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14. Die Schiffsmannschaft

Leutnant Beatty hatte weder Zeit noch Lust, sich mit der dürftigen Hinterlassenschaft des Verunglückten zu befassen. Niemand betrat den Lagerplatz weiter, und die Sachen blieben dort unberührt bis die später einsetzenden Regen den Platz nach und nach zusammenwuschen.

Die benachbarten Zeltbewohner halfen freilich auch etwas mit, denn sie zupften nach und nach das dürr gewordene Reisig heraus, um ihre eigenen Feuer damit anzuzünden. Die eisernen Töpfe trieben sich noch am längsten dort herum, bis sie ebenfalls verschwanden – und damit war die letzte Spur des Verschollenen getilgt.

Beinahe ebensowenig war Leutnant Beatty an Kapitän Beckers Forderung interessiert. Er sollte ihm nämlich behilflich sein, einem Teil seiner Mannschaft nachzuspüren. Wäre er ein Fremder gewesen, hätte er ihn sofort abgewiesen. Die Polizei hatte damals in den Minen mehr zu tun, als sich um weggelaufene Matrosen zu kümmern. Beatty mochte den Kapitän aber wirklich gern leiden, und weil er auch mit der Familie Pitt eng befreundet war, wußte er, daß er mit einer solchen Hilfeleistung auch Mr. Pitt einen Gefallen erwies. Er sagte deshalb dem Kapitän seine Hilfe für den nächsten Morgen zu. Allerdings schränkte er ein, daß er nicht länger als bis vier Uhr nachmittags dafür Zeit hätte. Dann würde ihn sein Dienst wieder in Anspruch nehmen.

Am übernächsten Tag sollte nämlich die zweite Goldeskorte nach Sydney abgehen und natürlich eine Begleitung berittener Polizei erhalten. Eine solche Goldeskorte, die später regelmäßig jede Woche, oft sogar zweimal die Woche abging, war auch wirklich erforderlich geworden. Durch das frühere Sträflingswesen trieben sich zu viele zweideutige Subjekte im Wald herum. Für die einzelnen Goldwäscher wurde es zu gefährlich, ihre Goldbeute persönlich in die Hauptstadt zu bringen. Die Versuchung war einfach zu groß, den einzelnen Wanderern oder sogar der unbewaffneten Postkutsche aufzulauern. Verschiedene Überfälle hatte es in der letzten Zeit schon gegeben, und deshalb hatten sich die Kolonisten mit einer rasch gewährten Bitte an den Gouverneur Sir Charles Fitz Roy gewandt. Gegen eine bestimmte prozentuale Vergütung wurde der sichere Transport des Goldes nach Sydney übernommen.

Die erste Goldeskorte war schon vor einigen Tagen abgegangen. Da besonders die Händler ein ziemliches Kapital angehäuft hatten und drängten, es sicher nach Sydney zu bringen, sollte schon übermorgen der zweite Transport abgehen.

Allerdings hatte die Polizei für diesen Transport nicht die gleiche Menge Leute zur Verfügung, denn die erste Mannschaft war in der kurzen Zeit noch nicht wieder zurückgekehrt. Außerdem mußten sie ihre Tiere bei einem so langen und beschwerlichen Ritt schonen. Das wurde natürlich so geheim wie möglich gehalten, um die Sicherheit des Transportes nicht zu gefährden. Vier Mann standen für den Konvoi zur Verfügung, und man hielt sie für ausreichend, um den Transport zu sichern. Es war auch in Australien noch nicht vorgekommen, daß selbst verzweifelte Bushranger eine Abteilung berittener und gut bewaffneter Polizisten angefallen hätte. Sie beschränkten sich auf einzelne Reisende oder schwachbesetzte Stationen. Wo sie das Klirren der schweren Säbel hörten, zogen sie sich scheu in den Busch zurück.

Wer sich aber mit wahrer Wonne auf das Nachspüren der weggelaufenen Seeleute freute, war der Steuermann. Einmal hatte er eine wirkliche Wut auf die Mannschaft, die durch ihre Flucht nicht nur die Abfahrt des Schiffes unmöglich gemacht hatte, sondern ihn damit indirekt zum Hacken und Graben brachte. Dann hatte er dadurch mitten in der Woche einen Feiertag und konnte seine Hände wieder etwas ausheilen lassen. Jedenfalls machte es ihm mehr Vergnügen, als Löcher in den Erdboden zu graben, noch dazu mit der Überzeugung, daß er doch kein Gold darin finden würde. Mit Tagesanbruch war er deshalb gerüstet, um keine Zeit für die »Jagd« zu versäumen.

