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12. Die Entdeckung

Es war ein tolles Gewirr von Steinmassen, das hier so wildzerstreut durcheinanderlag, als hätte ein furchtbares Erdbeben einmal den mächtigen Gebirgsstock auseinandergerissen und die einzelnen Felsbrocken dann gerüttelt und geschüttelt. Fast so wie ein Kind mit seinem neuen Baukasten spielt, aufstellt und dann die Steine wieder ungeordnet in den Kasten zurückwirft.

Hafften sah Felsstücke, die offensichtlich vor Jahrtausenden ein einziges Stück gebildet hatten. Deutlich waren die zusammenpassenden Erhöhungen und Vertiefungen zu erkennen. Jetzt lagen sie vier, fünf Schritte auseinander, so daß man zwischen ihnen hindurchgehen konnte.

Und wie merkwürdig solche Bergwände den Betrachter in der Entfernung täuschten! Als Hafften diese Hänge vom ersten Hügelrücken aus gesehen hatte, war es ihm vorgekommen, als ob sie sie spielend in einer halben Stunde erreichen könnten. Dann glaubte er, an dieser Seite weiter nichts als kahles Geröll mit einigen kleinen Steinplatten zu finden, zwischen denen sich an einzelnen Stellen spärlicher Baumwuchs Bahn gebrochen hatte. Und wie ganz anders sah das jetzt hier aus!

Ein wirkliches Chaos von Berg- und Felsentrümmern deckte und bildete den Hang. Er lief jetzt nach Südosten und schien sich immer weiter und mächtiger auszudehnen. Wahrscheinlich hing er mit dem Hauptrücken der sogenannten australischen Alpen zusammen. Was Hafften aber bedenklich erschien, war die Tatsache, daß sie die Quarzregion fast völlig verlassen hatten und ein Meer von mächtigen Granitblöcken betraten, durch das sich nur einzelne Porphyradern zogen. Hier und da trafen sie auf eine steil und jäh abfallende Wand, die sie mühsam umklettern mußten. Höher, immer höher in diese Bergwildnis hinein führte der Fremde den jungen Deutschen. Dabei schien er seiner Bahn so sicher zu sein, daß er an keiner noch so zweifelhaften Stelle zögerte. Er ging einmal rechts, dann links in die Spalten und Schroffen hinein und fand immer den richtigen Pfad, die sie auch an den schwierigsten und jetzt oft wirklich gefährlichen Stellen passieren ließ.

Hafften hatte sich bis jetzt genau nach der Sonne gerichtet, die an dem Morgen voll und klar aufgegangen war. Jetzt aber schien eine Wetteränderung einzutreten, denn vom Nordwesten her waren dünne Wolken aufgestiegen, die sich in Streifen in das Gebirge hineinzogen und dann tiefer zu sinken schienen, bis sie sich über die obersten Kappen legten – wie ein Netz. Schon sah die Sonne wie ein rotglühender Feuerball aus, der an der grauen Himmelsdecke klebte, und die Umrisse verschwanden mehr und mehr. Dann war die Stelle, an der sie stand, nur noch als heller Fleck erkennbar. Und jetzt schmolz auch der mit den dichter und fester werdenden Nebelmassen zusammen.

»Ist es noch weit?« erkundigte sich Hafften bei seinem Führer, als sie wieder einmal eine der gefährlichen Stellen erreichten, an denen ein Fehltritt den Kletterer in den Abgrund schicken konnte. »Das ist ein fürchterlicher Weg, und wenn uns der Nebel hier oben erwischt, wird uns nichts anderes übrig bleiben, als da, wo wir gerade sind, zu lagern und klare Luft abzuwarten. Ich habe keine Lust, Arm und Bein in dieser Wildnis zu brechen. Ein Mensch wäre da rettungslos verloren, und es bliebe ihm nichts weiter übrig, als sich eine Kugel durch den Kopf zu schießen.«

