn drei, vier Schüsse fielen draußen in kurzen Zwischenräumen.

»Um Gottes willen, was ist das?« rief Gertrud entsetzt.

»Nichts Ungewöhnliches«, beschwichtigte der Geistliche. »Das junge Volk schießt und schreit bei Hochzeiten gern, um so viel Lärm wie möglich zu erzeugen. Lassen Sie sich dadurch nicht erschrecken. Kommen Sie nur in die Sakristei. Von dort führen wir Sie dann sicher nach Hause.«

»Ich werde den Wagen herbestellen«, sagte Mr. Sutton.

»Und ich begleite Sie«, rief Charles. Er wollte unbedingt Aufschluß über die Ereignisse haben.

Wieder knatterten ein paar vereinzelte Schüsse, aber es konnte kein Kampf sein, denn lautes, jubelndes Lachen der Menge an der Tür schallte herein. Gertrud folgte den Freunden in die kleine, stille und freundliche Klause des Geistlichen.

Als Charles und Mr. Sutton aus der Kirche schritten, sagte der Stationsbesitzer: »Hören Sie sich diesen Aufruhr an. Was ist denn passiert? Und solange ich Gertrud kenne, hat sie noch nie eine Schwäche gezeigt. Sie ist mir immer viel zu hart als zu weich vorgekommen, und dann fällt sie in Ohnmacht. Als die ersten Schüsse fielen, wurde sie wieder blaß. Wissen Sie, was sie so furchtbar erschüttert hat?«

»Ja, Mr. Sutton«, erwiderte Charles. »Gertrud hat mir ihre früheren Erlebnisse geschildert. Aber fragen Sie uns bitte heute nicht danach, morgen sollen Sie alles erfahren. Dann werden Sie uns sicher mit Ihrem Rat und Beistand helfen.«

»Ganz bestimmt, junger Freund«, sagte der alte Herr und drückte ihm herzlich die Hand. »Sie können auf mich zählen. Aber was ist hier los?«

Die Menschenmenge war auf einige Hundert angewachsen, und alle schienen zum Flußufer zu drängen. Dort schossen sie mit Revolvern auf das Wasser. Weiter unten ruderten zwei Boote mit aller Kraft zur anderen Seite, als ob ihr Leben von der Schnelligkeit abhinge.

Um das zu verstehen, müssen wir zu dem Augenblick zurückkehren, an dem Jack zur Kirchentür ging. Rache mußte er haben, Rache an dem Wesen, für deren Besitz er seinen ersten Mord begangen hatte. Er hatte geraubt und gestohlen für sie, und sie sollte jetzt nicht mit einem anderen Mann glücklich werden, solange er es verhindern konnte. Rache, furchtbare Rache wollte er an der Unschuldigen verüben, die es gewagt hatte, ihn zu vergessen. Aber dazu mußte er erst in Sicherheit sein. Er tröstete sich vorerst damit, daß er schon durch sein bloßes Erscheinen ihre Ruhe zerstört hatte. Von jetzt an war sie keinen Moment sicher, ob er nicht kommen und seine älteren Rechte fordern würde.

Er war jetzt auch fest entschlossen, den Dampfer nach Sydney nicht zu nehmen. Wahrscheinlich ging die ganze Hochzeitsgesellschaft an Bord, und der mußte er zunächst ausweichen. Mit einbrechender Nacht würde er ein Pferd nehmen, und wenige Stunden später wäre er in Sicherheit.

In Sicherheit – mit diesem Gedanken trat er auf die Schwelle der Kirche und hinaus ins Freie – und fuhr im nächsten Moment erschrocken zurück. Aber es war schon zu spät. Vier kräftige Arme hatten ihn gefaßt, er bekam seine Hand nicht mehr frei, um den Revolver zu ziehen. Ehe er die Männer abgeschüttelt hatte, warfen sich weitere Polizisten auf ihn.

Keiner von denen, die den Verbrecher hier gefaßt hatten, hätten dem starken Mann im Einzelkampf auch nur eine Minute standhalten können. Aber die Übermacht war zu groß. Leutnant Beatty, durch den Eingeborenen wieder auf die richtige Fährte gebracht, hatte seine Leute so postiert, daß sie sich gegenseitig unterstützen konnten. Sie zwangen Jack die Arme auf den Rücken und seine Hände in die Darbies. Sein Schicksal war damit besiegelt.