Mr. Beatty war nicht so pünktlich. Er wußte, daß die Leute, die sie suchten, ebenfalls erst frühstücken würden, ehe sie an die Arbeit gingen. Weshalb also völlig nutzlos ein paar Stunden im Wald umherstreifen? Von Hafften bot übrigens an, sie bis auf den nächsten Hügelrücken zu begleiten, von wo er ihnen die genaue Richtung angeben konnte. Auf mehr ließ er sich aber nicht ein, denn er fühlte sich noch von der Anstrengung der letzten Tage so ermattet, daß er die nächsten vierundzwanzig Stunden für seine Erholung bestimmt und keineswegs Lust hatte, hinter weggelaufenen Matrosen herzuspringen.

Außerdem nahm Mr. Beatty noch zwei Polizisten mit, die jedoch ihre Dienstmützen ablegten und über ihre Uniformen die gewöhnlichen Minerhemden ziehen mußten. Man brauchte die Leute ja nicht vorzeitig kopfscheu zu machen. Zu solchen Extradiensten taugte die Zivilbekleidung besser, und die roten Hemden leuchteten hier weniger, wo man sie überall sah, als die schmalste Goldlitze an einer Mütze. Es gibt viele Menschen, die selbst schon den Schnitt einer Polizeimütze auf erstaunliche Entfernung erkennen.

Vom Hügelrücken aus hatten sie kaum mehr als eine Viertelstunde zu marschieren, als Hafften wieder ins Tal zurückging. Es war mehr eine Wasserrinne als eine richtige Bergquelle, an der die Seeleute arbeiten sollten. Hier sammelte sich das Regenwasser und lief ab. Heute, nach einer trockenen Nacht, sickerte das Wasser nur noch langsam herunter. Morgen trat der ganze Bergbach wahrscheinlich wieder in seinem vollen, echt australischen Charakter auf: als eine Reihe von kleinen Wasserlöchern, zwischen denen man überall trockenen Fußes hindurchgehen konnte.

Kapitän Becker zweifelte keinen Moment daran, daß er Leute von seinem Schiff finden würde. Hatte doch von Hafften gehört, daß sie zusammen deutsch sprachen, und sein Schiff war in der Zeit gerade das einzige deutsch bemannte, das in Port Jackson lag. Die Hauptsache war jetzt nur, an die Leute so heranzukommen, daß man sie erkennen konnte, ohne von vornherein Verdacht zu erregen. Ungesehen war das nicht möglich, denn der Busch ist in diesen Bergen zu licht, um ein wirkliches Anschleichen zu gestatten. Leutnant Beatty schlug deshalb vor, sich in zwei kleine Gruppen zu verteilen und an beiden Seiten des Bergbachs hinaufzugehen. Dann wollte man wie zufällig an ihnen vorbeikommen. Seine beiden Polizisten hatten deshalb auch jeder einen Spaten mitgenommen, um wie gewöhnliche Miner auszusehen.

Schnell war die Gruppe eingeteilt. Leutnant Beatty ging mit dem Steuermann und einem seiner Leute rechts, der Kapitän mit dem anderen Polizisten links hinauf. Bald kamen sie auch an eine Stelle, an der noch gestern gegraben wurde. Aber niemand war zu sehen. Hatten die Matrosen den Platz verlassen?

Der Bach machte hier eine Biegung und zog sich links den Hang hinauf. Dort bildete er in der Regenzeit einen kleinen Wasserfall. Eine ziemlich hohe Felsmauer stieg da auf und hinderte die Männer zu sehen, was dahinter vorging. Der eine Polizist behauptete aber, er höre dort oben das Klappern einer Maschine. Er deutete auch auf den schmalen Wasserstrahl, der noch lief und getrübt war. Es wurde deshalb beschlossen, da hinaufzusteigen. Wenn man an der Stelle andere Miner fand, wollte man über der Felswand noch etwas zur Beobachtung bleiben. Von da aus ließ sich jedenfalls der Bach hier unten auf eine weite Strecke übersehen.