»Böser Nebel«, murmelte der Führer vor sich hin. »Böser, heimtückischer Nebel. Als ob die faulen Schwaden nur in den Spalten gelegen und auf uns gewartet haben. Jetzt wollen sie uns in die Irre führen, die Pest über sie! Aber ich kenne die schleichenden Gesellen, das sind die Wächter des Schatzes, die ihn vor Menschenaugen verbergen wollen und ihre weißen Arme ängstlich darüberbreiten. Aber es hilft ihnen nichts! Ich habe ihnen schon oft getrotzt, und wenn sie erscheint, dann müssen sie in ihre Felsenlöcher flüchten, und nichts darf von ihnen sichtbar bleiben. Fluch und Verdammnis über sie, es ist ein erbärmliches Volk, das nur gegenüber dem Schwachen und Hilflosen Mut hat.«

Der junge Mann war auf einem vorspringenden Felsen unmittelbar an einer steil abfallenden, schroffen Wand stehengeblieben und streckte die geballte Faust trotzig dem aufsteigenden Nebel entgegen. Sein Haar hing ihm dabei wirr um die Stirn, sein Gesicht war wieder blaß und erregt, und seine Augen funkelten, als ob er wirklich mit einem lebenden Wesen sprach und ihm seinen Zorn entgegenschleuderte.

Hafften sah ihn erstaunt an, denn so hatte er den jungen, sonst so ruhigen Mann noch nie gesehen. Aber seine gefährliche Haltung nahm seine Aufmerksamkeit mehr in Anspruch.

»Passen Sie auf, Kamerad«, rief er halb lachend, halb besorgt. »Sie stehen auf einer Miniaturklippe, von der keiner weiß, ob sie fest genug ist, das Gewicht eines Menschen zu tragen. Wenn Sie da hinabpoltern, habe ich nachher das Vergnügen, Sie den Weg zurückzutragen, wo ich schon selbst kaum noch auf meinen Füßen stehen kann. Tun Sie mir den Gefallen und kommen Sie von da weg«, fuhr er fort und ergriff seinen Begleiter, als der auf seine Worte gar nicht zu achten schien. Er zog ihn am Arm von der gefährlichen Stelle weg. »Ich werde nervös, wenn ich Sie da draußen wie einen Falken auf dem Turmsims stehen sehe, als ob Sie jeden Augenblick die Flügel ausbreiten und hinaus in den Nebel abstreichen wollen.«

»Noch nicht«, erwiderte sein Führer ganz ruhig. »Vorher müssen wir noch um diesen Bergkopf herum. Dort öffnet sich vor uns das weite Land, und wenn uns der Nebel keinen Streich spielt, verspreche ich Ihnen eine wundervolle Aussicht.«

»Und dann fliegen wir also«, lachte Hafften. »Sie erinnern sich aber hoffentlich daran, daß wir nicht nur wegen der Aussicht hier heraufgestiegen sind, sondern auch etwas Kompakteres suchen wollten. Mit Klettern und Ausruhen muß der Tag so ziemlich vergangen sein, und noch keine Spur von den versprochenen Schätzen. Haben Sie eine Ahnung, wie weit wir jetzt noch von Ihrem berühmten Goldsee entfernt sind?«

Der junge Fremde hatte Hafftens Arm ergriffen. Er beantwortete seine Frage nicht, sondern horchte plötzlich gespannt in den Nebel hinaus.

»Hören Sie etwas?«

»Pst!« warnte der Fremde. »Hören Sie nichts?«

Hafften lauschte eine ganze Weile schweigend in die Richtung, schüttelte dann aber den Kopf und sagte:

»Nicht das Geringste. Sollten hier Menschen in der Nähe sein?«

»Menschen?« wiederholte der Fremde und sah Hafften wie mit bitterem Spott an. »Jetzt vorwärts, bald sind wir am Ziel. Das waren ihre Harfenklänge, die mich jedesmal begrüßen, wenn ich diese Gegend betrete. Vorwärts, denn für heute hat sie mir fest versprochen, mich in den Tempel ihrer Gottheit selbst zu führen. Vorwärts, vorwärts, nur noch um den Bergkopf herum, und ein Himmel wird sich für uns auftun.«

Hafften erschrak. Das Gesicht seines Begleiters schien wie von einer überirdischen Erscheinung erhellt, und zum erstenmal zuckte der Gedanke durch sein Hirn, daß er vielleicht sehr unüberlegt gehandelt hatte, diesem Unbekannten in die Wildnis zu folgen. Ein Verdacht stieg in ihm auf, daß er es mit einem Wahnsinnigen zu tun hatte. Aber er wußte auch, daß er von ihm nichts zu befürchten hatte. Und konnte er nicht auch wirklich bei seinen wilden Streifzügen durch das Gebirge einen reichen Goldplatz so wie die Felsenzisterne entdeckt haben.