So still und rasch das von der Polizei erledigt wurde, so wild hatte sich dabei der Eingeborene gezeigt. Er war fast außer sich vor Freude, den Feind überlistet zu haben. Er sprang um die Polizisten und jubelte und führte schließlich mit dem wirbelnden Waddie in der Hand einen Kriegstanz auf.

Es war ein seltsamer Anblick, die lächerlich gekleidete Gestalt des Wilden zu beobachten und zu wissen, welcher Haß und Blutdurst gegen das Opfer aus den dunklen, rollenden Augen glühte.

Die Polizei wollte sich aber nicht länger als nötig mit dem Gefangenen aufhalten, denn schon hatte sich verbreitet, was hier geschehen war. Immer mehr Leute drängten aus der Kirche heraus und kamen auch von allen Seiten herbeigeströmt. Als sie Jack wegführen wollten, hielt der Eingeborene in seinem Tanz inne, sprang auf Beatty zu und stellte sich dicht vor den Gefangenen. Mit finsterer, drängender Stimme sagte er:

»Dürft ihn nicht wegnehmen von mir. Der ist mein!«

»Wer, Bursche?« sagte der Leutnant und sah ihn erstaunt an.

»Der da – der Zauberer!« rief der Wilde, und sein Gesicht war vor Haß verzerrt.

»Unsinn, daraus wird nichts«, erwiderte Beatty kopfschüttelnd. »Der gehört den Gerichten, die ihn bestrafen. Was du gegen ihn zu klagen hast, mußt du da vorbringen. Ich glaube aber, er hat schon genug auf dem Kerbholz. Aber deine Belohnung ist dir sicher. Komm morgen zur Polizei nach Sydney, da soll sie dir reichlich ausgezahlt werden!«

»Aber er ist mein, nicht Euer!« rief der Wilde noch einmal im auflodernden Zorn. »Er hat die alte Frau verzaubert, und ich muß dafür sein Blut haben.«

»Komm morgen zu mir nach Sydney, da regeln wir alles«, sagte Beatty, um ihn jetzt loszuwerden. »Geh uns aus dem Weg, laß uns vorbei, es nutzt dir nichts.«

»Nutzt dir nichts?« wiederholte der Eingeborene und starrte wild und finster den Gefangenen an.

Jack stand dicht vor ihm, die Hände auf dem Rücken gefesselt und von zwei Leuten noch am Arm gehalten. Der Hut war ihm beim Kampf vom Kopf gefallen, das Haar hing ihm wirr und feucht um die Stirn. Sein Gesicht war erregt, aber er sah den Wilden fest, ja, höhnisch an. Er haßte und verachtete die ganze Rasse.

Der Eingeborene stand vor ihm, den zerdrückten Filz auf dem wildgelockten Haar, die zerrissenen und beschmutzten europäischen Kleider auf dem sonst nackten Körper. Sein elastischer Körper war wie zum Sprung halb zurückgebogen, den Waddie hielt er fest und krampfhaft in der Hand. Sie wollten ihn wegschicken, weg von seinem Opfer, dem er wie ein Wolf nachgespürt hatte die langen Tage und Hunger und Durst gelitten, nur wegen seiner Rache?

»Na, wird's bald? Aus dem Weg da!« rief einer der Polizisten und faßte ihn am Arm, um ihn wegzuschieben.

»Mein ist er!« schrie der Wilde da mit gellender Stimme. Sein rechter Arm bog sich zurück, und ehe auch noch ein Mensch ahnte, was er beabsichtigte, schwirrte der Waddie durch die Luft und schmetterte mit furchtbarer Kraft auf die Stirn des Gefangenen nieder.

Es war ein dumpfer, matter, unheimlicher Ton, mit der die Waffe den Schädel traf. Sie drang bis zur Hälfte ein – ein zweiter Schlag war nicht nötig. Jack brach wie von einer Kugel getroffen tot zusammen. Für seine Wärter kam der Angriff so überraschend, daß keiner sich rührte, um den Schlag abzuwehren.