Die beiden Parteien trennten sich hier wieder. Als sie die etwas steile Höhe erklettert hatten, stellten sie fest, daß der Boden da oben und die Lage der Schlucht für ihr Vorhaben außerordentlich günstig waren. Der Lauf des Baches führte hier durch eine enge Schlucht. Man konnte, ohne bemerkt zu werden, durch umherliegende Felsenblöcke ziemlich dicht herankommen. Die Arbeiter in der Rinne hatten nur an jeder Seite eine Stelle, wo sie rasch den freien Wald erreichen konnten.

Sobald sie höher gelangten, hörten beide Parteien deutlich das Klappern der Maschine, die jedenfalls an einem Wasserloch da oben aufgestellt war. Als sie zu einer geschützten Stelle gelangten, von der aus sie die Gestalten erkennen konnten, gab Leutnant Beatty dem Steuermann seinen Feldstecher, um damit vielleicht ein bekanntes Gesicht zu erkennen.

Der Seemann hatte das kleine, winzige Glas erst mit einem geringschätzigen Blick in die Hand genommen, denn er war an seine mächtigen Schiffsrohre gewöhnt. Kaum hatte er aber einen Blick hindurchgeworfen, als er auch schon den Arm des Offiziers packte und jubelnd ausrief:

»Gott straf mich, da ist der Chrischan!«

»Wenn Sie etwas weniger schreien, wäre es besser!«

»Einer von uns ist dabei«, flüsterte jetzt der Steuermann, noch immer durch das Glas sehend. »Das kleine Ding zeigt alles famos. Den einen Halunken erkenn ich an der roten Nase, und wo der ist, sind auch die anderen nicht weit.«

»Die anderen Gesichter können Sie nicht unterscheiden?«

»Sie drehen den Kopf ab oder halten keinen Augenblick still. Halt! Jetzt! Bei Gott, da ist noch einer – der niederträchtige Schiffsjunge – na, Kanaille, wenn ich dich erst...«

»Wenn Sie sich noch etwas mehr bemerkbar machen, ist der Schiffsjunge völlig außer Gefahr!« warnte sein Gefährte.

»Wo mag der Kapitän jetzt stecken?«

»Da drüben habe ich eben ein rotes Hemd durch die Büsche schimmern sehen, Sir«, berichtete der Polizist, der inzwischen das Gelände erkundet hatte. »Wenn wir jetzt dort schräg hinübergehen, müssen sie uns heranlassen, bis wir das Weiße in ihren Augen erkennen können. Wenn die anderen von drüben genauso vorgehen, haben wir die ganze Gesellschaft so sicher wie in einer Mausefalle.«

»Nur nicht gerade auf sie zugehen!« warnte der Leutnant. »Leute, die ein schlechtes Gewissen haben, können das überhaupt nicht vertragen. Selbst Wild läßt einen näher herankommen, wenn man so tut, als wolle man vorbeigehen.«

»Ganz recht«, meinte der Steuermann. »Wir nehmen einen Kurs an, als ob wir windwärts an ihnen vorbeisegeln wollten. Wenn wir sie aber in Lee haben – zum Henker auch, dann werden wir sie vor dem Wind fassen. Na, der Junge kann sich nur freuen. Mit dem mache ich mir heute abend ein besonderes Vergnügen.«

Leutnant Beatty winkte ihm nochmals zu, vorsichtig zu sein. Dann schlenderte er schräg den Hang hinab, von den beiden anderen gefolgt. Es sah so aus, als ob sie die Absicht hatten, weiter oberhalb der Stelle, wo sich die Arbeiter befanden, den Busch zu untersuchen. In dieser Weise zogen ja kleine Gruppen Goldwäscher ständig durch die Nachbarschaft der eigentlichen Minen. Die hier arbeitenden Seeleute waren wirklich ein Teil der Mannschaft Kapitän Beckers, und zwar zwei Matrosen, der Koch und der Schiffsjunge. Als sie die Schritte auf dem steinigen Boden hörten und die Männer sahen, warfen sie kaum mehr als einen Blick hinüber. Sie hatten jetzt mehr zu tun, als sich um andere Goldsucher zu kümmern.