Sein Führer ließ ihm keine Zeit für weitere Überlegungen. Ohne eine Antwort abzuwarten, hatte er sich wieder abgedreht und sprang leicht wie eine Gemse über die rauhen Felsblöcke hinweg, die nur locker an dem steilen Hang zu kleben schienen. Sie konnten jeden Augenblick durch das Gewicht eines Menschen in die Tiefe rollen. Er mußte ihm aber folgen, wenn er nicht Gefahr laufen wollte, ihn in dem heraufziehenden Nebel zu verlieren. Aber einen Blick auf den Kompaß warf er noch vorher, murmelte einen halblauten Fluch in den Bart, als er gleich beim ersten Schritt von einem glatten Stein abrutschte und beinahe gestürzt wäre, und sprang dann hinter seinem Führer her.

Kalt und feucht stieg der Nebel aus dem Tal herauf. In Hafftens Bart hingen dicht die Tropfen, und nach der kurzen Rast schnitt ihm die frische Luft fröstelnd durch die Glieder. Aber er wurde bald wieder warm, denn sein Begleiter gönnte ihm keine Zeit mehr. Sie umstiegen die steilste Höhe des Bergkopfes. Möglicherweise ragte er völlig in das Tal hinaus. Im dichten Nebel ließ sich nicht mehr erkennen, wie tief der Abgrund unter ihnen lag. Trotzdem fanden sie hier eine Art Pfad oder doch Stellen, die Wild oder Mensch betreten haben mußten. Aber dann wurde es so schmal, daß sie sich fest an den Felsen drücken mußten, um nicht ins Ungewisse zu stürzen.

Jetzt hatten sie einen kleinen Vorsprung erreicht, und als Hafften seinen Führer einholte, rief er:

»Na, an den Weg werde ich lange denken. Jetzt wünsche ich mir nur noch, daß wir mit heilen Knochen zurückkommen.«

»Hören Sie jetzt die Harfenklänge?« rief der Fremde und streckte seinen Arm in den Nebel hinaus.

Hafften horchte hinaus, hörte aber nichts als den erwachenden Wind, der durch irgendeine Schlucht heulte. Ein anderes Geräusch klang wie das Murmeln eines entfernten Bergbaches.

»Harfenspielen?« sagte er nach einer kurzen Pause lachend. »Das müßte eine Lorelei sein, denn jeder Mensch braucht hier seine beiden Hände dringend, um sich festzuhalten. Das ist ja so, als ob ich hier unterwegs Geige spielen würde. Haben wir Ihren Goldsee noch nicht erreicht?«

»Reden Sie hier nicht zu laut«, sagte sein Führer scheu, »sie kann uns hören, und wenn sie böse ist, weil ich ein anderes sterbliches Wesen in ihr Heiligtum geführt habe – wenn sie die weiße, furchtbare Hand drohend nach uns ausstreckt, wie einmal nach mir, als ich ihr getrotzt habe – dann...«, setzte er flüsternd hinzu, »würden morgen die Raben da unten unsere Knochen zusammensuchen müssen, wenn sie nicht der Dingo nachts in seine Höhle gezerrt hat. Sehen Sie dort?«

Wieder deutete sein Arm in den Nebel hinaus, und Hafften sah nur, wie der Wind den Nebel einen Moment auseinanderriß. Das aber genügte, um ihm einen Abgrund zu zeigen, vor dem er entsetzt bis an die Felswand zurückwich. Gleichzeitig schien aber auch der halsbrecherische Pfad hier zu Ende zu sein. Über die Steinplatte, auf der sie standen, gähnte bis zum Bergkopf ein gewaltiger Abgrund.