Der Eingeborene wußte aber recht gut, daß er eine Tat begangen hatte, die die Rache der Fremden auf ihn lenken würde. Wie eine Schlange glitt er unter den rasch nach ihm ausgestreckten Händen dahin. Mit wenigen Sätzen war er am Flußufer. Hier wollte ihn ein junger Mann fassen, aber der drohend emporschnellende Waddie hielt ihn zurück. Tomjang, in der Rechten noch immer die blutige Waffe, nahm mit der Linken jetzt mit zierlicher Verbeugung den Hut ab, schwenkte ihn gegen die Menge und verschwand im nächsten Moment in den Fluten des Stromes.

Mit dieser raschen Handlung schien aber auch der Zauber gelöst, der sich auf alle lähmend gelegt hatte. Jetzt stürzten alle zum Wasserrand.

»Laßt ihn nicht laufen! Haltet ihn! Schießt!« schrie es wild durcheinander. Fünf, sechs Leute rissen ihre Revolver aus den Taschen. Ein paar Schüsse fielen, sowie die Leute den Flußrand erreichten. Aber die Verfolger hatten den auf dem Wasser schwimmenden Hut für den Kopf des Mannes gehalten, der längst darunter weggetaucht war.

»Wo ist er? Paßt auf, weiter unten kommt er wieder zum Vorschein! Die Strömung nimmt ihn mit! Der schwimmt gegen die Strömung! Paßt oben auf!« So gingen die Rufe hin und her. Der Schwimmer war jetzt schon so lange unter Wasser geblieben, daß es unmöglich schien, so lange ohne Luft zu bleiben. Da erschien er plötzlich wieder.

»Da! Da ist er! Schießt!« schrie es von allen Seiten. Sechs, acht Revolver knatterten fast gleichzeitig ihre Salven hinüber. Wie ein Schrotschuß schlugen die vielen Kugeln auf das Wasser.

»Das ist nur sein schwarzer Kittel!« rief eine Stimme, und lautes Gelächter der Umstehenden bestätigte die Entdeckung. Tomjang hatte unter Wasser den Frack ausgezogen und war selbst etwa zwanzig Schritt weiter nur mit dem Gesicht an die Oberfläche gekommen. Er schöpfte Luft und verschwand wieder spurlos.

Einige Bootsleute waren inzwischen ein Stück hinabgelaufen und hatten zwei Boote losgemacht. Mit kräftigen Ruderschlägen hielten sie jetzt auf den Strom hinaus. Der Eingeborene war aber auch auf diese Art nicht zu fangen. Solange er sich noch in Schußweite der kleinen Waffen befand, tauchte er. Von dem Moment an, wo er eine genügende Strecke zwischen sich und seinen Feinden glaubte, kam er keck an die Oberfläche und strich lang und kräftig aus, dem anderen Ufer zu. Aber er vermied es, an einer Stelle zu landen, wo Häuser standen. Etwas weiter unten reichte der Busch bis zum Wasser. Einzelne Sandsteinblöcke lagen zerstreut und abgebrochen am Ufer. Darauf hielt er zu. Die Leute in den Booten versuchten alles, um ihm den Weg abzuschneiden, aber Tomjang glitt wie ein Fisch durchs Wasser. Jetzt war er zwischen den Steinen, dann tauchte er oben zwischen den Büschen auf, drehte noch einmal den Kopf und warf mit einem Triumphgeheul seinen rechten Arm empor. Er schüttelte den Waddie gegen seine Verfolger und war im nächsten Augenblick im Dickicht verschwunden.

Als Charles mit Mr. Sutton vor die Kirche trat, war der Eingeborene schon aus dem Bereich seiner Verfolger. Die Polizisten, die keine Bewegung gemacht hatten, um den Mörder zu verfolgen, nahmen den Toten auf, um ihn in das Gebäude der Wasserpolizei zu tragen.

Dicht an ihnen vorbei gingen die Männer, und Charles griff schaudernd den Arm seines älteren Freundes. Sein Blick haftete auf den entstellten, blutigen Zügen des Erschlagenen. Mr. Sutton sah ihn forschend an, und ein eigener Verdacht stieg in ihm auf.

»Stand dieser Mann in irgendeiner Beziehung zu Gertruds Ohnmacht?« fragte er leise.

Charles nickte schweigend.

»Und wer war es?«

»Bitte, fragen Sie mich nicht«, bat Charles. »Gott hat ihn gerichtet, und schweres Leid ist von uns abgewendet worden.«


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