Nur der Schiffsjunge, dem die schwere Erdarbeit überhaupt nicht zusagte, benutzte die Gelegenheit, um seinen Rücken etwas zu strecken. Während er länger zu den Fremden hinüberschaute, flüsterte er auf einmal:

»Du, Chrischan, da geht der Kommissär, jetzt schnüffelt der auch schon hier oben herum.«

»Und was geht's dich an?« brummte der Mann. »Wirf die Erde hinaus, verflixter Junge. Wir haben unsere Lizenz bezahlt und müssen uns vor keinem Kommissär verstecken.«

Der Junge nahm den Spaten wieder auf, warf aber noch einmal einen Blick hinüber, denn vor der Polizei hatte er großen Respekt. Und jetzt bogen sie hierher ab – was sie nur wollten?

Der Koch hatte sich ebenfalls aufgerichtet und sah dort hinüber. Den Offizier hielten sie alle für den Kommissär, der hier öfter durchkam. Was zum Henker wollten aber die anderen beiden hier oben mit nur einer Schaufel und weder Pfanne noch Hacke dabei – und der eine?

Der Koch duckte sich, als ob er in den Boden kriechen wollte, und zischte dabei mit ängstlicher Stimme:

»Teufel! Jungens, da oben kommt der Stürmann!«

»Na ja«, rief der Schiffsjunge und ließ vor Schreck und Angst den Spaten fallen. »Der hat noch gefehlt!«

»Geht er vorbei?« rief Christian, der sich ebenfalls rasch gebückt hatte.

»Sie kommen schnurstracks hierher!«

»Und da drüben kommen auch welche – herrje! Der Kapitän!« flüsterte der Koch und kroch, ohne eine weitere Antwort zu geben, in wilder Hast aus dem Loch. Sie waren jedenfalls entdeckt, und die einzige Möglichkeit zur Rettung lag in rascher Flucht.

Die beiden Parteien hatten sich inzwischen zu gleicher Zeit, aber immer langsam, um keinen Verdacht zu erregen, den arbeitenden Seeleuten genähert. Die Polizisten hatten die Absicht, bis dicht an die Grube zu kommen, die sie dann mit ihrer Autorität und im schlimmsten Fall mit ihren Revolvern beherrschen konnten.

Die Leute hatten allerdings kein todeswürdiges Verbrechen begangen. Waren sie aber aufgefordert, sich dem Gericht zu ergeben, und gehorchten sie dann nicht, so betrachtete sich das Gesetz als todeswürdig beleidigt und billigte jedes Mittel, die zunächst nur moralisch Gefangenen auch in wirkliche Eisen zu legen.

Die Matrosen mochten das wohl ahnen, denn beim Ausruf des Kochs überfiel alle ein panischer Schrecken. Das war kein bloßer Zufall, der ihre beiden Vorgesetzten mit dem Kommissär hier in die Berge und an ihren Arbeitsplatz führte. Das war eine abgekartete Geschichte. Wenn sie jetzt gefaßt wurden, dann ade Goldwaschen. Dieser Gedanke zuckte allen blitzschnell durchs Gehirn, denn Zeit zum Überlegen behielt keiner. Sie ließen ihr Werkzeug fallen und griffen instinktmäßig wie beim Sinken eines Bootes nach ihren Jacken oder Hüten. Dann sprangen sie aus dem schon gut anderthalb Meter tiefen Loch, um ihr Heil in der Flucht zu suchen.

Sie hatten auch den Vorteil, als sie sich trennten, daß sie auch die Verfolger trennten. Die leichtfüßigen Matrosen hofften, der schwerfälligen Polizei mit geringer Mühe außer Sichtweite zu kommen.

Weder der Kapitän noch Leutnant Beatty konnten von oben sehen, daß ihre Absicht verraten und daß sie erkannt waren, bis sich die ersten auf dem Rand in die Höhe richteten und damit keinen Zweifel über ihre Absicht mehr zuließen.

»Vorwärts, die Kerle geben Fersengeld!« schrie da der Leutnant. In langen Sätzen sprang er den Absatz hinunter, um ihnen den Fluchtweg abzuschneiden.