»Alle Teufel!« rief er erschrocken aus. »Sie eröffnen uns ja gute Aussichten, und mir läuft es siedendheiß den Rücken hinunter wenn ich einen Blick in diese Tiefe werfe. Da wollen wir doch wohl nicht hinunter?«

»Dort hinunter, Kamerad«, lachte der Fremde. Sein Auge leuchtete, und seine Gestalt straffte sich. »Da hinunter und gleich da liegt der Goldsee, der von keiner anderen Stelle erreichbar ist. Ich selbst bin schon oft hinabgestiegen.«

Wieder drängten die dichten Nebelschwaden heran und schienen sich gegen den Felsen zu schwingen. Hafften bog sich scheu etwas vor, um an der Stelle hinabzusehen, die ihm sein Begleiter als den einzigen Weg bezeichnet hatte. Aber er konnte da nicht einmal mit vorgebeugtem Kopf stehenbleiben, er wurde sofort schwindlig. Er sah zwar, daß ein paar vorstehende Felsspitzen dem Fuß Halt gegeben hätten, aber dabei würde der Körper über einer solchen Tiefe frei schweben, daß dem sonst so beherzten jungen Mann die Knie zitterten, wenn er nur an diese Möglichkeit dachte.

»Da habe ich mich schön anführen lassen«, sagte er finster. »Und wenn da unten ein Goldmeer statt eines Goldsees läge und wenn alle Schätze der Erde und der Märchen aus Tausendundeiner Nacht da unten aufgeschichtet lägen, mit einer Chaussee daneben, um sie bequem ins Tal zu bringen – in diesen Abgrund setze ich keinen Fuß. Ich weiß genau, daß ich im nächsten Moment zerschmettert unten am Felsen liege.«

»Haben Sie Ihren Mut verloren?« sagte sein Begleiter, der sich auf dem kaum zwei Fuß breiten Quadrat so frei bewegte, als ob er auf einem meilenbreiten Plateau ginge. »Ja, mein lieber Freund, ein solches Ziel ist auch nicht leicht zu erreichen, und wer das Höchste gewinnen will, muß auch das Höchste dafür einsetzen – das Leben.«

»Wenn Gold für mich das Höchste wäre, hätten Sie vielleicht recht«, sagte von Hafften. »Aber abgesehen davon, daß ich gar nicht die Möglichkeit sehe, auch nur eine Tasche voll von dem schweren Metall bis hier herauf zu bringen, verzichte ich auf jeden Gewinn, für den ich meine gesunden Knochen einsetzen soll.«

»Gold!« rief der junge Mann verächtlich und trat an den äußersten Rand des Abgrundes.

»Nehmen Sie sich um Gottes willen in acht, Sie stürzen wirklich noch ab!«

»Gold? Glauben Sie, daß ich wegen des elenden gelben Metalls hier heraufgestiegen bin?«

»Na, das ist gut – etwa, um die Aussicht hier hinter der Nebeldecke zu genießen?« lachte von Hafften, aber sein Lachen erstarb ihm auf den Lippen, als er die merkwürdige, fast furchtbare Veränderung bemerkte, die in den letzten Augenblicken im Gesicht seines Gefährten vorgegangen war.

»Da sind sie wieder, die wunderbaren Klänge!« rief er. Seine Augen glühten förmlich, seine ganze Gestalt zitterte, als er weit hinausgebeugt über dem Abgrund stand. »Sie rufen! Sie locken! Mensch, haben Sie denn kein Blut in den Adern, daß Sie das hören können, ohne vor Entzücken aufzujubeln? Kommen Sie, kommen Sie, das Tor ist offen, die Göttliche lädt uns ein – kommen Sie, was stehen wir auf dem kalten Felsen? Hinab, jede Sekunde, die wir zögern, ist der Seligkeit gestohlen!«

Er faßte von Hafftens Arm und wollte ihn in wilder Hast zum Abgrund ziehen. Der Deutsche hielt sich aber fest in eine Felsenspalte geklammert. Er wußte jetzt mit Sicherheit, daß er es mit einem Wahnsinnigen zu tun hatte, daß sein Leben an seiner Geistesgegenwart hing und offener Widerstand sein Schicksal besiegeln würde. Obwohl er mutig genug war, es mit jedem Feind im Kampf aufzunehmen, so fühlte er doch hier auf der schmalen Felsenplatte, wo jeder Kampf mit dem Hinabschmettern beider Kämpfer enden mußte, wie ihm das Blut vor Entsetzen zu stocken schien. Aber je näher Hafften den gräßlichen Tod vor sich hatte, desto schneller arbeiteten seine Gedanken. Nur eine List konnte ihn noch retten.

»Was ist da drüben?« flüsterte er, während er schon fühlte, wie seine Hand ermüdete, mit der er am Felsen hing.

»Wo?« rief der Wahnsinnige, ließ ihn los und drehte sich rasch in die bezeichnete Richtung. Hafften konnte ihn jetzt mit einem Stoß von sich und in den Abgrund schleudern. Unwillkürlich zuckte sein Arm hoch und ergriff die Schulter des Unglücklichen, aber er konnte es nicht. Mord! Der Gedanke hätte ihn lebenslang verfolgt. Gab es denn keine andere Rettung?

»Da drüben die weiße Gestalt!« flüsterte er in das Ohr seines Begleiters. »Sehen Sie nicht, wie sie den Arm hebt, wie sie herüber droht? Sie ist böse, weil Sie einen Fremden in ihr Gebiet führen wollen.«

»Ich hatte es geahnt«, stöhnte der Wahnsinnige, der keinen Augenblick an der Erscheinung zweifelte. »Aber was jetzt?«

»Kehren wir um, wir dürfen nicht wagen, uns zu widersetzen!« mahnte Hafften.

»Nein, das dürfen wir nicht. Aber zurück?«

»Wir versuchen es ein anderes Mal, wenn die Sonne scheint. Vielleicht zürnt uns dann die Fee nicht.«

»Zurück? Heute? Wo ich das Ziel meiner jahrelangen Sehnsucht erreichen sollte? Nie. Warten Sie hier, ich gehe voraus.« Rasch, wie in allen Bewegungen, warf er sein Bündel ab und ging auf die furchtbare Tiefe zu.

»Hüten Sie sich, Mann!« rief Hafften und griff unwillkürlich den Arm seines Begleiters. »Sie gehen dem sicheren Tod entgegen!«

»Wer will mich halten?« sagte der Unglückliche. Der Blick, den er auf Hafften warf, brachte dem sofort seine bedrohliche Lage wieder ins Bewußtsein. Erschrocken ließ er ihn los.

»Da ist die Harfe wieder«, rief der Fremde und richtete sich hoch auf. »Sie ruft! Sie zürnt nicht mehr! Folgen Sie mir.« Mit einer Ruhe, als ob er sich auf ebener Straße befand und nicht über einem gähnenden Abgrund, schwang er sich leicht über den Rand des Steins, fühlte einen Moment nach einem sicheren Fußhalt und schwebte dann über der Tiefe.

»Setzen Sie den Fuß dahin, wo ich jetzt die Hand habe!« rief er zurück, und sein Kopf verschwand unter dem Stein.

Hafften bog sich in Todesangst vornüber, um dem Gefährten nachzusehen.

»Na? Kommen Sie?« rief der zurück. Er drehte sich dabei halb auf dem Stein. Möglich, daß er den halsbrecherischen Weg früher mehr als einmal zurückgelegt hatte. Vielleicht hatte der Nebel heute die Felsen mit seinem feuchten Hauch geglättet, vielleicht verlor der Fuß seinen Halt bei der Drehung – er zuckte zusammen.

»Um Gottes willen, Sie fallen!« rief Hafften in Todesangst.

Ein einziger, kurzer Schrei antwortete ihm, die um den schlüpfrigen Stein geknallten Finger gaben nach, die dunkle Gestalt verschwand in den Nebelschwaden, die sich wie ein Meer über ihm schlossen. Sekundenlang Totenstille und dann – Hafften warf sich entsetzt auf die Platte zurück, als der dumpfe, matte Schlag des gegen die Felsen geschleuderten Körpers zu ihm heraufdrang. Mit der plötzlichen Nervenentspannung nach den furchtbaren Erlebnissen der letzten Minuten wurde er ohnmächtig.

Die Kälte brachte ihn wieder zu sich, aber er mußte stundenlang bewußtlos auf der Stelle gelegen haben. Die geringste unbewußte Bewegung hätte ihn seinem unglücklichen Gefährten nachgeschickt. Kaum begriff er, wo er sich befand, richtete er sich auf. Die zurückkehrende Erinnerung zeigte ihm auch die Schrecken der nächsten Stunden, wenn er nur noch kurze Zeit gezögert hätte, den Platz zu verlassen.