»Halt! Im Namen der Königin!« schrie er ihnen zu. »Ich schieße, wenn Ihr nicht stehenbleibt!«

»Schieß und sei verdammt!« brummte der Koch vor sich hin und sprang wie ein Rehbock über einen Felsblock. Dann floh er den Hang hinunter. Einer der Polizisten hatte sich aber schon in diese Richtung gewandt, denn es war klar, daß die Leute, wenn sie verfolgt wurden, nicht bergauf flüchten würden. Sie konnten nur hoffen, bergab sehr viel rascher aus dem Bereich der Schußwaffen zu kommen. Hier aber hemmte der Steindamm den Weg des Kochs. An der Stelle, die er erreichte, konnte er aber nicht hinab, ohne sich Hals und Beine zu brechen. Als er daran entlanglief, war ihm der langbeinige Polizist dicht auf den Hacken.

Christian, der Bootsmann, wollte zuerst den Hang schräg hinauf flüchten, konnte sich aber nicht gleich zu einer bestimmten Richtung entschließen. Dadurch war er jedoch dem Steuermann in die Bahn gekommen, und als er ihm wieder den Rücken zudrehte, sah er sich von dem Leutnant schon fast am Kragen gefaßt.

Er machte einen letzten, verzweifelten Versuch, zu entkommen. Aber der Ärmel der Jacke, die er in der Hand hielt, kam ihm unter den Fuß. Er stolperte und stürzte und fand sich im nächsten Augenblick rettungslos in den Händen der gefürchteten Polizei.

Segelmacher und Schiffsjunge hatten inzwischen ihre Flucht zur anderen Seite hin versucht. Allerdings der Segelmacher nur mit dem unwillkürlichen Gefühl, fortzukommen. Er war wie ein flügellahmer Vogel, der bei Annäherung von Gefahr immer noch einen Fluchtversuch macht, obwohl er schon lange weiß, daß seine Schwinge gebrochen ist. Er hatte sich nämlich in den letzten Tagen den linken Fuß vertreten. Wenn er auch schon wieder ziemlich gut marschieren konnte, gab doch die Sehne bei der ersten ernsthaften Anstrengung erneut nach. Er knickte nach kaum zehn Schritten zusammen und setzte sich dann resigniert auf den nächsten Stein, um den herankommenden Polizisten und sein Schicksal ruhig zu erwarten. Fortlaufen konnte er doch nicht mehr.

Der Kapitän lief hinter dem unglücklichen Schiffsjungen her. Der bot ein Bild des blanken Entsetzens, wie er vor seinem wütenden Herrn und Gebieter in aller Angst den Berg hinaufrannte. Wenn ein wildes Tier hinter ihm her gewesen wäre, hätte er nicht schneller laufen können. Seine einzige Hoffnung war, daß der doch weit ältere Kapitän nicht mehr so ausdauernd war. Darin schien er sich aber geirrt zu haben, denn Kapitän Becker spürte in der Aufregung seine zweiundvierzig Jahre noch lange nicht. So ehrbar und gesetzt er auch sonst an Land einherschritt, mit der Aussicht, dem Schiffsjungen eigenhändig eine Tracht Prügel verabreichen zu können, fühlte er gar keine Ermüdung und machte dem armen Jungen angst.

Wie die wilde Jagd ging es den Berg hinauf. Der Polizist, der dem Segelmacher ein paar Darbies oder Handschellen angelegt hatte, sah kopfschüttelnd hinter den beiden Wettläufern drein, die eben über dem nächsten Hügelkamm in den Büschen verschwanden.

»Na, wenn die so weiterlaufen, wissen sie in einer halben Stunde nicht mehr, wo sie sind«, sagte er und lachte still vor sich hin. Es ließ sich aber jetzt nichts weiter tun. Der Schiffsjunge mußte dem Kapitän und alle beide dem lieben Gott überlassen werden. Die Leute unten im Tal hatten gerade mit denen zu tun, die sie in ihre Gewalt gebracht hatten.

Der Koch wehrte sich noch am längsten. Er war ein kräftiger Bursche und warf den langen Engländer, als der ihn packte, wie einen Sack beiseite. Der Polizist hatte aber ganz in Gedanken die Schaufel in der Hand behalten. Da er einem einzelnen Mann gegenüber nicht von der Schußwaffe Gebrauch machen wollte, holte er ihn mit ein paar Sätzen wieder ein und warf ihm das Werkzeug so geschickt vor die Füße, daß der Seemann stolperte und in voller Flucht auf die Steine schlug. Fast besinnungslos blieb er liegen.

Im nächsten Augenblick hatte er die Handschellen an. Gleichzeitig war auch Christian von dem noch jungen und kräftigen Steuermann gestellt und beim Kragen gefaßt worden. Jetzt brachte man die drei Gefangenen zusammen, und der Leutnant übergab sie der Obhut seiner beiden Leute. Mit dem Steuermann sah er sich nach dem Kapitän um – aber wo war der?

Eine gute Stunde wartete Leutnant Beatty noch unten am Wasser auf den Vermißten, denn die Sonne war inzwischen ziemlich hoch gestiegen und die Luft warm geworden. Als er dann noch immer nicht kam, stiegen sie auf den Hügelkamm, um dem Kapitän ein Zeichen zu geben.

Sie riefen Kapitän Beckers Namen aus Leibeskräften in alle Richtungen, und besonders der Steuermann rief laut sein »Kaptein« heraus. Der Ruf hätte meilenweit zu hören sein müssen, aber in den Bergen ist das immer eine unsichere Sache. Wie die Hügel laufen, pflanzt sich der Schall fort. Eine kleine Anhöhe schneidet manchmal die Schallwellen so völlig ab, daß selbst ein Büchsenschuß in kurzer Distanz nicht mehr hörbar ist.

Als von nirgends eine Antwort kam und der Wald still und schweigend sie umgab, nahm der Leutnant seine Zuflucht zum Revolver. Er fürchtete jetzt wirklich, daß sich Kapitän Becker in den sich sehr ähnlichen Hügeln verirrt haben könnte. Wenn er auch mit Sicherheit hier in der Nähe der Minen auf Menschen oder wenigstens einen befahrenen Weg stoßen würde, wollte er doch nichts versäumen, um die Richtung anzugeben, in der sie sich befanden. Daß er sich durch den Schiffsjungen in einer Gefahr befand, nahmen sie nicht an. Mit dem würde der kräftige Seemann mit einer Hand in der Tasche fertig.

Selbst auf die Schüsse erfolgte kein Signal. Der Steuermann wußte, daß Kapitän Becker ebenfalls einen Revolver in der Tasche trug. Kein Laut ließ sich hören, nur das Kreischen eines Kakadus oder der klagende Schrei eines Raubvogels. Der Wald schien wie ausgestorben, und nur einmal glaubte Leutnant Beatty das »Ku-ih!« eines Eingeborenen zu hören. Doch selbst das wiederholte sich nicht. Als sie fast bis Mittag da oben gewartet und signalisiert hatten, beschlossen sie, in die kleine Zeltstadt zurückzukehren. Es war ja sogar auch möglich, daß der Kapitän gleich von den Hügeln aus eine andere Richtung eingeschlagen hatte und sie dort unten schon erwartete.

Aber er war nicht unten. Niemand hatte ihn gesehen, er hätte sich ja auch nach seiner Rückkehr gleich bei der Polizeistation gemeldet. Jetzt bekam der Steuermann wirklich Angst, daß ihm etwas zugestoßen war. Er bot sich an, in den Wald zu gehen und den Kapitän zu suchen. Das erlaubte aber der Leutnant nicht, denn er meinte, daß der Steuermann sich auch verlaufen würde und dann zwei gesucht werden müßten.

Jetzt wurden zwei junge Polizisten, geborene Australier, gerufen. Sie kannten den Busch seit ihrer Kindheit. Der Leutnant beschrieb ihnen die Richtung. Sie kannten das Wasser und die Felsenwand, und von der Grube aus war es vielleicht sogar möglich, die Spur zu folgen. Jedenfalls versprachen sie, ihr Bestes zu geben, und machten sich auf den Weg. Gott allein wußte, was der deutsche Kapitän in so kurzer Zeit gemacht hatte, um so völlig aus dem Bereich ihrer Nachforschungen zu kommen. Die beiden Polizisten fanden seine Spur, wo er den Berg hinaufgehetzt war, denn er hatte die Quarzbrocken wild genug dabei umhergestreut. Sie sahen auch, wie die beiden Spuren, die Hacken tief in den lockeren Boden eingedrückt, von dort aus den ziemlich steilen Hang hinabliefen. Dann ging die Jagd an der anderen Wand wieder hinauf, aber nicht lange. Fast schien es, als ob der Verfolger den Jungen hier beinahe eingeholt und der, wie ein verfolgter Hase, einen Haken geschlagen hätte. Dann zog sich die Jagd in einen anderen, mit lockeren Steinen bestreuten Talboden. Hier mußten sie aufgeben, der Spur zu folgen, denn hier hatten auch Goldwäscher gearbeitet und den Grund nach allen Seiten hin zertreten. Sie behielten deshalb nur ihre ungefähre Richtung bei, bis sie in den hier wellenförmigen Hügeln selbst nicht mehr wußten, wo sie den Deutschen suchen sollten. Hatten sie sich doch schon so weit vom Lager entfernt, daß sie nicht vor Einbruch der Dunkelheit zurückkehren würden. Schließlich riefen sie noch kräftig nach ihm und feuerten ihre Revolver ab – alles vergeblich. Sie erhielten von nirgends eine Antwort und kehrten schließlich an den Turon mit der Nachricht zurück, daß der deutsche Kapitän abhanden gekommen sei und nicht mehr auffindbar wäre.