Die Sonne mußte schon untergegangen sein. Den Rand der Wolkenschichten, die sich im Westen auftürmten, färbte nur noch ein fahler, matter Schein. Der Sturm heulte durch die Schluchten und hatte den Nebel weggefegt. Das weite Land lag vor ihm wie ein waldiges Panorama. Er sah das wohl erstaunt, aber beachtete es nicht weiter. Er schauderte vor der furchtbaren Tiefe zurück, die vor seinen Füßen gähnte.

Flucht war sein einziger Gedanke. Wenn ihn die Nacht hier überraschte, war er verloren. Weiter zurück fand er wohl einen Ort, wo er sich sicherer hinlegen konnte.

Und sein unglücklicher Begleiter? War der wirklich verloren? Mußte er sich nicht davon überzeugen, ehe er diesen Schreckensort verlassen konnte? Auf dem Bauch kriechend, versuchte er, in die Tiefe hinabzusehen. Aber er konnte es nicht. Ein Blick bis auf den Grund wurde schon durch die vorspringenden Felsenzacken verhindert. Wenn er nur hinabsah, wurde ihm schwarz vor Augen, und er mußte rasch wieder zurück.

Der eine Blick hatte aber auch ausgereicht, um ihn zu überzeugen, daß es keine Rettung mehr gab. Er nahm sich deshalb vor, bei Tagesanbruch die Wand zu umgehen und von unten dorthin vorzudringen.

Aber jetzt blieb ihm auch keine Minute mehr für Überlegungen. Die Nacht brach herein, und er mußte die Stelle verlassen, wenn er nicht selbst wahnsinnig werden wollte. Selbst sein Bündel mit den Decken konnte er nicht zurücklassen, denn die Nächte waren bitterkalt, und schon jetzt schlugen ihm die Zähne wie im Fieberfrost zusammen.

Und was für böse Stellen hatte er noch vor dieser Platte zu passieren! Das Herz klopfte ihm hörbar in der Brust, aber es half nichts, er mußte durch. Im Bewußtsein, daß an dem festen Entschluß sein Leben hing, biß er die Zähne zusammen und trat den Rückweg an.

Unmittelbar vor der Stelle, die er jetzt verließ, fiel es jäh in die blaue Tiefe ab. Als sie vorhin die Stelle überschritten, hatte der Nebel den furchtbaren Abgrund gefüllt. Jetzt klaffte er mit seinem Schrecken zu dem einsamen Wanderer herauf. Hafften fühlte, daß er nicht hinuntersehen durfte, wenn er nicht Gefahr laufen wollte, seine Besonnenheit zu verlieren. Sein Auge blieb deshalb fest auf den Felsen vor ihm geheftet, und mit den Händen stützte er sich ab, so gut es ging. Selbst der Sturm drohte, ihn in den Abgrund zu wehen. Langsam setzte er Fuß um Fuß vor und erreichte endlich eine Stelle, wo ein aufsteigender Zinken einen schmalen, aber völlig sicheren Durchgang bildete.

Jetzt konnte er vor Schwäche nicht weiter. Hier war aber keine Gefahr mehr zu befürchten, und als die Aufregung verschwand, in der er sich befunden hatte, trat eine Erschlaffung ein, die ihn fast bewegungsunfähig machte.

Er sank zwischen den beiden Felsen nieder, behielt aber noch die Kraft seine Decken auszurollen und sich notdürftig hineinzuwickeln. Dann fiel er in einen Schlaf, der an eine Ohnmacht grenzte. Und welch ein Erwachen! Der Sturm heulte und pfiff durch die Felsspalte, der Regen peitschte nieder, als ob er den Berg in die Tiefe waschen wollte. Hafften fühlte, daß er bis auf die Haut durchnäßt in einer Art Wasserrinne lag, in der das kalte Wasser herabströmte. Aber seinen Platz konnte und durfte er nicht verändern, denn in dieser Dunkelheit wäre ihm jeder falsche Schritt zum Verhängnis geworden. Er richtete sich nur auf, lehnte sich mit dem Rücken an den Felsen und versuchte sich aus dem schlimmsten Wasserbad herauszuhalten. Zitternd vor Kälte erwartete er den Morgen.


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