Und der deutsche Kapitän schien wirklich abhanden gekommen zu sein, denn die Nacht verging, und er kehrte nicht zurück, auch am nächsten Tag nicht. Der Steuermann war außer sich, d. h., er tat so, als ob ihm nichts Schrecklicheres hätte passieren können, als seinen Kapitän zu verlieren. Eigentlich wäre er aber gar nicht böse darüber gewesen, denn in dem Falle hatte er die ziemlich begründete Hoffnung, selber das Schiff zu bekommen. Und welcher Steuermann wäre nicht gern Kapitän!

Draußen vor dem Lager saß er auf einem Stein und überlegte sich die Sache.

»Hm«, sagte er leise vor sich hin und blies den blauen Dampf aus seinem kurzen Pfeifenstummel in lang gehaltenen, nachdenklichen Stößen aus. »Verfluchte Geschichte das mit dem verdammten Schiffsjungen, daß der mir jetzt auch noch mit dem Kapitän weggelaufen ist. Kanaille, neunhäutige – was für ein durchtriebener Bösewicht das sein muß! Hätte ich den Lump, wie würde ich ihn versohlen! Und all die Blutblasen an den Händen! – - – Und wenn man wenigstens mit Sicherheit wüßte, was aus dem Kapitän geworden ist. Sterben müssen wir alle einmal, und wenn ihm nun der Junge eins auf den Kopf gegeben hätte – da müßte ich nachher die alte ›Susanna Baxter‹ richtig hinüber nach Neuseeland führen und wäre auf einmal Kapitän. Hm... so gut wie Kapitän Becker könnt ich's auch und vielleicht noch um eine ganze Handvoll schneller. Er hat ja immer Bedenken wegen ein paar Ellen Segeltuch mehr. Ganz verfluchte Geschichte, wenn mir der nichtsnutze Junge zum Kapitän verholfen hätt... Merkwürdig wär's... aber seine Haue kriegt er doch, wenn ich ihn erwische. – - – Armer Kapitän, vielleicht liegt er jetzt irgendwo unter einem Baum mit eingeschlagenem Schädel oder neun Zoll kaltem Eisen zwischen den Rippen. Ist doch eigentlich ein Hundeland, dieses Australien, ein ganz verbranntes Hundeland, und ich gäbe fünfzig Dollar dafür, wenn ich schon morgen mit der ›Susanna Baxter‹ in See stechen könnte. Schiffsjunge oder keinen – brauchen den Lump auch gar nicht und werden schon so fertig. Hm, hm, hm! Was fange ich jetzt an, wenn der Kapitän auch morgen noch nicht wiederkommt? Kann schon gar nicht länger hier oben bleiben, könnt ich vor Mr. Pitt nicht verantworten. Kapitän Becker ließ die Sache freilich ruhig gehen. Wetter noch einmal, bringe wenigstens drei Mann wieder mit hinunter, und die paar übrigen werden ja auch aufzutreiben sein. Das besorg ich ihm schon, das soll er nur Claas Borger überlassen. Hm, armer Kapitän, daß er ein so trauriges Ende nehmen mußte – aber das kommt davon, wenn ein Fisch aufs Trockene geht. Mich erwische noch einmal jemand in den Minen!« Mit diesem Entschluß stand er auf und ging zur Polizeistation hinüber, um mit dem Leutnant das Wegbringen der Gefangenen zu besprechen. Anstelle des Kapitäns mußte er natürlich die nötigen Anordnungen treffen.


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